Kommentar

Auf der Fahrt gegen die Betonwand

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Robert Ruoff /  So hoffnungsvoll der Tag des Mauerfalls, so widersprüchlich die Signale. Der Krieg scheint näher als der Frieden.

Die Wochenendlektüre führt uns immer wieder auf eine Achterbahn der Gefühle. Ärgerlich, wenn eine anspruchsvolle Zeitung wieder einmal die schiere Ideologie verbreitet. Tröstlich, wenn die eigenen Unglücksfälle in Gelächter aufgehen, weil ein Kolumnist ähnliche Erfahrungen mitteilt. Erschreckend, wenn genaue Beobachter aus der Innenansicht des Geschehens uns mitteilen, dass wir in jüngster Zeit etliche Male knapp an einem grossen Krieg vorbei geschrammt sind. Und bestärkend, wenn ein alter, weiser Mann im Gespräch nicht nur den eigenen Gedanken Nahrung gibt sondern am Ende sogar, ganz überraschend, einer unzerstörbaren Hoffnung.

Gefangen in der alten Ideologie

Angefangen habe ich an diesem Wochenende mit einem Blick in die «Neuen Zürcher Zeitung», auf deren Titelseite sich am Vorabend des Mauerfall-Jubiläums ihr Auslandchef Eric Gujer ausbreitet. Der ganze Leitartikel atmet den alten Geist der Konfrontation und der Strategie der Machtpolitik. Der Widerstand gegen alle friedliche Entwicklung kommt aus Moskau, das Gute aus dem Westen. Damit das aufgeht, muss er auch den russischen Beitrag zum friedlichen Wandel kleinschreiben. «Es ist eine Legende, dass ein wohlmeinender Gorbatschow den Deutschen die Wiedervereinigung auf dem Silbertablett servierte.»

Mit dem «Silbertablett» hat er wohl recht. Gorbatschow hat ja zum Jahrestag noch einmal daran erinnert, wie schwierig der Weg zur Wiedervereinigung war. Aber ich erinnere mich sehr genau an die Pressekonferenz des Michail Sergejewitsch Gorbatschow vom 20. November 1987, also noch zwei Jahre vor dem Fall der Mauer. Es war nach dem Ende des Gipfeltreffens mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan in Genf. Der noch ziemlich neue Staats- und Parteichef der Sowjetunion hielt eine endlos lange Rede über seine politischen Absichten, und ich hörte ihm als frischgebackener «Tagesschau»-Journalist mit wachsender Spannung zu. Damals schon erklärte er seine Absicht, den osteuropäischen Satellitenstaaten die Entscheidung über ihren Weg zu überlassen und nicht, wie seine Vorgänger, jede unabhängige Bewegung unter den Ketten der Panzer zu zermalmen. Er hat den Worten Taten folgen lassen. Und angesehene, unabhängige Historiker wie Tony Judt (Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart) haben ihm sein wesentliches Verdienst für den insgesamt friedlichen Übergang vom Kalten Krieg zur freiheitlicheren Neuordnung Europas gutgeschrieben. Eric Gujer hingegen meint: «Die Erfolgsgeschichte in den ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten ist nicht das Produkt von Zufällen, sondern von kluger Führung, klaren Worten und stabilen Institutionen wie Nato und EU.»

Na ja.

Der Beinahe-Zusammenstoss

Ich wende mich nach dem Konsum dieser altbackenen Ideologie aus der Zeit des Kalten Krieges dann doch dem «Magazin» zu. Die Beilage zu «Tages-Anzeiger»- und «Bund» und «BaZ» ist zwar in den letzten Monaten auch nicht besser geworden, aber die verbliebene Kolumne von Max Küng verspricht ziemlich zuverlässig ein leichtes, ironisches Amüsement von manchmal tieferer Bedeutung. In diesem Fall endet sie mit der Zerstörung des eigenen Rennrads auf dem Autodach, an der Betonwand der Parkhaus-Einfahrt, «ermordet durch die eigene Beschränktheit». Wer’s noch nicht erlebt hat…

