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Seit vielen Jahren berechnete die IV die Renten wegen unpräziser Lohnstatistiken zu tief. Das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen wusste davon, tat aber nichts. © Depositphotos

Wie auf einem Basar: Amt feilschte um IV-Renten

Andres Eberhard /  IV-Renten korrekt zu berechnen, war der Verwaltung zu aufwändig. Also machte sie Parlamentariern ein Gegenangebot.

Dieses Dossier ist wahrlich kein Ruhmesblatt für Bundesrat Alain Berset (SP). Jahrelang blieb sein Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) untätig, obwohl es wusste, dass es IV-Renten unpräzise berechnet. Als Parlamentarier mit einer Motion forderten, endlich vorwärts zu machen und eine korrekte Methode auszuarbeiten, forderte das Amt mehr Zeit. Doch erst entschied der Nationalrat mit 170:0-Stimmen, der Verwaltung Beine zu machen, dann folgte auch der Ständerat der Motion. Gestern wurden wieder im Nationalrat die letzten Details beraten.

Dabei wurde bekannt, wie das Amt im Hintergrund lobbyierte, um sich vor der Aufgabe zu drücken. Christian Lohr (Die Mitte), Sprecher der Sozialkommission, plauderte im Nationalrat aus, dass das BSV der Kommission eine Alternativlösung schmackhaft machen wollte. Man kann es auch ein Gegenangebot nennen. Denn statt eine von Wissenschaftlern vorgeschlagene Lösung weiterzuverfolgen, schlug die Verwaltung vor, die Sache zu vereinfachen. Derzeit vergleicht die IV die Erwerbsmöglichkeiten von Kranken fälschlicherweise mit den höheren Löhnen von Gesunden. Als Folge dieses Rechenfehlers sind viele Teilrenten zu tief, zudem werden zahlreiche Rentengesuche zu Unrecht abgelehnt. Um das zu korrigieren, schlug das BSV der Kommission nun vor, diese Referenzlöhne pauschal um 10 Prozent zu reduzieren. Allerdings hatten Wissenschaftler zuvor errechnet, dass diese mindestens 17 Prozent tiefer sein müssten. Das Amt feilschte also wie auf einem Basar.

Was er von diesem Verwaltungs-Lobbyismus hält, machte Lohr vor dem versammelten Nationalrat deutlich: «Das hat uns gelinde gesagt irritiert.» Die Motion fordere, dass die IV-Renten wissenschaftlich korrekt berechnet werden. Auf welcher Empirie der Alternativvorschlag der Verwaltung beruhe, sei hingegen unklar. Zum Schluss wies er das Amt schulbubenhaft zurecht: «Wir erwarten, dass die Verwaltung ab jetzt den Willen des Parlaments energisch, korrekt und ohne weitere Verzögerungen umsetzt.»

Wollte das BSV bei den Ausgaben sparen?

Als die Motion zum ersten Mal im Nationalrat behandelt worden war, hatte Alain Berset noch darum gekämpft, dass sie abgewiesen wird. Doch früh war absehbar, dass er damit nicht durchkommen wird. Die durch Kommissionssprecher Lohr ausgeplauderten Hintergrundgespräche nähren nun den Verdacht, dass das BSV mit seiner Lobby-Offensive versuchte, die drohenden Zusatzausgaben so gering wie möglich zu halten. Oder aber es wollte sich schlicht um die Arbeit drücken.

Dass sich das Aufsichtsorgan über die IV-Stellen in die Belange der Politik einmischt, ist auf jeden Fall heikel. Denn die IV ist zwar hoch verschuldet. Dies darf aber bei der Berechnung der IV-Renten keine Rolle spielen. Auch ohne die Motion wäre das BSV verpflichtet, möglichst präzise zu rechnen.

Alain Berset verteidigte das Vorgehen seines Amtes gestern im Parlament mit dem Argument, dass ein Pauschalabzug schneller umgesetzt werden könnte und dasselbe Ziel erreiche. Auf die Frage von Manuela Weichelt (Grüne), warum er denn einen Pauschalabzug von 10 Prozent und nicht wie von Wissenschaftlern errechnet im Minimum 17 Prozent vorgeschlagen habe, wich Berset aus. Man müsste nach einer Einführung eines Pauschalabzugs in einem zweiten Schritt klären, ob es weitere Anpassungen brauche, sagte er.

In all seinen Wortmeldungen im Parlament zum Thema betonte Berset stets, wie viel Aufwand die Aufgabe, eine neue Methodik zu erstellen, bedeute. Rund 400 Lohntabellen müssten erstellt werden, das sei eine enorme Aufgabe, sagte er auch gestern. Darum kommt sein Amt nun definitiv nicht mehr herum. Immerhin gewährte das Parlament der Verwaltung ein halbes Jahr mehr Zeit als ursprünglich vorgesehen. Bis Ende 2023 muss das BSV einen Lösungsvorschlag präsentieren. Dass am Ende ein Pauschalabzug die beste Lösung sein könnte, wollten übrigens weder Vertreter von Behindertenorganisationen noch Kommissionssprecher Lohr ausschliessen. Doch die gestrige Botschaft war klar: Erst soll die Verwaltung ihre Arbeit machen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 15.12.2022 um 17:46 Uhr
    Permalink

    Man vergisst bei allen Überlegungen dass die Bürger die auf die IV angewiesen sind, nicht nur krank sind und damit schon genug Probleme haben, sondern in aller Regel nicht gerade zu den gut situierten zählen wo das Geld ohnehin schon knapp ist.
    Ich kann das Problem nicht verstehen, das wenn der IV Beitrag Pflicht ist, nicht auch ein Recht herausgeleitet werden kann. Oder ist das eine Spendenkasse?
    Das Amt ist dem Einzahler gegenüber verpflichtet und kommt es dieser Verpflichtung nicht nach, sollte man die verantwortlichen Mitarbeiter alle frei setzen. Wie sonst auch üblich im Arbeits- und Berufsleben.
    Und wenn ein Politiker, dem Bürger, dem Volk verpflichtet seiner Verpflichtung nicht nachkommt, – das gleiche!

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