Mason

Wirtschaftsjournalist Paul Mason © ARD

Digitale Netze schaffen eine neue Ökonomie

Aurel Schmidt /  Paul Mason schreibt die Geschichte des Nachkapitalismus und entwirft eine Utopie für eine bessere und gerechtere Welt.

Dass es in der Politik nicht nur einen klaren Trend zu autoritären und rechtspopulistischen Verhältnissen, sondern ebenso sehr auch eine Entwicklung nach links gibt (Jeremy Corbin, Bernie Sanders, in Spanien Podemos, in Frankreich die Bewegung «Debout la nuit», deren Teilnehmer sich seit Wochen gegen die neoliberale Arbeitsmarktpolitik von Präsident Hollande wenden), fällt nicht auf den ersten Blick auf, ist aber unbestreitbar.
Zu den Hinweisen für eine neue Linkstendenz gehört auch das Buch «Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie» von Paul Mason (s. Hinweis unten). Für den englischen Autor, Ökonomen und Fernsehjournalisten wird die Zukunft vor allem der Idee der Commons verpflichtet sein und neue Arbeits- beziehungsweise Produktionsverhältnisse hervorbringen – wenn es gelingt, den Übergang zu schaffen. Das allein ist die Frage. Den Ausschlag wird das Potenzial geben, das in Netzwerktechnologie, Kooperation und digitalem Überfluss liegt. Das sind neue Voraussetzungen, die einen deutlichen Bruch mit der Vergangenheit vollziehen.
Bevor sich die Leserinnen und Leser diesen Aussichten zuwenden können, müssen sie sich erst durch die Mühen der Ebenen hindurcharbeiten, die in diesem Fall in langen Überlegungen zur marxistischen und neomarxistischen Theorie bestehen.
Wirtschaftsgeschichte nach Kondratjew
Manches, was Marx gesagt hat, ist für die Analyse der gesellschaftlichen Zustände nach wie vor noch wertvoll, aber vieles ist auch überholt, weil Marx nicht voraussehen konnte, was eintreten würde, etwa die Finanzialisierung der Welt oder die Globalisierung und Automatisierung der Produktion (die maschinelle Industrialisierung, die für ihn auch emanzipatorischen Zündstoff enthielt, bildete für ihn den äussersten Horizont).
Also muss eine brauchbare Theorie für die Gegenwart zurechtgelegt werden, die den eingetretenen Veränderungen Rechnung trägt. Nach Marx sollte der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen. Was er nicht ahnen konnte, war die unglaubliche Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, die sein Überleben bisher garantiert hat. Dass nichts, was Marx angenommen hatte, tatsächlich eingetreten ist, hat die Linke in eine tiefe Krise gestürzt.