Ich habe es fast erlebt. Auf der Fahrt in die Velo-Ferien mit zwei jungen Amerikanern. Das Geräusch vom Dach bleibt unvergesslich. Aber es war keine Betonwand sondern eine an Ketten schaukelnde Sicherheitstafel auf der Maximalhöhe. So, dass der Autofahrer bremsen kann, bevor der Karbonrahmen demoliert und Lenker und Vorderrad auf die Höhe des Hinterrads geschoben werden. Nach der Vollbremsung stieg der amerikanische Enkel auf die Motorhaube und rückte die baumelnde Tafel an ihren Ketten wieder zurecht. – Wenn die Not am Grössten ist, ist man immer wieder froh über die Hilfe eines jungen Amerikaners. Selbst wenn es beim «Near miss» bleibt, beim Beinahezusammenstoss.

Am grossen Krieg vorbeigeschrammt

Am gleichen Jubiläums-Wochenende wie die NZZ und das Magazin berichtet «spiegel online» mit Verweis auf das «European Leadership Network» über einen «Beinahezusammenstoss einer skandinavischen Passagiermaschine mit einem russischen Aufklärungsflugzeug, das seine Position nicht übermittelt hatte». Es ist nur eine von «40 brenzligen Situationen» in den letzten acht Monaten. Und später am Sonntagmittag erreicht uns die Meldung: «Heftigste Kämpfe seit Monaten erschüttern Donezk». OSZE-Präsident Didier Burkhalter sieht sich zu einem Aufruf veranlasst. Am Tag, an dem vor 25 Jahren das Ende des Kalten Kriegs beginnen sollte.

Wer die gnadenlose Ausdauer verstehen will, mit der wir so gewalttätig und machtbesessen miteinander umgehen, kehrt diese Woche zum «Magazin» zurück. Mathias Plüss befragt Arno Gruen, den alten Meister der Psychoanalyse, zum «Katastrophenjahr 2014» mit Syrien, Irak, Ukraine und anderem mehr, und Gruen antwortet: «Für mich hat die Katastrophe schon vor zwölftausend oder vierzehntausend Jahren begonnen. Mit der Entwicklung der sogenannten grossen Zivilisationen… In jener Zeit wurde der Besitz erfunden. Und mit dem Besitz kamen auch Dinge wie Herrschaft, Gehorsam, Klassengesellschaft und Krieg in die Welt.»

Liebe, Autorität, Gehorsam

Gruen spricht über die Liebe auf der einen Seite, die Frieden stiftende mütterliche Kindesliebe und Geborgenheit vor allen Dingen. Und auf der anderen Seite über die autoritäre Erziehung zum Gehorsam. «Autorität ist sehr verführerisch», sagt er. «Das Bedürfnis nach Gehorsam ist ein wichtiger Teil unserer Kultur. Unsere lauernde Angst führt zu einem Streben nach Sicherheit, und genau diese Sicherheit verspricht die Autorität.»

Das ist ein starker Grund für die enorme Steigerung der Zustimmungsrate für Putin nach der Annexion der Krim. Und – möchte man hinzufügen – für die seltsame Putinverehrung und -Rechtfertigung im angeblich so frei denkenden Westen. Wer die politische Welt nur als Machtspiel sieht, unterwirft sein Denken von Anfang an der Willkür des Stärkeren. Das tun so viele auch bei uns. Wie jener Schweizer Unternehmensführer, der seinen Mitarbeitern vor der staunenden Beizenöffentlichkeit erklärte: «Putin holt sich doch nur seinen Marktanteil zurück.»

Und doch pflegt Arno Gruen eine unzerstörbare Hoffnung. «Die Welt ist so gebaut, dass es eine Entwicklung zum Guten gibt.» Wir wollen diese Hoffnung am Tag nach dem Mauerfall vor 25 Jahren gerne mit ihm teilen.

Aber wir sollten gleichzeitig dafür sorgen, dass wir das kleine Raumschiff Erde mit der uns eigenen Beschränktheit nicht doch noch gegen die Wand fahren.


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5 Meinungen

  • am 10.11.2014 um 13:17 Uhr
    Permalink

    UNO-Charta vom 24. Oktober 1945
    Präambel

    WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN – FEST ENTSCHLOSSEN,
    künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, […] HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN […].

