In aller Freudschaft.ard

Aus der Ärzteserie «In aller Freundschaft» © ARD

Arztserien: Faszinierende Melodramen um die Spital-Realität

Pascal Derungs /  Klinikfiktionen fesseln mit Hyperrealismus. Eine Historikerin hat sich jetzt mit den Nebenwirkungen solcher Serien beschäftigt.

Arztserien gehören seit den 1950er Jahren weltweit zu den erfolgreichsten fiktionalen Fernseh-Formaten. Kaum ein Sender, der nicht eine oder gleich mehrere solcher Ärzteserien in seinem Unterhaltungsprogram bereitstellt. 

Mit ihrer hohen Reichweite prägen diese Serien die Vorstellungen von Medizin, Gesundheitsversorgung und den Gesundheitsberufen massgeblich – nicht ohne, teils unerwünschte, Nebenwirkungen, wie die Historikerin Nadia Pettannice auf der Plattform «Geschichte der Gegenwart» schreibt. Sie hat untersucht, wie sehr diese Serien die gesundheitspolitische und medizinische Realität verzerren, wie politisch sie sind und wie sie sich im Lauf der Jahrzehnte verändert haben. 

Das eingefleischte Publikum von «Emergency Room» (E.R.) könne sich durchaus einbilden, zur Durchführung eines Luftröhrenschnittes mittels Sackmesser, Kugelschreiber und Strohhalm in der Lage zu sein, vermutet die Historikerin. Denn hyperrealistische Darstellungen medizinischer Praktiken seien längst das führende Genremerkmal. Blockbuster wie «E.R.», «Grey’s Anatomy», «Chicago Med» oder «New Amsterdam» operierten damit und erzählten so Diagnosedramen mit starkem Gegenwartsbezug. Das schaffe Paralleluniversen, in denen kaleidoskopische Zerrbilder der aktuellen Gesundheitsversorgung erzeugt und in die Gesellschaft zurückgespiegelt würden. 

Der Dauerbrenner «Grey’s Anatomy» hat Massstäbe gesetzt

Nadia Pettannices Analyse räumt der Serie «Grey’s Anatomy» viel Raum ein. Sie existiert bereits seit 2005 und hat sich in den Jahren seither stets weiterentwickelt, um die laufende Aktualität in der Wissenschaft wie auch in der Gesellschaftspolitik einzubinden. Damit sticht sie positiv hervor aus dem bunten Mix der Klinikdramen. Zu Anfang habe das Grey Sloan Memorial Hospital gestrahlt «wie Zähne nach dem Bleaching» und die Figuren seien primär «intensiv mit ihren Liebeleien beschäftigt» gewesen, schreibt die Historikerin. Medizinisch Einschneidendes hätten sie oft «kaffeeschlürfend» besprochen. Dabei dehydriere echtes Gesundheitspersonal tagtäglich vor sich hin, kritisiert Pettannice. Sehr viel Detailliebe hingegen sei stets in die Medizinal- und Operationstechnik investiert worden. Die neusten Errungenschaften hätten regelmässige Gastauftritte erhalten: Davinci Operationsroboter, 3D-Herzhologramme und gezüchtete Organe seien noch vor ihrer breiten Einführung in der Serie bereits zu sehen gewesen. Ein ganzes Team beschäftige sich mit der Herstellung überzeugender Requisiten, vom schlagenden Herzen bis zu tuberkulösen Darmabschnitten. Dabei werde nicht nur auf Silicon zurückgegriffen. Die meisten gezeigten Organe stammten von Tieren, so etwa Kuhherzen und Lammgehirne, weiss Pettannice. Das Blut bestehe aus einer stinkenden Mischung aus Hühnerfett und Gelee. Die vielen Attrappen seien so faszinierend,  dass Requisitenchefin Angela Whiting ihnen mit @greysprops einen eigenen Twitter-Kanal gewidmet habe.