Paul Mason: Postkapitalismus – Grundrisse einer kommenden Ökonomie, Suhrkamp Verlag 2016, CHF 29.50 (bei ExLibris)
Umso mehr kann Mason daher den Versuch unternehmen, über Marx hinausgehend die Geschichte neu zu schreiben. Dabei stellt sich jedoch der Eindruck eines angestrengten Bemühens ein, das epochale, in Zukunft unentbehrliche Standardwerk mit 371 Textseiten über den Postmarxismus und über die Wirtschaftsformen der Zukunft vorzulegen.
Ausführlich setzt sich Mason mit den Kondratjewschen «langen Wellen» oder Zyklen im Wirtschaftsleben auseinander, die im Durchschnitt 50 bis 70 Jahre dauern, mit einem Aufschwung durch technologische Erneuerung beginnen und zu wirtschaftlichen Investitionen führen. Bis der Höhepunkt erreicht ist, haben sich grosse Kapitalmengen angesammelt, Spekulationen ausgebreitet, Geldblasen gebildet und die Wirtschaftskräfte sich erschöpft. Das Ende einer Welle ist jeweils von Rezession und Krise geprägt, auf die mit einer neuen technologischen Revolution eine weitere lange Welle einsetzt. Der sowjetische Wirtschaftswissenschafter Nikolai Kondratjew hatte sich mit seiner Theorie in Widerspruch zu den dogmatischen ökonomischen Auffassungen in der Sowjetunion gesetzt und ist 1938 im Gefängnis von einem Kommando hingerichtet worden.
Diesmal wird alles anders sein
Die eingehende Befassung mit Kondratjew hat für Mason die Aufgabe zu zeigen, dass diesmal alles neu ist. Von heute an wird die Entwicklung im wirtschaftlichen Bereich anders verlaufen. Dazu geht Mason auf die Verträge von Bretton Woods aus dem Jahr 1944 ein (internationale Währungsordnung, strenge Bankenregulierung), in deren Folge die westliche Welt eine beispiellose Phase extremen exponentiellen Wachstums erlebte.
Dass regulierte Finanzordnung und erzielter hoher Wohlstand eng miteinander zu tun hatten, ist für Mason klar.
Das System von Bretton Woods fand 1973 sein Ende, zwei Jahre nachdem US-Präsident Richard Nixon die Golddeckung des US-Dollars aufgehoben hatte. Die Entwicklung, die seither mit flottierenden Wechselkursen, Deregulierung der Banken und Finanzmärkte sowie dem Übergang vom Industrie- zum Finanzkapitalismus ihren Fortgang nahm, erreichte mit der Finanzkrise von 2007/08 ihren Tiefpunkt.
Für Mason ist klar, dass die letzte grosse Welle zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und der Krise von 2007/08 an ihr Ende gekommen ist, ebenso der Kapitalismus und die sogenannte Marktwirtschaft. Was für Mason ebenfalls keinem Zweifel unterliegt, ist die Tatsache, dass wir längst den Weg in den Nachkapitalismus eingeschlagen haben.
Neue Arbeits- und Produktionsverhältnisse
An diesem Punkt sind wir mit der Lektüre ungefähr in der Mitte des Buchs angekommen. Von jetzt an richtet sich der Blick in die Zukunft. Die Informationstechnologie hat die besten Voraussetzungen für eine neue Ökonomie, neue Formen der Produktion und damit auch neue Arbeitsverhältnisse hergestellt, also für eine neue Gesellschaftsform schlechthin.
Informationsprodukte sind extrem billig und extrem nützlich für einen Wirtschaftswandel. Zur Veranschaulichung stützt sich Mason auf das Beispiel Wikipedia, für die 27’000 Menschen freiwillig und unentgeltlich an der laufenden Verbesserung arbeiten, was dem Wohl aller zugute kommt. Auch andere Open Source-Unternehmen kommen in Frage (Android, Linux; man könnte auch an Libre Office denken).
Im Zentrum von Masons Überlegungen stehen Commons oder Allmendeprodukte (Gemeinschaftsgüter). Sie zeigen den Weg zu einem System jenseits des Marktes auf, weil Güter, die nichts oder nur sehr wenig kosten, kaum marktfähig und für Investitionsinteressen uninteressant sind. Netzwerkökonomie ist die Alternative zum Markt und wird für Sharing Economy sowie neue Formen der Eigentümerschaft attraktiv.
Die «nützlichen Dinge», die mit geringem Arbeitsaufwand hergestellt werden können, werden billig oder unentgeltlich sein, kollaborativ genutzt werden und allen gemeinsam gehören, heisst das in Masons Zusammenfassung.
