Nukleare Abschreckung Trends Research und Advisory

Nukleare Abschreckung: Nehmen die USA trotz Nato ein zerstörtes Europa in Kauf? © Trends Research und Advisory

Die grossen Löcher im US-Sicherheitsschirm für Europa 

Urs P. Gasche /  Bei einem Angriff auf ein europäisches Nato-Mitglied müssten die USA militärisch eingreifen. Das ist eine weit verbreitete Mär.

Seit Jahren wecken Politiker und Medien den falschen Eindruck, das Militärbündnis der Nato verpflichte die USA, ein europäisches Nato-Land militärisch zu unterstützen, falls es von Russland angegriffen würde.

Richtig ist: Sollte Russland in Europa ein Nato-Land angreifen oder sogar taktische Atomwaffen einsetzen, können sich die USA aus einem konventionellen oder einem Atomkrieg mit Russland heraushalten und Europa sich selber überlassen.

Darüber informierte Infosperber am 3. Juni 2024 und stellte fest: «Der Nato-Vertrag verpflichtet die Bündnispartner nach einem Angriff zu keinem automatischen militärischen Eingreifen – auch wenn dieser Eindruck häufig erweckt wird.» 

Drei Beispiele:

  • Im SRF verbreitete Auslandredaktor Peter Voegeli am 29. März 2025:
    «Wenn ein Nato-Mitgliedsstaat angegriffen wird, wird dies als Angriff auf alle Nato-Mitglieder gewertet. Daraufhin verteidigt sich das Militärbündnis gemeinsam.» 
  • Hubert Wetzel, sicherheitspolitischer Korrespondent in Brüssel, verbreitete am 29. Januar 2024 in der «Süddeutschen Zeitung» und in den Tamedia-Zeitungen wie dem «Tages-Anzeiger»: 
    «Artikel 5 garantiert jedem Mitglied im Falle eines Angriffs militärischen Beistand durch alle anderen Mitglieder, in letzter Konsequenz also durch die Atommacht Amerika.»
  • In der «NZZ» verbreitete Brüssel- und Nato-Korrespondent Daniel Steinvorth am 17. November 2022:
    «Artikel 5 verpflichtet im Fall eines bewaffneten Angriffs gegen ein Nato-Mitglied alle übrigen Mitglieder zum Beistand – notfalls mit Waffengewalt.» 

Diese drei Darstellungen sind falsch oder zumindest irreführend. Denn über den Einsatz von Waffen kann jedes Nato-Mitglied selber entscheiden. Die «Beistandsverpflichtung» verpflichtet kein Land – auch nicht notfalls – zum Einsatz von Waffen.


Kein automatisches Eingreifen

Der entscheidende Artikel 5 des Bündnisvertrags von 1949 stipuliert zwar:

«Die Vertragsparteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird.» 
(Artikel 6 des Nato-Vertrags präzisiert, dass «jeder bewaffnete Angriff auf das Gebiet oder die Streitkräfte, Schiffe oder Flugzeuge einer der Parteien» gemeint ist.)

Die Vertragsparteien verpflichten sich in einem solchen Fall, 

«Beistand zu leisten, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Massnahmen, einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.»

Jeder Staat kann also selber entscheiden, mit welchen Massnahmen er Beistand leisten möchte.

Am 16. März 2022 veröffentlichten die Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags ein Rechtsgutachten mit dem Titel «Rechtsfragen der militärischen Unterstützung der Ukraine durch Nato-Staaten zwischen Neutralität und Konfliktteilnahme».

Darin kommen die wissenschaftlichen Diense zum Schluss:

«Der Feststellung des Nato-Bündnisfalls liegt keine ‹Automatik› zugrunde. Die Nato-Staaten entscheiden im Konsens mit einem weiten politischen Ermessensspielraum. Ein ‹Anspruch› eines angegriffenen Nato-Partners auf Feststellung des Bündnisfalles besteht nicht.»


«Nationale Souveränität»

Artikel 11 des Nato-Vertrags hält fest:

«Der Vertrag ist von den Parteien in Übereinstimmung mit ihren verfassungsmässigen Verfahren […] in seinen Bestimmungen durchzuführen.»

Der US-Senatsausschuss für Auswärtige Angelegenheiten hatte in den Sechzigerjahren festgehalten, dass die nach Artikel 5 des Nato-Vertrags zu ergreifenden Massnahmen «vom diplomatischen Protest bis zu den härtesten Formen von Pressionen alles Mögliche einschliessen».

Das Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags kommt zum Schluss: 

«Es herrscht mithin nationale Souveränität in der Entscheidung über die Art der Beistandspflicht.»


«NZZ»: «Das grosse Missverständnis um die Nato»

Zum gleichen Schluss kommt Andreas Rüesch aktuell am 21. Juni 2025 in der «NZZ» (Bezahlschranke). Unter dem Titel «Das grosse Missverständnis um die Nato» stellt die «NZZ» fest: «Die Beistandspflicht des Militärbündnisses ist nicht viel wert, wenn der politische Wille fehlt.»

Artikel 5 des Nato-Vertrags verdiene eine «genauere Betrachtung», schreibt Rüesch. Er nennt das Szenario, dass der Kreml etwa handstreichartig im Nato-Land Litauen eine Landbrücke zur russischen Enklave Kaliningrad erobern würde. Litauen würde sofort Hilfe der Verbündeten anfordern. «Doch der Nato-Vertrag besagt keineswegs, dass in einem solchen Fall automatisch alle Mitglieder in den Krieg gegen Russland eintreten. Die Verbündeten sind nicht einmal zwingend zu militärischer Hilfe verpflichtet.»

«[Gemäss Nato-Vertrag] können Nato-Mitglieder nach eigenem Gutdünken entscheiden, wie weit sie bei der Unterstützung der angegriffenen Verbündeten gehen wollen». Statt Truppen zu schicken, könnten sich manche auf materielle Hilfe beschränken – oder gar auf Wirtschaftssanktionen».

Während des Aushandelns des Nato-Vertrags habe ein republikanischer Senator sarkastisch gefragt, ob man seine Beistandspflicht auch «mit der Lieferung von zehn Gallonen Öl» erfüllen könne.

Laut «NZZ» war die schwammige Formulierung von Artikel 5 Absicht: «Schon damals wollten die USA den Europäern keinen sicherheitspoltischen Blankocheck ausstellen.»


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