Thomas L. Friedman, Kolumnist der «New York Times» (Archivbild)

Thomas L. Friedman, Kolumnist der «New York Times» (Archivbild) © UNC Asheville

«Israel ist dabei, einen schrecklichen Fehler zu begehen»

Red. /  «Die Stunde ist spät. Ich habe noch nie eine so dringende Kolumne geschrieben», sagt New York Times-Kolumnist Thomas L. Friedman.

upg. NYT-Kolumnist Thomas L. Friedman ist Autor des Buches «From Beirut to Jerusalem». Er besuchte soeben Israel und veröffentlichte einen am 22. Oktober aktualisierten Aufruf an Ministerpräsident Netanyahu und Präsident Biden. Im Folgenden die wichtigsten Passagen:


Nach allem, was ich von hochrangigen US-Beamten erfahren habe, ist es Biden nicht gelungen, Israel dazu zu bringen, sich zurückzuhalten und alle Auswirkungen einer Invasion des Gazastreifens für Israel und die Vereinigten Staaten zu durchdenken. Lassen Sie mich das so klar und deutlich ausdrücken, wie ich kann, denn es ist schon spät:

Ich glaube, wenn Israel jetzt Hals über Kopf in den Gazastreifen einmarschiert, um die Hamas zu zerstören – und dies tut, ohne sich klar zu einer Zweistaatenlösung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde und zur Beendigung der jüdischen Siedlungen tief im Westjordanland zu bekennen –, wird es einen schweren Fehler begehen, der für die israelischen und amerikanischen Interessen verheerend sein wird.

Es geht nicht darum, dass Israel das Recht hat, an der Hamas Vergeltung für die grausame Barbarei zu üben, die sie israelischen Männern, Frauen, Babys und Grosseltern angetan hat. Das tut es sicherlich. Es geht darum, es auf die richtige Weise zu tun – auf eine Weise, die der Hamas, dem Iran und Russland nicht in die Hände spielt.

Es wird niemanden geben, der Israel dabei hilft, die Kosten für die Versorgung von mehr als zwei Millionen Menschen und den Wiederaufbau im Gazastreifen zu tragen. Jedenfalls so lange nicht, wie Israel von einer Regierung geführt wird, die so denkt und handelt, als könne sie sich berechtigterweise an der Hamas rächen, während sie im Westjordanland ungerechtfertigterweise eine apartheidähnliche Gesellschaft aufbaut, die von jüdischen Vorherrschern geführt wird. 

Wenn Netanjahu mit diesen jüdischen Suprematisten nicht bricht, wird er ganz Israel in das Gefängnis von Gaza bringen. 

Biden muss dieser israelischen Regierung klarmachen, dass die Übernahme des Gazastreifens – ohne ein völlig neues Konzept für die Siedlungen, das Westjordanland und eine Zweistaatenlösung – eine Katastrophe für Israel und eine Katastrophe für Amerika wäre.

Wir können helfen und sogar darauf bestehen, dass unsere arabischen und europäischen Verbündeten an der Schaffung einer effektiveren, weniger korrupten und legitimeren Palästinensischen Behörde im Westjordanland arbeiten, die nach einer gewissen Übergangszeit auch in Gaza mitregieren könnte. Aber nicht ohne eine grundlegende Änderung der israelischen Politik gegenüber der Palästinensischen Autonomiebehörde und den jüdischen Siedlern.

Andernfalls hat das, was als Angriff der Hamas auf Israel begann, das Potenzial, einen Nahostkrieg auszulösen, an dem alle Gross- und Regionalmächte beteiligt sind.

Israel wird wahrscheinlich nicht zulassen, dass die Stellvertreter Irans [die Hisbollah] Raketen gegen Israel einsetzen, ohne dass Israel eine Rakete direkt auf Teheran abfeuert. Israel verfügt über raketenbewaffnete U-Boote, die sich wahrscheinlich gerade im Persischen Golf befinden. Wenn das losgeht…

Die Vereinigten Staaten, Russland und China könnten direkt oder indirekt mit hineingezogen werden.

Deshalb glaube ich, dass es für Israel viel besser wäre, eine Operation im Gazastreifen als «Operation Rettet unsere Geiseln» – und nicht als «Operation Beendet die Hamas ein für alle Mal» – zu bezeichnen und sie, wenn möglich, mit wiederholten chirurgischen Schlägen und Spezialkräften durchzuführen, die zwar die Hamas-Führung erwischen können, aber auch eine möglichst klare Grenze zwischen der Zivilbevölkerung des Gazastreifens und der Hamas-Diktatur ziehen.