Die Arztserie als politischer Kommentar zum Zeitgeschehen

In sozialpolitischer Hinsicht attestiert Nadia Pettannice «Grey’s Anatomy» einen eigentlichen Reifeprozess. Hinter den Kulissen sei das eigene toxische Arbeitsklima auf dem Set angegangen worden und Hauptdarstellerin Ellen Pompeo habe durchgesetzt, dass sie besser entlöhnt wurde als ihr anfänglicher Sidekick Patrick Dempsey (Derek Sheperd). Nach dieser Verbesserung der inneren Kultur habe die Serie soziale und gesundheitspolitische Themen auch vor der Kamera immer stärker in den Vordergrund gerückt, darunter Waffengewalt, häusliche Gewalt, Immigrationspolitik, strukturellen Rassismus in der Medizin, Sexismus, Transplantationsgesetze, Transfeindlichkeit, Homophobie, Krankenversicherung, Drogen, Diskriminierung und Spitalpolitik. Spätestens seit Staffel 16 sei die Serie ein politischer Kommentar zum Zeitgeschehen, konstatiert die Historikerin Pettannice. Sie führt die Folge «Silent All These Years» aus dem Jahr 2019 an, in der explizit «Date-Rape, Rape-Culture, Victim-Blaming und Slut-Shaming» thematisiert werde. In Echtzeit werde die medizinische Beweissicherung nach einem körperlichen Angriff und sexuellem Missbrauch gezeigt. Hintergrund war der Fall der Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford, die mit ihrem Vorwurf der sexuellen Bedrängung gegen den damaligen Supreme-Court Kandidaten Brett Kavanaugh bei der Justiz mangels Beweisen kein Gehör fand und danach öffentlicher Häme ausgesetzt war.

Corona als Lackmustest für den Realitätsanspruch des Genres

Beim Ausbruch der ersten Corona-Welle habe «Grey’s Anatomy» die Grenzen zwischen Paralleluniversum und Realität noch weiter aufgeweicht. «Einerseits musste die Arbeitssicherheit gewährleistet und gleichzeitig überlegt werden, ob und wie die Pandemie in den Plot integriert werden könne», erinnert Pettannice. Manche Serienformate hätten die Pandemie in den Hintergrund gerückt oder schlicht ignoriert. 

(Anm. des Autors: Das gilt besonders für die populären deutschen Formate wie «Der Bergdoktor» oder «In aller Freundschaft», die einem wie Produkte von Coronaleugnern vorkamen und beim Betrachten sowohl Heiterkeit wie Ärger auslösten). 

Für Arztserien mit echtem Realitätsanspruch sei dieser Weg nicht opportun gewesen, «Grey’s Anatomy» habe die Pandemie gar zum Fokus der Staffel 17 gemacht. Pettannice schreibt: «Der Cast musste also während der Pandemie eben jene Pandemie spielen. Eigentlich hätte Protagonistin Meredith Grey (Ellen Pompeo) in der Staffel 17 in Rente gehen und die Serie enden sollen, stattdessen machte sie einen schweren Coronaverlauf durch und liess das Publikum lange Zeit im Ungewissen darüber, ob die erfolgreichste Arztserie der Welt wirklich während der Pandemie dahingerafft wird. Auch Corona ist Drama.» 

Bekanntlich überlebte Meredith Grey, und die Serie wurde mindestens bis Staffel 20 verlängert. Die Kombination von Diagnosedrama und Politik erweise sich als hochwirksam, hält die Historikerin fest. Seit den Verschärfungen der US-Abtreibungsgesetze würden die Frauenärztinnen im Grey Sloan demonstrativ schwarz statt rosa tragen. Jedoch seien die Spitalfiguren im Grey Sloan Memorial seit der Pandemie ungewöhnlich solidarisch vereint, stellt Pettannice fest. So habe es in der Serienklinik in der Impffrage keinerlei Gegnerschaft gegeben, ganz im Gegensatz zu den realen Verhältnissen. Seither gebe es, im Gegensatz zu vorpandemischen Zeiten, kaum mehr Feindschaften zwischen den Charakteren.

In die TV-Kliniken sind unbequeme Wahrheiten eingedrungen

Das US-Arztserienkaleidoskop sei seit einigen Jahren auf Realpolitik ausgerichtet und zeige dem Publikum hartnäckig verschiedene Facetten der Gesellschaft in Form von schmerzlichen Mustern, die «vor allem vom weissen Publikum gerne verdrängt werden und nun für einige Unverträglichkeitsreaktionen sorgen.» 

