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Mit Konzernverantwortung klappt es oft noch immer nicht Übernahme von EU-Konzernrecht © Koalition Konzernverantwortung

Die EU entscheidet über Schweizer Konzernverantwortung

Markus Mugglin /  EU legt mit der Debatte über Menschenrechts- und Umweltpflichten der Unternehmen die Grenzen schweizerischer Souveränität offen.

Der 1. Dezember war ein Tag der Konzernverantwortung – in Brüssel und in Bern. In Brüssel hatten die Wettbewerbs-Minister der EU-Mitgliedstaaten entschieden, wie sie die Unternehmen zur Einhaltung der Menschenrechte und zum Schutz der Umwelt verpflichten wollen. Ihr Entscheid markierte zugleich den Start für die Detailberatungen im Europäischen Parlament zum selbigen Thema. In Bern überreichten die Nicht-Regierungsorganisationen ihre Petition mit 217’509 Unterschriften, die sie in nur 100 Tagen gesammelt hatten. Der Bundesrat nahm den 37-seitigen «Bericht Entwürfe Nachhaltigkeitspflichten EU und geltendes Recht Schweiz» zur Kenntnis, der über die EU-Pläne zu Sorgfaltspflichten und zur Berichterstattung über Nachhaltigkeit sowie den mutmasslichen Anpassungsbedarf im Schweizer Recht informiert.

EU macht vorwärts, die Schweiz beobachtet

Der Kontrast zwischen Brüssel und Bundesbern könnte kaum grösser sein. In Brüssel wird seit Monaten debattiert und um Kompromisse gerungen, wie die in der EU tätigen Unternehmen die Auswirkungen ihrer Tätigkeiten auf die Menschenrechte und die Umwelt ermitteln, vermeiden, beenden oder abmildern müssen und wie Unternehmen bei Verstössen zur Rechenschaft gezogen werden können. Im Februar dieses Jahres präsentierte die EU-Kommission ihren Richtlinien-Vorschlag über die «Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit». Seither diskutierten die Mitgliedländer darüber. Jetzt folgt das Parlament, das einen mit zahlreichen Änderungsanträgen vollgestopften, 145-seitigen Bericht abarbeiten wird. Im Frühjahr 2023 werden EU-Kommission, EU-Ministerrat und EU-Parlament im «Trialog»-Verfahren das umfassende Gesetzeswerk zur Menschenrechts- und Umweltverantwortung der Unternehmen beschliessen, das auf Januar 2024 in Kraft treten soll.

Die Schweiz wartet ab. Das Bundesamt für Justiz beobachtet und protokolliert, was sich in Brüssel abspielt. Es analysiert die Unterschiede, die sich zwischen EU-Recht und Schweizer Recht auftun, und schätzt den mutmasslichen Anpassungsbedarf ein, der auf die Schweiz zukommt. Er wird gross sein. Das Bundesamt stellt «erhebliche Unterschiede» zum Schweizer Recht fest, das am 1. Januar 2022 in Kraft trat. Es listet sie auf. Und der Bundesrat gibt bekannt, dass er später erneut analysieren wird, wenn die EU definitiv entschieden hat.

Umfassende Sorgfaltspflichten

Wie die neuen Regeln der EU zur Sorgfaltspflicht im Detail aussehen werden, ist noch offen. Gewiss ist trotzdem schon: Die neuen EU-Regeln werden der am Ständemehr gescheiterten Konzernverantwortungs-Initiative ähnlich sehen.

Die Sorgfaltspflichten sollen für die Unternehmen aller Branchen gelten, statt sich – wie in der Schweiz – nur auf die Vermeidung von Kinderarbeit und die Verhältnisse bei den Konfliktmineralien zu beschränken. Menschenrechts- und Umweltschutz sollen sich auf die vor- und die nachgelagerten Wertschöpfungsketten der Unternehmen erstrecken. Nicht nur die Bedingungen auf Kaffee-, Kakao- oder Baumwollfeldern, in Textilfabriken und in Minen, auch die Wirkung von Pestiziden und Klimafolgen von Investitionen und Kreditvergaben müssten überprüft werden. Unternehmen werden über Haftungsbestimmungen zur Rechenschaft gezogen werden können. Aufsichtsbehörden sollen kontrollieren, ob die Unternehmen in ihren Tätigkeiten die Menschenrechte respektieren und die Umwelt schützen.

Im Detail kann das Pendel noch auf die eine oder andere Seite ausschlagen. Können Unternehmen die Verantwortung für eingetretene Schäden allenfalls auf Zertifizierungsunternehmen abwälzen, wie es Deutschland gefordert hat? Werden Banken und Waffenexporteuren weniger strenge Auflagen auferlegt? Wie einfach oder schwierig wird es für indigene Gemeinschaften sein, gerichtlich gegen Unternehmen vorzugehen? Viele Fragen sind noch nicht geklärt.

