TA_LegalisierteErpressung

Tages-Anzeiger und Bund: Weder die «Erpresser» noch die Konsumenten kommen zu Wort © Tamedia

Tagesanzeiger verteidigt systematische Irreführung

Urs P. Gasche /  Konzerne sollen Konsumentinnen mit Sprüchen wie «natürlich» oder «ohne Zusatzstoffe» und falschen Abbildungen täuschen dürfen.

In einem grossen Aufmacher-Artikel prangern der Tages-Anzeiger vom 13. April und der Berner Bund vom 15. April eine «legalisierte Erpressung» an, nennen einige Anwälte «skrupellos» und schreiben von «Geier-Anwälten», welche «angeblich irreführende Lebensmitteldeklarationen» aufspüren. Es ging um Sammelklagen im Interesse von Konsumentinnen und Konsumenten in den USA.
Zur Einordnung des Artikels fällt Folgendes auf:

  • Viele Deklarationen auf Lebensmitteln sind nicht «angeblich» irreführend, sondern sind laut Gerichtsentscheiden tatsächlich irreführend.
  • Die skrupellosen Geieranwälte kommen im Tages-Anzeiger nicht zu Wort.
  • Die Konsumentenorganisationen, die sich von den Anwälten angeblich abzocken lassen, kommen nicht zu Wort.
  • Der ganze Artikel stützt sich ausschliesslich auf ein PR-Papier der US-Handelskammer, das eine Einschränkung der Sammelklagen fordert. Beispielsweise sollen Gerichte künftig davon ausgehen, dass nur das Kleingedruckte auf den Packungen gilt. Der Tages-Anzeiger nennt dieses Papier eine «Studie».

Irreführende Deklarationen sind weit verbreitet
Absichtlichen Täuschungen beim Kauf von Lebensmitteln begegnen Konsumentinnen und Konsumenten täglich: Abbildungen von frischen Erdbeeren oder Pfirsichen, obwohl kein Gramm Erdbeeren oder Pfirsiche drin ist. Bezeichnungen wie «natürlich», «rein» oder «ohne Zusatzstoffe», obwohl das alles nicht stimmt. In der Schweiz sollte der Gesetzgeber und das Bundesamt für Gesundheit dafür sorgen, dass Anpreisungen von Lebensmitteln nicht täuschend sind. Eigentlich sollten sich die Konsumentinnen und Konsumenten darauf verlassen können, weil sie in der Schweiz ihre Rechte nur schwer einklagen können. Anders in Deutschland und Österreich: Dort erhalten Konsumentenorganisationen Finanzhilfen speziell zum Abmahnen und Prozessieren wegen unlauterer Werbung.

Täuschende Rivella-Werbung mit Pfirsich ist in der Schweiz erlaubt

Die SKS hat wegen unlauterer Werbung geklagt, weil das Pfirsich-Rivella nur synthetische Geschmacksstoffe enthält. Doch die Schweizerische Lauterkeitskommission («Selbstkontrolle der Kommunkationsbranche») befand, Rivella schreibe nur von Pfirsich-Geschmack. Der Pfirsich im Werbevideo sei deshalb keine Täuschung.
In den USA ist die Rechtslage völlig anders. Die Behörden lassen der Industrie ziemlich freie Hand und reglementieren nicht alle Details wie in der Schweiz. Dafür aber haben die Konsumentinnen und Konsumenten

  • erstens mit Sammelklagen und
  • zweitens mit Aussicht auf hohe Entschädigungen

Rechtsmittel in der Hand, mit denen sie sich gegen Täuschungen und Irreführungen wirksam wehren können.
Die teuren Prozesskosten übernehmen spezialisierte Anwälte auf eigenes Risiko: Verlieren sie vor Gericht, müssen sie alle Kosten selber übernehmen. Gewinnen sie jedoch oder können sie vorteilhafte Vergleiche abschliessen, lassen Sie sich mit bis zur Hälfte der erstrittenen Summen entschädigen. Das bringt die Vorteile, dass erstens die Konsumentinnen kein Prozessrisiko tragen, und dass zweitens die Anwälte nur Prozesse anstrengen, bei denen die Erfolgsaussichten einigermassen intakt sind.
Der Tages-Anzeiger kritisiert, dass die Klagen sehr häufig mit Entschädigungszahlungen aufgrund von Vergleichen enden, weil die verklagten Anbieter die Verfahren loswerden möchten. Es ist allerdings nicht einsichtig, weshalb ein Unternehmen, das wahrheitsgetreu und transparent deklariert, einen Prozess scheuen soll. Auch in der Schweiz werden viele Klagen mit Vergleichen erledigt, wenn die Forderungen wenigstens teilweise berechtigt sind.