Die neue «gebildete universelle Persönlichkeit»
Auf diese Weise wird ein Fortschritt möglich sein, durch den nicht neue Objekte im Mittelpunkt stehen, «sondern alte Objekte, die intelligent gemacht werden. Der Wissensgehalt der Produkte hat mittlerweile einen höheren Wert als ihre physischen Bestandteile.»
Um diese Ziele zu erreichen, zählt Mason verschiedene Forderungen auf: Verringerung des CO2-Ausstosses; Abschaffung des gegenwärtigen Finanzsystems bis 2050; Wohlstand für die Mehrheit der Menschheit; Einsatz der Technik zur Verringerung des Arbeitsaufwands, damit die Arbeit billiger wird, optionalen Charakter annimmt und zuletzt die Relation von Arbeit als sinnvoller Praxis und von Arbeitswert aufgehoben werden kann.
Eine weitere Forderung sieht Mason darin, dass der Übergang auch in einer geistigen Revolution bestehen sollte und dafür die «gebildete universelle Person» beziehungsweise der «vernetzte Mensch» erwartet wird. Er wird in einer Verbindung von Manager und Intellektuellem bestehen. Was der eine in seinem Bereich leisten kann, ergänzt die Kompetenz des jeweils anderen auf dessen Gebiet.
Wenn Mason sich den Übergang bis in die kleinsten Einzelheiten vorstellt, gerät er ins Erbsenzählen. «Man müsste», «Man könnte», «Man sollte», das ist alles leicht gesagt. Bis es soweit ist, drohen verschiedene Gefahren und «Schocks». Die Welt der Finanzindustrie, der Klima- und Umweltgipfel, der «Anzugträger» in Washington, Beijing und Brüssel werden alles unternehmen, um die Welt noch einmal zu reparieren und die Entscheidungen, die sich kategorisch aufdrängen, hinauszuzögern.
Den Planeten retten ist möglich und vernünftig
Doch die Zeit eilt. Es ist überraschend, mit welcher Insistenz Mason die ökologischen Risiken aufzählt und wie viel Aufmerksamkeit er ihnen widmet. Das Gleiche gilt für die Probleme von Überalterung und Migration. Für 200 Millionen Menschen ist ihre Heimat unbewohnbar geworden und sie müssen eine neue suchen. «Die Panik ist real», schreibt Mason. Den Planeten zu retten, ist aber ebenso technologisch machbar wie wirtschaftlich vernünftig. Beinahe unverständlich ist gegenüber alledem, dass die sozialen Überwachungstechnologien, die ausgerechnet durch intelligente Informationsprodukte an Effizienz noch zunehmen können, Mason nur ganz am Rand interessieren.
Zwischen Marxismusgeschichte und ökologischen Warnungen, zwischen Hypothesen und Perspektiven ist das weite Feld ausgesteckt, in dem Mason seine Ideen abhandelt. Manchmal ist das Buch überladen, manchmal auf erfrischende Art ansteckend. Die Zukunft kann als Katastrophe enden, aber sie kann genauso gut ein neues Zeitalter eröffnen. An der eingeschlagenen Richtung gibt es nichts einzuwenden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Eine Meinung zu

  • am 26.05.2016 um 11:56 Uhr
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    » Nach Marx sollte der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen. Was er nicht ahnen konnte, war die unglaubliche Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus, die sein Überleben bisher garantiert hat. Dass nichts, was Marx angenommen hatte, tatsächlich eingetreten ist, hat die Linke in eine tiefe Krise gestürzt.»
    Ja, der Kapitalismus hat sich in einer untrüglichen Weitsicht und im unglaublichen Mass an die Triebwünsche der Massen angepasst. Was halt nicht zur Zerstölrung des Kapitalismus, sondern zur Zerstörung der Menschlichkeit geführt hat. Die Linke konnte den Wandel der gesellschaftlichen Probleme zu Marx› Zeiten bis heute nicht oder nur verspätet aufnehmen, übersah die zunehmende Differenzierung kapitalistischer Intrigen zur schleichenden ökonomischer und psychischer Ausbeutung der Massen. Auch die SP der meisten Länder, die die neuen Zeichen hätte aufnehmen solllen, hat versagt. Kein Wunder, dass eine aufkommende Linke gamz andern Vaterschaften entsprungen ist.

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