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Polens Präsident Duda gehörte bis zur Wahl Jaroslaw Kaczinskys PiS an und wurde dessen Nachfolger. © gov.pl

Der alte Kumpel auf Abwegen – und was tut die Schweiz?

Sibilla Bondolfi, swissinfo /  Polen und die Schweiz sind gute Freunde. Kritik an Polens Abschied von der Demokratie gibt's nicht. Ignoranz oder Eigennutz?

In der Schweiz war dies in vielen Familien lange ein vertrautes Bild: Ein kleines Kind schaut der Mutter dabei zu, wie diese Medikamente, Spaghetti und Schokolade in eine grosse Kiste packt. Denn viele Schweizer schickten in den 1980er-Jahren regelmässig Lebensmittelpakete an Familien in Polen – wegen der dortigen Versorgungskrise.
Es ist wohl ein Sinnbild, aber nur eines von vielen Beispielen für die Freundschaft, die zwischen Polen und der Schweiz schon lange besteht. «Die Länderfreundschaft ist wirklich aussergewöhnlich», sagt Jens Herlth, Professor für Slavistik an der Universität Fribourg und Experte für polnische Kultur und Geschichte. «Die Schweiz geniesst in Polen grosse Sympathie. Ich höre nur Positives.»
Auch politisch und wirtschaftlich geigt es. «Die sehr guten Beziehungen beruhen auf langjähriger Tradition», schreibt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf der Website.

«Angriff auf die Demokratie»
Doch in Polen stehen die Zeichen auf Autokratie. Und das könnte die Idylle trüben. Müsste es eigentlich. Aber wird es das auch?
Seit 2015 baut Jaroslaw Kaczyńskis rechtsnationale Regierungspartei «Recht und Gerechtigkeit» (PiS) in Polen ihren Einfluss auf die Justiz und die staatlichen Medien sukzessive aus. Europa spricht von einem Angriff auf die Demokratie.
Und was sagt die Schweiz? Bisher erstaunlich wenig. Und dies, obwohl sie sich in ihrer Aussenpolitik «Verteidigung der Menschenrechte» und «Förderung der Demokratie» auf die Fahne geschrieben hat. So steht es jedenfalls in der Schweizer Verfassung:

BV, Art. 54, Auswärtige Angelegenheiten, Absatz 2: «Der Bund (…) trägt bei zur Linderung von Not und Armut in der Welt und (…) zur Förderung der Demokratie (…).»

Es wirkt, als feiere die Schweiz unbeirrt ihre ungetrübte Freundschaft, auch wenn Freund Polen gerade eine veritable Krise schiebt – und abzusumpfen droht.
«Ich bin persönlich zwar besorgt über die politische Situation in Polen, glaube aber nicht, dass sie sich negativ auf die Beziehungen zur Schweiz auswirken wird», sagt Herlth. 2019 feierten Polen und die Schweiz 100 Jahre diplomatische Beziehungen. «Ich habe die Feierlichkeiten als sehr harmonisch in Erinnerung», so Herlth. Er sei fast ein wenig irritiert gewesen, dass die problematische Justizreform dabei kein Thema gewesen sei.