Exzesse gibt es überall
Gemäss PR-Papier kam es im Jahr 2016 vor Bundesgerichten zu insgesamt über 160 neuen Sammelklagen. Die angebliche «Studie» der US-Handelskammer wertet die Klagen inhaltlich nicht systematisch aus, sondern pickt heraus, was passt. Genüsslich zitiert der Tages-Anzeiger einzelne Beispiele, welche ein fragwürdiges Ausnützen der Gesetzgebung dokumentieren. Es wird kritisiert, dass Dreiviertel aller Klagen in den US-Bundesstaaten Kalifornien, New York, Florida und Illinois eingereicht werden, weil die dortigen Gerichte als konsumentenfreundlich bekannt sind. Überall ist es so, dass Anwälte wenn immer möglich Gerichte auswählen, bei denen die Erfolgschancen am höchsten sind.
Die meisten Klagen beträfen die Begriffe «natural», «nothing artificial» oder «preservative free». Zunehmen würden Klagen wegen teilweise leeren Verpackungen, die ein grösseres Volumen des Inhalts vortäuschen.
«100 Prozent geriebener Parmesan»
Ein Beispiel, das der Tages-Anzeiger aufgreift, ist die Deklaration «100% geriebener Parmesan». Tatsächlich enthalten die Packungen aber 4% Zellulose, um das Verklumpen des Käses zu vermeiden. Auf der kleingedruckten Inhaltsangabe ist dies vermerkt. Darüber müssten jetzt die Gerichte befinden, mokiert sich der Tages-Anzeiger. Dass 100% nur 96% sind, ist für den Tages-Anzeiger eine Bagatelle, seien die 4% Zellulose doch gesetzlich erlaubt.
Auch in der Schweiz dürfen etliche Lebensmittel wenige Prozente anderer Inhaltsstoffe enthalten und trotzdem als «reiner Apfelsaft» usw. angepriesen werden.
Angstmachen vor dem Einführen von Sammelklagen in der Schweiz
Der Tages-Anzeiger geisselt nicht bloss einzelne Exzesse von Sammelklagen in den USA, sondern generell die Sammelklagen sowie die für Konsumenten risikolosen Prozesse. Der Konservenhersteller Starkist sei verklagt worden, weil er in die Dosen zu wenig Thunfisch abgefüllt habe. «Um Ruhe zu haben», habe der Konzern einen Vergleich abgeschlossen und den Klägern 12 Millionen Dollar bezahlt. «Die Anwälte zweigten davon 30 Prozent ab», ereifert sich der Tages-Anzeiger. Die Konsumentinnen seien mit Warengutscheinen von 4.43 Dollar abgespiesen worden. Kein Wort davon, dass die Käuferinnen und Käufer künftig davon profitieren, dass die Büchsen wieder voll abgefüllt werden.
In den USA dienen Sammelklagen und hohe Entschädigungen dazu, die dort wenig regulierte Lebensmittelindustrie zu disziplinieren. Wenn die Konsumentenseite und ihre Anwälte auch in der Schweiz starke Waffen in die Hände bekämen, könnten wir ebenfalls mit weniger Staat und Regulierungen auskommen.
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NACHTRAG VOM 26. APRIL 2017
Gegenüber Medienbeobachter Bernhard Völk hat TA-Chefredaktor Arthur Rutishauser wie folgt Stellung genommen:
«Mir scheint da ist Gasche etwas naiv auf die PR-Masche der US Anwälte aufgesprungen. Natürlich hat das schärfere Konsumentenrecht in den USA auch Vorteile, aber ich frage: Wo muss man Fleisch mit Antibiotika-Zusatz essen? Wo gibt’s mehr Ramsch im Laden, der auseinander fällt, wenn man ihn zum ersten mal benützt? Und wo verdienen die Anwälte mehr? Bei uns oder in den USA?
In dem Sinn lasse ich Gasche seine Meinung, teile sie aber nicht.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Konsumentenschutz

Einseitige Vertragsklauseln. Täuschungen. Umweltschädlich. Hungerlöhne. Erschwerte Klagemöglichkeiten.

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Kritik von Zeitungsartikeln

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4 Meinungen

  • am 26.04.2017 um 21:35 Uhr
    Permalink

    Über den Versuch einer Stellungnahme von TA-Chefredaktor Arthur Rutishauser kann man nur noch lachen, bzw. weinen.

    Es fällt auch mir immer wieder auf wie tief das Niveau des Tages Anzeigers in den letzten Jahren gesunken ist. Noch nicht so schlimm wie die Weltwoche, aber doch bereits unter der Würde eines anständigen Journalismus. Deshalb unterstütze ich das Projekt «Republik». Es ist dringend nötig dass die grossen Medienkonzerne aufgemischt werden. Macht verdirbt eben auch im Journalismus den Charakter.

  • am 27.04.2017 um 07:15 Uhr
    Permalink

    Der TagesAnzeiger ist eines von vielen Publikationsorganen des Tamedia-Konzerns. Dieser machte 2016 einen Umsatz von rund einer Milliarde Franken und zog daraus einen Gewinn vor Abschreibungen von rund 20% , Gesamtergebnis rund 11%. Die Frage, wie man im heutigen Umfeld eine derartige Rendite erzielt, muss erlaubt sein.

    Ich denke: Aufwändige, personalintensive Recherche ist eher nicht der Schlüssel zu solchem finanziellen Erfolg. Und die sinkende Qualität der Artikel legt den Schluss nah, dass man eigene journalistische Arbeit zunehmend durch mehr oder weniger mechanische Verarbeitung von Pressemitteilungen aller Art ersetzt.

    Offenbar scheint die Qualität den meisten Lesern aber noch zu genügen….

  • am 1.05.2017 um 14:37 Uhr
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    Ach wie nobel von Herr Rutishauser – er lässt Herr Gasche seine Meinung. Das ist mir mal ein vorzüglicher Demokrat !

  • am 2.05.2017 um 11:42 Uhr
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    Auf der Website foodwatch.de wird das schon lange bekämpft mit der Irreführung der Konsumenten. So unteranderem auch Nestle mit den Frühstückscerealien welche extrem viel Zucker haben oder die Zutatenlisten die kaum lesbar sind.

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