Schweizer Unternehmen sogar direkt betroffen

Wie genau die Schweiz unter Anpassungsdruck gerät, lässt sich deshalb noch nicht genau abschätzen. Noch gibt man sich entspannt. Die Schweiz habe «keine Pflicht», versucht das Bundesamt für Justiz im Bericht zu Handen des Bundesrats zu beruhigen. Es gebe «Handlungsspielraum bei der Beurteilung, ob das Schweizer Recht angepasst werden soll», lässt es Schalmeienklänge einer angeblich souveränen Schweiz ertönen.

Wenige Zeilen später klingt es mit Verweis auf die von der EU vorgesehenen Drittstaatenregelung aber doch schon realistischer. Auch Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten müssen ab einem noch festzulegenden Umsatzschwellenwert im EU-Raum die neuen Sorgfaltspflichten erfüllen. Wie viele Schweizer Unternehmen es sein werden, lässt sich zwar noch nicht sagen. Die Bundesjuristen rechnen aber doch mit ziemlich vielen: «Insbesondere grosse Schweizer multinationale und an der Börse kotierte Unternehmen aktiv in allen Branchen», Unternehmen der Pharma-, Technologie-, Energie-, Lebensmittelindustrie, der Finanz-, Versicherungs- und Personaldienstleistungsbranche sowie des Rohstoffhandels. Auch KMU könnten als Zulieferer von unter die Richtlinie fallenden Unternehmen betroffen sein.

Die Schweiz delegiert Rechtsetzung an die EU

Der Schweiz bleibt wenig Handlungsspielraum. Die Hüter der schweizerischen Souveränität, die sich erst noch als Retter der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des Landes gegen den Souveränitätsverlust durch das institutionelle Rahmenabkommen aufspielten, halten trotzdem auffallend still. Sie scheinen sich mit der angekündigten dynamischen Rechtsübernahme abzufinden. Es wird passieren, wie es Europarechtler Matthias Oesch von der Universität Zürich neulich generell für die Bundesgesetzgebung diagnostiziert hat: Die Schweiz delegiert die Rechtssetzung faktisch an die EU.  

Zuwarten, weiter beobachten und wieder analysieren, sobald die EU die Richtlinie über die Sorgfaltspflichten zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt verabschiedet hat – ist die Devise des Bundesrates. Sie ist ein reales Abbild, wie die Schweiz Souveränität lebt.    

Mehr Berichterstattungspflichten auch für Schweizer Unternehmen

Bereits beschlossen hat die EU die Ausweitung der Berichterstattungspflichten von Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit. Auch sie gehen weit über die seit Anfang 2022 in der Schweiz geltenden Berichterstattungspflichten hinaus und setzen die Schweiz ebenfalls unter Nachvollzugsdruck. Unternehmen mit 250 statt in der Schweiz mit 500 Mitarbeitenden unterliegen der Pflicht. Sie müssen viel mehr Informationen liefern zu nachhaltigkeitsrelevanten Auswirkungen in der gesamten Wertschöpfungskette. Die Informationen müssen extern überprüft werden. Die Berichterstattungspflichten gelten in der EU ab den Geschäftsjahren 2024 bis 2026, für Unternehmen aus der Schweiz und anderen Drittstaaten mit grosser Präsenz im EU-Markt ab Geschäftsjahr 2028.

Noch mehr Anpassungsbedarf in Nachhaltigkeit löst die EU mit zwei weiteren Verordnungen aus. Bereits beschlossen ist jene über die Bereitstellung bestimmter Rohstoffe und Erzeugnisse, die mit Entwaldung und Waldschädigung in Verbindung stehen. Eine Verordnung für ein Verbot von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten hat die EU-Kommission im September vorgeschlagen. Wie die Schweiz darauf reagieren wird, darüber gibt der Bericht des Bundesamts für Justiz keine Auskunft.        


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 15.12.2022 um 14:23 Uhr
    Permalink

    Wer bei seinen Geschäften weniger verantwortungsvoll und sorgfältig zu handeln braucht,
    ist im Vorteil, z.B beim Bezug von Rohstoffen, Nahrungs- und Futtermitteln,
    aber auch bei Arbeitsbedingungen und den Menschenrechten.

    Die Schweizer Konzerne und ihre Mitarbeiter haben also ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile,
    wenn diese ihre Waren und Dienstleistungen auf dem EU-MARKT anbieten.
    Das werden sich die EU-Konzerne und andere verantwortungsvollere und sorgfältigere Anbieter auf dem EU-Markt nicht gefallen lassen.
    Leider trifft das dann auch als Kollateralschaden die anständigen Schweizer Konzerne und ihre Mitarbeiter.
    Sollte im Eigeninteresse klar sein, dass sich auch die Eigentümer und Manager der anständigen Unternehmen für die Konzernverrantwortungsinitiative einsetzen und ihre Mirarbeiter ein JA einlegen.

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