Corona für Änderung des Wahlgesetzes genutzt
Ähnlich wie in Ungarn verstärkt die Corona-Krise die autoritären Tendenzen in Polen: Das Parlament entschied kürzlich über ein Corona-Hilfsmassnahmenpaket, das aber mit einer Änderung des Wahlgesetzes für die Präsidentschaftswahl verknüpft war. «Das ist ungeheuerlich», so Herlth. «Die Corona-Krise wurde genutzt, um die Chancen der konkurrierenden Kandidaten bei der Präsidentenwahl zu verringern.»
Die EU geht mit Gerichtsverfahren gegen Polen vor, sowohl wegen der Justizreform, aber auch wegen der Weigerung Polens, Flüchtlinge aufzunehmen. Der EuGH urteilte kürzlich, mit dem Nein zur Aufnahme von Asylbewerbern habe Polen gegen EU-Recht verstossen.
Die EU-Kommission hat 2017 auch ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Polen gestartet. «Die EU reagiert viel empfindlicher als die Schweiz, was aber auch damit zu tun hat, dass Polen ein EU-Mitglied ist», so Herlth. «Die EU muss über die Einhaltung ihrer Standards bezüglich der Rechtsstaatlichkeit wachen, die Schweiz hingegen ist nicht dafür verantwortlich.»
Beim Eidgenössischen Aussendepartement (EDA) heisst es auf Anfrage von swissinfo.ch: «Die Schweiz und Polen teilen viele Werte, haben aber auch in einzelnen Bereichen unterschiedliche Wertvorstellungen. Die Schweiz verfolgt die Situation und spricht gewisse Punkte bei Bedarf an.»

Druckmöglichkeiten der Schweiz
Bis 2017 unterstützte die Schweiz mit dem Erweiterungsbeitrag Projekte in Polen. Auch von der momentan blockierten Kohäsionsmilliarde dürfte in unbekannter Zukunft ein Teil Polen zukommen. Im Rahmen dieser Gelder hätte die Schweiz rechtlich gewisse Druckmöglichkeiten (gehabt). Erstens bestimmt sie autonom über die Verteilung des Geldes und Polen hat bisher aufgrund seines Bevölkerungsreichtums den grössten Beitrag der Schweiz an ein einzelnes Land bekommen.
Zweitens sah das Bundesgesetz über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas vor, dass der Bundesrat Massnahmen und Anpassungen vornehmen kann, wenn die Grundsätze der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte verletzt werden. Laut Botschaft kam als Ultima Ratio ein Abbruch der Zusammenarbeit in Frage.
Davon hat die Schweiz bisher keinen Gebrauch gemacht, weder gegenüber Polen noch gegenüber einem anderen Land. «Im zwischenstaatlichen Dialog sind negative Konditionalitäten erfahrungsgemäss kein wirksames Mittel», sagt Pierre-Alain Eltschinger vom EDA. Zudem spreche gegen den Abbruch eines Projektes, dass davon in erster Linie die Bevölkerung getroffen werde und nicht die Regierung.

Die Schweiz hält sich auch künftig zurück
Herlth glaubt auch nicht, dass die Schweiz zukünftig Druck via Kohäsionsbeiträge ausüben wird. «Die Schweiz agiert vorsichtig und ist zurückhaltend bei der Bewertung innenpolitischer Vorgänge.»
Ähnliche Signale kommen vom EDA: «Bei der Zusammenarbeit unter dem zweiten Beitrag geht die Schweiz von einer Teilhabe der Partnerländer an der europäischen Wertegemeinschaft aus», so Eltschinger. «Bei Nichteinhaltung dieser Grundprinzipien wird die Schweiz situations- und kontextabhängig ihr aussenpolitisches Instrumentarium einsetzen.» Anders gesagt: Die Schweiz wird den Dialog suchen, statt den Geldhahn zuzudrehen.

Wirtschaftliche Interessen der Schweiz
Zögert die Schweiz etwa aus wirtschaftlichen Interessen? Für Schweizer Firmen ist der polnische Markt – und auch Aufträge im Rahmen von der Schweiz finanzierter Projekte für die Transition Polens – durchaus lukrativ. «Wirtschaftliche Interessen stehen nicht im Vordergrund des zweiten Beitrags», winkt Eltschinger vom EDA ab. Vielmehr sei dieser Ausdruck der Solidarität der Schweiz gegenüber den Herausforderungen auf dem europäischen Kontinent und diene der Stärkung der Beziehungen zu Polen (und anderer Partnerländer). Er räumt aber ein: «Diese guten bilateralen Beziehungen sind natürlich auch im wirtschaftlichen Interesse der Schweiz.» Klar ist laut EDA deshalb auch: «Die Schweiz hat Interesse, dass die guten Beziehungen [zu Polen] weitergehen.»
Da ist also die Schweiz mit ihren Werten, in die Verfassung eingraviert, für die Demokratie in der Welt. Und dort der gute alte Freund, der in die Autokratie abdriftet. Muss man ihn zurückpfeifen? Zur Rede stellen? Oder einfach machen lassen und da sein, wie wenn nichts wäre? Niemand weiss es. Und die Schweiz weiss es auch nicht. 