Die Stunde ist spät. Ich habe noch nie eine so dringende Kolumne geschrieben, weil ich mir noch nie so grosse Sorgen darüber gemacht habe, wie diese Situation ausser Kontrolle geraten könnte, und zwar in einer Weise, die Israel irreparablen Schaden zufügt, den Interessen der USA irreparablen Schaden zufügt, den Palästinensern irreparablen Schaden zufügt, Juden überall bedroht und die ganze Welt destabilisieren könnte.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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8 Meinungen

  • am 24.10.2023 um 11:06 Uhr
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    Sollte die israelische Führung mit ihrer derzeitigen Kriegsführung nicht zur Vernunft kommen, müssen die internationalen Partner Druck ausüben: keine Finanzierung, keine Waffen, keine Unterstützung. Auf längere Sicht ist Israel genau wie die Ukraine auf Hilfe von außen angewiesen. Das hat durchaus historische Parallelen: 1956 wurden Israel, GB und F durch die UdSSR und USA nach ihrem Blitzkrieg gegen Ägypten gezwungen, die Suezkrise friedlich beizulegen. 1967 verhängte De Gaulle nach dem Sechstagekrieg ein totales Waffenembargo gegen Israel: keine guten Mirage III mehr. Die arabische Welt ist heute viel stärker als 1967; mit Präventivschlägen und brüchigen Waffenstillständen wird Israel seine Situation nicht stabilisieren können.

    • am 25.10.2023 um 10:11 Uhr
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      Nach dem 6-Tage-Krieg von 1967 folgte der Jom-Kipur-Krieg von 1973, den Israel genau so gewann, egal ob mit oder ohne Mirage. Ich denke De Gaulle hat mit dem Waffenembargo nur gezeigt, dass auf Frankreich kein Verlass ist. Seither ist übrigens auch die Mirage kein Exportschlager mehr. Verfolgen Sie mal wie vielen Staaten der Rafael-Jet angeboten wurde & wie wenige den Rafael tatsächlich bestellt haben.

      Zur «starken arabischen Welt»: Warum schliessen den viele sunitisch-arabische Länder Frieden mit Israel? Könnte das etwas mit dem erhofften Schutz vor der Schiitischen Atommacht Iran zu tun haben?

  • am 24.10.2023 um 11:49 Uhr
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    Der Einsatz der Armee sollte kein Selbstzweck sein. Militärisches Eingreifen ist dort angezeigt, wo sich unverzichtbare politische Ziele nicht diplomatisch durch Verhandlungen und Kompromiss erreichen lassen. Also ist die Frage für Israel hier, was will man mit einer Bodenoffensive in Gaza überhaupt erreichen. Vielleicht was das Israel bereits, hat es aber (noch) nicht kommuniziert. Wie das herauskommt, wenn man militärisch eingreift, ohne ein tragfähiges politisches Konzept für die Zeit nach dem militärischen Sieg zu haben, haben wir sowohl in Libyen als auch im Irak und in Afghanistan gesehen.

  • am 24.10.2023 um 11:55 Uhr
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    «… Es geht nicht darum, dass Israel das Recht hat, an der Hamas Vergeltung für die grausame Barbarei zu üben, die sie israelischen Männern, Frauen, Babys und Grosseltern angetan hat.
    Das tut es sicherlich. …»

    Ist es tatsächlich so, dass es ein RECHT AUF VERGELTUNG, AUF RACHE gäbe?

    Nach meiner bescheidenen Meinung werden Krieg und Gewalt nicht enden, ganz besonders nicht im Nahen Osten, solange dieses Denken das politische und militärische Handeln bestimmt. Gewalt wird immer neue Gewalt hervorbringen.

    • am 25.10.2023 um 10:03 Uhr
      Permalink

      Es gibt kein internationales Recht auf Rache. Internationales Recht betont Gerechtigkeit, Frieden und Menschenrechte, während Rache als illegitim und gewaltfördernd angesehen wird.

      Selbstverteidigung ist sehr wohl legitim und in höchstem Masse menschlich. Wir erleben aber, dass auch der modernste, technische Schutz sehr ineffektiv war. Nun stellt sich doch die Frage, ob die Beziehungen, die Friedensförderung nicht das viel grössere Potenzial für Stabilität und Gleichgewicht gewährt?

  • am 25.10.2023 um 12:42 Uhr
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    Schwache Regierung hat sich innenpolitisch verzockt und gerät gewaltig unter Druck.
    Also lässt sie einen militärischen Konflikt eskalieren, um die eigenen Reihen zu schliessen.

    Kommt uns dies nicht irgendwie bekannt vor?

  • am 25.10.2023 um 12:50 Uhr
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    Der Konflikt ist unlösbar.
    Baut eine Mauer, werft rüber was ihr an Waffen habt… (wie der Satz weitergeht weiss jeder). Es hat Guterres (UNO) nicht ganz Unrecht, mit dem was er den Israelis vorwirft (nämlich dass sie Gaza klein halten). Allerdings hat Hamas Feuer an die Lunte gelegt. Was wollt ihr nun? vielleicht… Frieden?

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