Aus ihren Reihen ertöne oft der Wunsch: «Bitte kehrt zurück zu menschlichen Dramen.» Wer leidet nun unter Zerrbildern, fragt die Historikerin rhetorisch. Ein guter Teil des Publikums scheint auf den sozialen Hyperrealismus allergisch zu reagieren. Die Prognose für die Arztserien sei trotzdem günstig, konstatiert Pettannice, ihnen dürfte ein langes Leben beschieden sein. Es ist für alle Geschmäcker etwas im Angebot. Wem der harte Klinikalltag im Grey Sloan zu viel wird, den überweist Pettannice – in aller Freundschaft – zur Kur in die «Sachsenklinik». Dort sei die Welt noch in Ordnung.

Am Anfang der Arztserien stand das Dokumentarische

Die Geschichte der realistischen Arztserien habe 1954 mit der US-Produktion «Medic» (1954–1956) begonnen. Sie beanspruchte für sich, ein ungeschminktes Bild der modernen Medizin zu präsentieren. Mit einer Mischung aus Drama und Dokumentation habe «Medic» erste Massstäbe gesetzt. «Jede Episode basierte auf einer realen Fallstudie und zeigte den gesamten Prozess von der Diagnose über die Therapie bis zur Genesung oder zum Tod», schreibt Pettannice. Doch das habe seinen Preis gehabt: Mit einem Budget von 25’000 Dollar pro Folge sei die Einrichtung eines Spitalsets samt Operationssaal reines Wunschdenken gewesen. 

Die Produzenten seien daher eine Deal mit der Los Angeles County Medical Association (LACMA) eingegangen: Dreherlaubnis in echten Spitälern gegen Kontrolle über die «medizinische Akkuratheit» jedes Skripts. Die Autoren hätten diese bittere Pille schlucken müssen, denn sie seien komplett von der Gunst des Ärzteverbandes LACMA abhängig gewesen. Das Resultat: «Die Ärzte wirkten wie seelenlose und omnipotente Idealschablonen, die ständig das Publikum belehrten», so die Historikerin, «in Medic herrschten Halbgötter in Weiss». 

Doch die TV-Kritik sei begeistert gewesen und habe den Mut gelobt, die «harte medizinische Realität» zu zeigen. «In den US-Wohnzimmern flimmerten nun regelmässig echte Chirurgenhände über den Bildschirm, die an Kieferknochen rumhämmerten, Fussfehlstellungen korrigierten und Organteile herausschnippelten, die Kamera immer direkt auf das Operationsfeld gerichtet», schreibt Pettannice. 

Doch als die Produzenten einen Kaiserschnitt auf den TV-Operationsplan setzten, hätten sie den Zorn eines einflussreichen römisch-katholischen Kirchenvertreters auf sich gezogen. Geburtsaufklärung sei Sache der Sexualerziehung und damit der Kirche, in einem Unterhaltungsformat habe das nichts zu suchen. Der Sender NBC sei eingeknickt und habe sich mit der Ärzteschaft überworfen. «Medic» starb, doch «die Wunderdroge Realismus und die damit verbundene Abhängigkeit von medizinischem Expertenwissen» hätten überlebt.

«Emergency Room» führte erstmals realistisches Personal ein

«Emergency Room» (1994–2009) sei der nächste prägende Meilenstein des Genres gewesen. Ursprünglich seien alle fünf Hauptfiguren als weisse Männer angelegt gewesen. Doch der Zeitgeist habe nach mehr Realismus verlangt. Frauen und People of Color hielten Einzug in der Klinik. «E.R.» habe authentisches Personal unterschiedlichen Alters, Herkunft und Körperformen mit vielfältigen Charaktereigenschaften gezeigt. 

Die Hauptfiguren seien fehlbar gewesen, hätten fragwürdige Entscheidungen getroffen, seien herzlich und fies zugleich aufgetreten. Schon in der Pilotfolge habe der Plot einen sozialpolitischen Konflikt provoziert. Der Suizidversuch der leitenden Pflegerin habe Proteste der US-Pflegefachkräfte ausgelöst, die sich an der notorisch schlechten Darstellung ihres Berufsstandes gestört hätten. Ihr Vorwurf sei nicht unbegründet gewesen. 

