Kommentar

kontertext: Perspektivenwechsel

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsCorina Lanfranchi, Literaturwissenschaftlerin, lebt und arbeitet als freischaffende Journalistin und Autorin in Basel. Red. kontertext greift ©

Corina Lanfranchi /  Der Neujahrswunsch der BaZ gibt Anlass, auf Türme zu steigen und sich Gedanken über Weitblick und Perspektivenwechsel zu machen.

Als Kind besass ich ein Kaleidoskop. Richtete man das Rohr auf die Umgebung, sah man diesen Ausschnitt als vielfach gespiegeltes Muster, welches sich durch das Drehen des Rohres augenblicklich verändern konnte. Die Umgebung durch ein Kaleidoskop zu betrachten bedeutete, die Welt anders zu sehen.
Es ist ein etablierter Brauch, am Anfang eines neuen Jahres Prognosen zu lancieren, Vorsätze zu fassen und Wünsche zu äussern. Erwartungsgemäss findet sich in der ersten Ausgabe der «Basler Zeitung» denn auch ein ganzseitiger Beitrag von Christian Keller (2.1.2017) unter dem Titel «Auswege aus der geistigen Krise» mit der Wunschbotschaft im Obertitel: «Mehr Mut zum Unbequemen und weniger Selbstgefälligkeit.» Ein schöner Wunsch, denkt die Lesende. Der Verfasser konstatiert: «In diesen ersten Januartagen, wo wir am Anfang eines neuen Jahres stehen, einem Moment, der immer auch die Chance eines Neubeginns markiert, sollten wir einen ernst gemeinten Vorsatz fassen: Die Zeit ist reif für eine neuerliche Standortbestimmung.» Und die lautet: Basel befindet sich schon länger «in einer geistigen Krise» und stellt trotz wirtschaftlicher Stärke im schweizerischen Bewusstsein eine «Randnotiz» dar. Schlussfolgerung: «Wir finden nicht statt.» Ein schlagender Beweis dieses Nichtwahrgenommenwerdens findet sich leicht: «Seit Jahrzehnten stellen wir keinen Bundesrat.» Okay, denkt die Lesende, und nun, wie weiter?
Die Krisensituation wird mit einem Zitat von Gaudenz Staehelin, ehemaligem Swissair-Verwaltungsrat, aus dem Band «Basel Wohin? Zehn (Wahl-)Basler über Basels Zukunftsperspektiven» aus dem Jahre 1986 bekräftigt: «Auch uns Baslern fällt die Zukunft nicht in den Schoss. Wir müssen die Schmiede unseres Glücks sein.»
Die Zukunft ist jetzt, 31 Jahre später, nicht wirklich glücklicher geworden, denkt die Lesende. Aber es geht ja nicht um die Welt, sondern um Basel. Und so darf der Verfasser doch Zuversicht versprühen: «Nicht alles ist schlecht, gewiss, aber wir sind Durchschnitt, nicht Spitze, und die grosse Basler Geschichte lehrt uns, dass wir es viel besser könnten.» Ich stolpere über das WIR im Durchschnitt und steche mich an der Spitze, doch da folgt schon die Diagnose des Verfassers: Neben dem fehlenden Schwung mangle es an Innovationskraft und an – Leuchttürmen! Nicht baulicher Art, sondern in metaphorischem Sinne gemeint: Menschen, die über Basel hinausstrahlen, Provokateure, Querdenker, solche eben, die den Mut zum Unbequemen in sich tragen. Und weil diese fehlten, gäbe es keine fruchtbaren Auseinandersetzungen, anstelle derer wüte die Harmonie. Und genau daran, so schlussfolgert der Verfasser, kranke Basel: An der Harmoniesucht.
Als Beweis wird der projektierte Veloring bemüht, dem sogar bürgerliche Grossräte zugestimmt haben, obwohl dessen Bedarf die rot-grüne Regierung in ihrem Vorschlag nicht aufzeige. Das Argument hinkt, denkt die Lesende, Harmonie bedeutet doch die Vereinigung von Gegensätzen zu einem Ganzen, was wiederum Auseinandersetzung bedingt. Nicht weiter denken, denn die Stadt krankt ja an noch mehr: An der Unfähigkeit zur Kritik – weil eben die Querdenker fehlten.
Soweit die Ausgangslage für 2017. Wahrlich, da tut Wünschen not. «Was Basel braucht, und das ist mein Wunsch für 2017, ist ein geistiger Klimawandel», schreibt der Verfasser. Und wo dieser beginnen sollte, weiss er auch: Nein, nicht beim Volk, sondern bei der Elite, der geistigen. «Wo, wenn nicht an der Universität, könnte das Frühlingserwachen beginnen?» Unterstützung für diese recht elitäre Einschätzung findet der Verfasser wiederum im Band «Basel wohin?», diesmal bei Frank Vischer, dem Rechtsprofessor und ehemaligen Rektor: «Gesellschaft und Wirtschaft haben zu akzeptieren, dass die Universität nicht nur Ausbildungsstätte, sondern auch der Ort ist, wo kritische Fragen gestellt werden, wo die herrschenden Verhältnisse nicht notwendigerweise als endgültig angesehen werden, der Ort, wo Visionen einer anderen Welt entworfen werden.»
Am Ende des Beitrags angelangt, rekapituliert die Lesende: Des Verfassers Wunsch wären also mehr mutige und risikofreudige Leuchtturmmenschen, welche die Stadt von ihrer Selbstgefälligkeit befreiten, ihr auch einen neuen Frühling schenkten, der in den universitären Mauern keimen sollte.
Im Wünschen ist der Mensch ganz frei. Stossend an dieser Neujahrsbotschaft, so wie sie bei der Lesenden ankommt, ist primär nicht der formulierte Wunsch, sondern die dargelegte dümmlich-vereinfachende Weltsicht und der besserwisserische Stil, in dem diese dargelegt wird. Da wünscht sich die Lesende, der Verfasser möge doch auf einen Turm steigen, es braucht nicht mal ein Leuchtturm zu sein, und den Weitblick walten lassen, den es braucht, um eine freie und vorurteilslose Sicht auf die Welt bewahren zu können.
Ich lege die Zeitung beiseite und schaue durch mein geistiges Kaleidoskop. Der Blick durch das Rohr zeigt die Welt in ihrer gebrochenen Vielfachheit, in ihrer Kompliziertheit, und nicht immer fügt sich das eine locker in das andere. Geistiger Klimawandel verlangt wohl mehr als ein universitäres Frühlingserwachen, auch wenn die Begriffe sich schön zusammenfügen. Wunschdenken allein genügt nicht, um die Welt zu ändern. Nötig sind vorurteilsfreie Sichtweisen, die zu neuen und anderen Positionen führen. Vielfach sind die Spiegelungen, wechselnde Perspektiven sind gefragt, um zu verstehen, wie anders sich die Welt immer wieder zeigen kann.
Und während die Lesende durch das geistige Rohr blickt, fällt ihr ein, was sie sich fürs 2017 wünscht: Ein Kaleidoskop, so eines, wie sie es als Kind besass.


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Corina Lanfranchi, Literaturwissenschaftlerin, lebt und arbeitet als freischaffende Journalistin und Autorin in Basel.

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