Bilaterale Beziehungen Schweiz – Polen

  • Seit 1992 sind Polen und die Schweiz in derselben Stimmrechtgruppe im Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Die Zusammenarbeit funktioniert laut EDA sehr gut.
  • Im Rahmen der technischen Hilfe bis 1999 und der Finanzhilfe bis Ende 2001 unterstützte die Schweiz die Transition Polens mit 264 Mio. CHF. 1992 wurden zudem die Schulden Polens um die Hälfte (678 Mio. CHF) reduziert.
  • Polen war Empfängerland des Erweiterungsbeitrags. Mit einem Budget von 489 Mio. CHF war es das grösste bilaterale Programm, zu dem sich die Schweiz je verpflichtet hat. Polen ist auch Empfängerland des zweiten Schweizer Beitrags.
  • Gemäss der Schweizerischen Nationalbank betrug der Kapitalbestand schweizerischer Direktinvestitionen in Polen per Ende 2018 6.8 Mrd. CHF. Polen ist damit hinter Russland zweitgrösster Empfänger von schweizerischem Kapital in Zentral- und Osteuropa.
  • Zu den wichtigsten Schweizer Investoren in Polen gehören die Compagnie Financière Michelin, die Krono-Holding, Nestlé, ABB, Kraft Jacobs Suchard, Hiestand, Glencore und Novartis.
  • Für schweizerische Firmen ist Polen als Outsourcing- und Offshoring-Standort und zunehmend als Forschungsstandort sehr attraktiv.
  • Schweizerische Banken haben ebenfalls eine starke Präsenz in Polen und wollen ihre Dienstleistungszentren weiter ausbauen.
  • Auch Schweizer Industriebetriebe investieren in Polen. Novartis (Sandoz) beispielsweise hat die Kapazität ihrer Tablettenproduktion in Strykow verdoppelt. Erwähnenswert ist auch der neulich erfolgte Laboraufbau von Roche Diagnostics in Warschau. Der Glashersteller Euroglas hat sein zweites Werk in Ujazd eröffnet. Sulzer AG hat ein neues Werk mit über 100 Mitarbeitern in der Nähe von Breslau erstellt.
    Quelle: EDA

Links zum Thema:
Bilaterale Beziehungen Schweiz – Polen (EDA)
Polen – Partnerland des Schweizer Erweiterungsbeitrags (EDA)
Swiss Business Hub in Warschau
Polen im historischen Lexikon der Schweiz
Das Polenmuseum in Rapperswil


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Dieser Artikel von Sibilla Bondolfi erschien bereits bei swissinfo.ch

Zum Infosperber-Dossier:

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4 Meinungen

  • am 29.04.2020 um 11:40 Uhr
    Permalink

    ‹ Polen und die Schweiz sind gute Freunde. Kritik an Polens Abschied von der Demokratie gibt’s nicht.›
    Das ist so korrekt. Kein Staat ist legitimiert einen anderen zu kritisieren. Es gibt keine politischen Universalien. Auch Demokratie und Liberalismus sind verhandel- und abwählbar. Jeder Staat kann sich jeder Zeit von der Demokratie verabschieden, ohne dass ein anderer das kommentieren darf.