  • am 10.11.2014 um 13:18 Uhr
    Permalink

    Kapitel I, Artikel 1
    Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:
    1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;
    2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;
    3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen;
    4. ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden.

  • Portrait_Robert_Ruoff_x
    am 10.11.2014 um 23:38 Uhr
    Permalink

    @Willi Hermann. Danke. Der Text, den Sie zitieren, wurde geschrieben und beschlossen unter dem Eindruck des letzten grossen Krieges. Nach 50 Jahren nahezu kriegsfreier Zeit in Europa haben wir begonnen, «Frieden» für selbstverständlich zu halten. Es ist heute besonders gut und wichtig, daran zu erinnern, dass Frieden feste Entschlossenheit braucht und klare Ziele und unverbrüchliche Regeln, damit Zusammenarbeit und Freundschaft Bestand haben können.

  • am 11.11.2014 um 10:22 Uhr
    Permalink

    @Robert Ruoff, auch Ihnen ein Dankeschön. Gestatten Sie mir einen Rück- und Ausblick: Die Französische Revolution hat die Geschichte der Moderne geprägt. Mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 wurden auf dem europäischen Kontinent jene Prinzipien – Liberté, Egalité, Fraternité – bekräftigt, die von den Vereinten Nationen in der Präambel und in den Zielen der UNO-Charta eingefordert werden. Zeitgenossen des Revolutionsgeschehens meinten schon bald nach dem 14. Juli 1789 – Sturm auf die Bastille – „Wir haben in drei Tagen den Raum von drei Jahrhunderten durchquert.“ Die Revolution dauerte zehn Jahre.
    Und wo stehen wir heute, 225 Jahre danach? Der UNO-Sicherheitsrat ist das Hauptorgan der Vereinten Nationen, das für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zuständig ist. Der Sicherheitsrat hat gegenwärtig 15 Mitglieder. Die ständigen Mitglieder China, Frankreich, USA, Russland und Grossbritannien stellen je ein Mitglied. Diese haben ein Veto-Recht, d.h. jedes ständige Mitglied kann Entscheide verhindern. Die übrigen zehn Sitze gehen an nichtständige Mitglieder, die nach einem bestimmten Regionalschlüssel jeweils für zwei Jahre von der Generalversammlung gewählt werden.
    Ich lese: Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Humor ist, wenn man trotzdem lacht!

  • am 11.11.2014 um 10:26 Uhr
    Permalink

    @Robert Ruoff; Die Kriegstreiber und die Bosse der umweltschädigenden, menschenverachtenden globalen Konzerne sollten wir einen Monat in einem Flüchtlingslager gefangen halten, damit sie Sozialkompetenz (Nächstenliebe) erfahren und erlernen.
    Unser Planet ist heute ein globales Dorf. Wie die französischen Revolutionäre mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 in drei Tagen den Raum von drei Jahrhunderten durchquert haben, müssen wir heute doch auch durchsetzen können, und zwar mit einem friedlichen Aufstand bzw. globalen Demonstrationen mit dem Ziel, Sicherheitsrat, Generalversammlung (UNO-Parlamente) und den Internationalen (Straf-) Gerichtshof demokratisch, föderalistisch zu legitimieren.
    GB und F als EU-Mitglieder sind eher bereit, auf ihr Vetorecht zu verzichten. Also müsste die Weltbevölkerung mit wiederkehrenden Massendemonstrationen hohen – friedlichen – Druck auf die übrigen Veto-Mächte erzeugen, und zwar mit der Androhung, den Hauptsitz für die reformwilligen Mitgliedstaaten der UNO nach Genf und Wien zu verlegen, falls die dominanten Staaten sich nicht innert fünf Jahren den Reformen anschliessen.
    Liebe Bürgerinnen und Bürger dieser Einen Welt, setzen wir doch endlich durch, was schon Albert Einstein gefordert hat: « With all my heart, I believe that the world’s present system of sovereign nations can only lead to barbarism, war und inhumanity, and that only world law can assure progress towards a civilized peaceful community »

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