Während Ärztegesellschaften seit 1954 dafür gesorgt hätten, dass der Ruf ihres Berufsstandes mehrheitlich unangetastet blieb, hätten sich die Filmemacher bei den Krankenschwestern ungebremst negativer Klischees bedienen können, hält die Historikerin fest. Dennoch: «E.R.» habe einen Diversifikationsprozess initiiert, auf den spätere Serien hätten aufbauen können. 

Wie die Notfallmedizin das dramaturgische Zepter übernahm

«E.R.» habe ein weiteres Genremerkmal geprägt: Tempo. Es sei «Notfallmedizin auf Speed», vermerkt die Historikerin. Alles sei beschleunigt, die Kamera fliege nur so durch die Gänge. Schnelle Schnitte und rasch wechselnde Szenen würden Dringlichkeit vermitteln. Die  Symptome entwickelten sich im Zeitraffer, das Pflegepersonal lege «Blasenkatheter in Lichtgeschwindigkeit» und die gesamte Ärzteschaft sei in der Lage, eine Computertomografie in Millisekunden zu interpretieren. Darauf folge dann jeweils eine Blitztherapie. 

Pointiert relativiert die Historikerin Nadia Pettannice den Realismus-Anspruch der Macher: «Frisch transplantiert, vernäht und versorgt verschwinden Patienten und Patientinnen aus dem Spitaluniversum und werden vergessen. Für eine Krankheitsentwicklung oder den langwierigen Genesungsprozess bleibt keine Zeit. Psychotherapie? Fehlanzeige. Ergotherapie? Inexistent. Rehabilitation? Weggelassen. Pflege? Nein! Physio? Pff!» Diese Verkürzung zähle zu den problematischsten Aspekten von Arztserien, denn sie evozierten völlig falsche Vorstellungen von der Tragweite der angewandten Eingriffe.

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Ergänzung des Autors

In den TV-Arztserien sind die Fach-Koryphäen, das Assistenzpersonal und die Pflegekräfte stets flugs zur Stelle, wenn ihre Expertise gefragt ist. Alles geht schnell, muss schnell gehen, so verlangt es das Gesetz des fiktionalen Medizinal-Dramas. Was dabei wohlweislich ausgeblendet wird, ist die existenzielle, leidvolle Erfahrung des Wartens, welche alle Betroffenen, die auf ärztliche Hilfeleistung angewiesen sind, in Realität erleiden müssen. 

Es beginnt mit der Geduldsprobe in der Warteschleife beim ersten Anruf. Es folgen epische Wartezeiten bis zur Gewährung eines Besprechungs- oder Untersuchungstermins. Einmal angekommen in der Praxis oder der Klinik wartet als nächstes das Wartezimmer, bevor eine der Halbgottheiten in Weiss verfügbar ist. Nach der ersten Besprechung müssen dann erst einmal die Resultate von Scans und Blut- oder sonstigen Analysen abgewartet werden, bevor eine Diagnose erfolgen und eine Behandlung oder ein Eingriff terminiert werden kann, was dann meist wieder eine längere Wartezeit zur Folge hat. 

Schliesslich folgt regelmässig das bange Warten auf den erhofften Therapie-Erfolg. Natürlich eignet sich diese Seite der realen Gesundheitsversorgung nicht für die Spannungs-Dramaturgie einer Vorabend- oder Prime-Time-Serie. Ja nicht einmal für ein Slow-TV-Format taugt sie. Es ist eben bloss die langweilige, aber wirklich wahre Realität.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Kritik von TV-Sendungen

Fehler passieren überall. Beim nationalen Fernseh-Sender sind sie besonders ärgerlich. Lob und Tadel.

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Eine Meinung zu

  • am 26.08.2023 um 16:05 Uhr
    Permalink

    Diese Sendungen sind einfach Seelennahrung für die Zuschauer. Es sind alle (meistens) so nett und freundlich und machen alles, damit wir schnell und schonend gesund werden. Natürlich sind dass Illusionen, aber die Menschheit will nun einmal angelogen werden.

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