Kommentar

Die Energiewende kommt – auch ohne Geothermie

Hanspeter Guggenbühl © bm

Hanspeter Guggenbühl /  Erschüttert das Geothermie-Beben in St. Gallen auch die nationale Energiewende? Lesen Sie die Packungsbeilage!

Der Blitz kam keineswegs aus heiterem Himmel. Denn spätestens seit dem Erdbeben von Ende 2006 in Basel war klar: Die Nutzung der Erdwärme kann sich ebenso als Ritt auf dem Vulkan erweisen wie das Fracking von Erdgas und Erdöl. Jede Energie, ob nuklear, fossil oder erneuerbar, birgt Risiken und hat Nebenwirkungen. Leider fehlte diese Warnung auf der Packungsbeilage des St. Galler Bohrprojekts.

Entsprechend überrascht reagierten am Wochenende Leute aus Politik und Medien auf das neue Geothermie-Beben. Dieses erschütterte am Samstag nicht nur den Untergrund im Grenzland St. Gallen/Appenzell, sondern bringt anscheinend auch die Schweizer Energiepolitik ins Wanken: «Schwerer Rückschlag für Leuthards Energiestrategie», titelte etwa die «NZZ am Sonntag». Und die «Ostschweiz am Sonntag» liess den Berner Atomkraft-Fan Christian Wasserfallen auf der Frontseite frohlocken: «Der Atomausstieg war von Anfang an falsch.»

Müssen wir also die bundesrätliche Energiestrategie begraben, falls die Verstromung der Erdwärme endgültig scheitert? Wer diese These vertritt, muss tief ins Papier hinein bohren. Dann stösst er im Grundlagenbericht zu den «Energieperspektiven 2050» auf Seite 232 aufs Kapitel Geothermie. Darin quantifizierten die Verfasser die Stromerzeugung aus Erdwärme im Jahr 2050 je nach Szenario auf 0,4 Milliarden bis 4,3 Milliarden Kilowattstunden (kWh). Sie weisen aber auch auf die «grosse Unsicherheit» dieser Schätzung hin.

Die obere Zahl von 4,3 Milliarden kWh (das sind sieben Prozent der nationalen Stromproduktion) im «Angebotsszenario C&E» pickten nun einige Medien am Samstag und Sonntag heraus und leiteten daraus ab, die Energiestrategie stehe und falle mit der Geothermie. Diese Folgerung ist unsinnig und kurzsichtig zugleich.

Unsinn ist, Perspektiven über die Energieversorgung im fernen Jahr 2050 zum Nennwert zu nehmen. Denn die vielen Szenarien, die der Bundesrat präsentiert, zeigen nur eines: Die Energiezukunft ist offen. Die Politik kann und soll diese mit geeigneten Massnahmen oder Unterlassungen beeinflussen. Doch wohin die Reise geht, hängt auch von äusseren Einflüssen ab: Wächst zum Beispiel die Wirtschaft nur halb so stark, wie es der Bundesrat in seinen Perspektiven vorsieht, wird die Schweiz 2050 weit weniger Strom verbrauchen, als die Geothermie im besten Fall produziert.

Kurzsichtig ist es, aus dem Misserfolg einer einzigen Technologie das Scheitern der Energiewende als Ganzes abzuleiten: Die Wende in der Energieversorgung tritt auch ohne Geothermie ein, denn die Ausbeutung von nicht erneuerbarer Energie lässt sich nicht ewig fortsetzen. Die Frage ist nur, ob wir diese Wende chaotisch erleiden oder erfolgreich gestalten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Hanspeter Guggenbühl ist Autor des im April erschienenen Buches "Die Energiewende, und wie sie gelingen kann." www.rueggerverlag.ch

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3 Meinungen

  • am 22.07.2013 um 12:42 Uhr
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    Die Informationen von H.P. Guggenbühl sind immer sehr informativ. Und dass er die Erdwärme-Ausbeute in Relation zum möglichem Bedarf stellt, scheint mir auch wichtig. Ich hätte aber erwartet, dass er und alle anderen Berichterstatter darauf aufmerksam machten, dass die Erdwärmegewinnung mit den Bohrungen sich noch in den Kinderschuhen befindet. Könnte doch sein, dass man Mittel und Wege findet, um zu bohren, ohne gleich den Planeten so zu kitzeln, dass er sich schüttelt.
    Vielleicht müssen wir während dem Bohren diese Erschütterungen in Kauf nehmen. Vielleicht lernen wir, mit diesen umzugehen, wenn wir erkennen, dass diese zum Anfangsszenario gehören und dann eben ausbleiben. Klar, wer an seinem Haus wegen dieser Erschütterung Risse entdeckt, ist natürlich erschüttert und ruft gleich aus, um vom Staat Geld zu erhalten. Hier fehlen die Erfahrungen und die Kenntnisse. Als man den Blitz physikalisch noch nicht erklären konnte, vermöchten religiöse Scharlatane (Pfarrer und andere Prediger) diesen als göttliches Zeichen zu verkaufen. Vielleicht können auch diese Erschütterungen dereinst einmal erklärt werden und vielleicht erfahren wir dann, dass es bei diesem einen Ausbruch bleiben kann. Wir sollten der Erdwärmegewinnung eine Chance geben und weitere Versuche wagen. Lieber ab und zu eine kleine Erschütterung, als im Winter vor Kälte schlottern.
    Solche Zeitungsartikel vermisste ich am Sonntag und auch heute. Die Atomlobby wird’s freuen

  • am 22.07.2013 um 14:08 Uhr
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    Eigentlich müsste das Beben in St. Gallen noch einiges mehr zu denken geben, als damit die Energiewende in Frage zu stellen. Der Atommüll soll dereinst doch auch im Untergrund gelagert werden, sicher auf tausende bis Millionen Jahre – dicht und abgeschirmt von der Biosphäre. Die vermeintlichen Sicherheiten einer solchen Langzeitlagerung, wie sie von Nagra und anderen schon seit Jahren beschworen werden, sollten vielleicht einmal im Kontext der beiden Beben in Basel und St. Gallen reflektiert werden. Die Geologie unseres Untergrundes und ihr Verhalten ist in vielen Aspekten und offensichtlich bei technischen Eingriffen noch recht unbekannt.

  • am 24.07.2013 um 12:46 Uhr
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    …dass die Nuklear- und Stromlobby bei jedem Rückschlag frohlockt und wieder mal die hinlänglich bekannten Angstszenarien an die Wand malt, ist nicht überraschend (kein Argument ist so schlecht, dass es nicht wirkt, wenn man es oft genug wiederholt). Was mich schockiert ist, dass die Halbwahrheiten und Lügen dieser Szenarien von den etablierten Medien nicht hinterfragt, sondern meist unkommentiert weiter verbreitet werden. Der Artikel von Hanspeter Guggenbühl ist eine rühmliche Ausnahme.

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