  • am 29.04.2020 um 13:09 Uhr
    Permalink

    Die Corona-Berichterstattung des Infosperbers ist richtig gut – im Gegensatz zu den Mainstream Zeitungen. Aber auch der Infosperber ist vor journalistischen Fehlleistungen und Polemik nicht gefeit. Jüngst der Beitrag zu Polen. Da wird einleitend eine besonders enge Beziehung und Freundschaft der beiden Länder das Wort geredet. Woran das liegen könnte, geht aus dem Artikel nicht hervor. Am Umstand, dass die Schweiz in Polen ein hohes Ansehen geniessen soll und letztes Jahr 100 Jahre diplomatische Beziehungen gefeiert wurden, kann es meines Erachtens nicht liegen, weil vergleichbares für viele andere Länder auch gilt. Auf diesem auf Sand gebauten Freundschafts-Argument wird dann die Notwendigkeit abgeleitet, den polnischen Freunden nötigenfalls ins Gewissen zu reden, damit diese die Demokratie nicht gänzlich abschaffen. Und welcher Fehlentwicklungen macht sich die polnische Regierung schuldig? Sie überlässt es den Richtern nicht mehr selbst, wann sie in Pension gehen möchten. Es wird ein Rentenalter festgelegt – wie bei uns. Das Rentenalter ist unterschiedlich nach Geschlechtern – wie bei uns. Die Berufung der Richter ans polnischen Bundesgericht wird zunehmen verpolitisiert. Bei uns ist es längst verpolitisiert, weil die Bundesrichter von Politikern gewählt werden. Die staatlichen und privaten Medien würden in Polen gleichgeschaltet – wie bei uns. Alle Medien (SRG und die meisten Zeitungen) machen Hofberichterstattung. Fazit: Lieber mehr Fakten und weniger Einschätzungen.

  • am 29.04.2020 um 13:11 Uhr
    Permalink

    1) «Freund Polen» der Schweiz? Was ist denn in die Schweiz gefahren (oder war sie etwa immer schon so, vergleiche ihr Verhalten betreffend Dr. med. Allende, als die USA in Chile ihren Menschenrechtsexperten Pinochet installierten)? CIA-Foltergefängnisse in Polen ( https://www.sueddeutsche.de/politik/cia-folter-in-polen-im-wald-des-schreckens-1.1593451 ), ein US-Raketengürtel Estland-Lettland-Littauen-Polen-Rumänien-Bulgarien, vergleiche NMD National Missile Defence der USA, die Ukraine als Startdominostein präparierend (US-Planetalleininhaber), das ist für mich die einzige Logik, fragen Sie den Motivforscher Oberinspektor Derrick. US-Raketen möglichst nahe ans Opfer positionieren, um dessen Verteidigungswaffen abzuschiessen. Historisch haben immer die USA den Krieg begonnen. (Venezuela, Iran, Schweizer Firma Allseas, im Prinzip sehe ich die ganze Welt zunehmend im Würgegriff der US-Ehrenwerten Gesellschaft bzw. in der Situation der damaligen Indianer Nordamerikas, die man auch ihrer Nahrungsgrundlage beraubte, «Sanktionen», die Büffel wurden nur vorgeblich wegen ihrer Häute ausgerottet; Goldman Sachs (auch BlackRock) ist auch Enteignung: Buch: Economic Hit Man.)
    2) «Freund USA» von Europa? Da weinen ja die Hühner (fragen Sie die Native Americans, fragen Sie sogar Kissinger, der offen sagte, die USA haben keine Freunde, einzig Interessen). Und WIR wollen das «Volk der Dichter und Denker» sein? «Der Bauer ist unser FREUND», sagte eine Gans zur anderen, bevor Weihnachten kam.

  • am 29.04.2020 um 16:20 Uhr
    Permalink

    Sowohl die Schweiz wie Polen müssen sich an die UNO-Charta halten, die Verfassungscharakter für das Völkerrecht hat. Im Artikel 1. Punkt 2) der Charta steht:
    "freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung
    und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen
    zu entwickeln» Die Schweiz muss sich daran halten und die Selbstbestimmung Polens respektieren. Wir haben kein Recht, uns einzumischen.

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