Israel vertreibt Palästinenser in ein «Warschauer Ghetto»
upg. Der Angriffskrieg Israels gegen Iran hat das Drama in Gaza aus den Schlagzeilen verdrängt. Chris Hedges beschreibt das letzte Kapitel des dortigen Völkermords. Wer heute zuschaut, will später nichts gewusst haben – wie die Deutschen nach 1945 oder die Amerikaner nach der Rassentrennung.
Auslöser waren der grausame Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten und die Geiselnahmen. Doch die Reaktion des Netanjahu-Regimes spottet unterdessen jeder Verhältnismässigkeit.
Hedges war von 1990 bis 2005 Redaktor der «New York Times», namentlich auch Büroleiter für den Nahen Osten. Er publiziert heute auf Substack. Wir übernehmen seinen Kommentar von Scheerpost. Zwischentitel von der Redaktion.
Die letzten Tage von Gaza
Es ist das Ende. Das letzte blutgetränkte Kapitel des Völkermords. Bald wird es vorbei sein. In wenigen Wochen. Zwei Millionen Menschen vegetieren in den Trümmern oder unter freiem Himmel. Täglich sterben Dutzende unter israelischem Beschuss: Granaten, Raketen, Drohnen, Bomben, Kugeln. Es fehlt an allem: sauberem Wasser, Medizin, Nahrung.
Die Menschen stehen vor dem Ende:
Auf sadistische Art lockt Israel hungernde Palästinenser mit Versprechen von Wasser und Nahrung in den 14 Kilometer langen, schmalen und überfüllten Landstreifen an der Grenze zu Ägypten – eine letzte Falle.
Israel und seine zynisch benannte Gaza Humanitarian Foundation (GHF), welche laut Grayzone vom israelischen Verteidigungsministerium und vom Mossad finanziert sein soll, instrumentalisiert den Hunger als Waffe. Palästinenser werden in den Süden Gazas gedrängt, so wie einst die Nazis hungernde Juden mit Zügen ins Warschauer Ghetto deportierten, um sie nachher in Vernichtungslager zu verlegen.
Ziel ist die Deportation
Das Ziel Israels ist nicht, die Palästinenser zu ernähren, sondern sie zu entwurzeln und zu internieren. Niemand behauptet ernsthaft, dass es im Süden Gazas genug Lebensmittel oder Hilfszentren gibt. Israel will die Palästinenser in streng bewachte Lager pferchen, um sie nachher deportieren zu können.
Ich wage keine Prognosen mehr. Aber ein letzter humanitärer Kollaps steht bevor – ein Inferno. Palästinenser kämpfen um Nahrungsmittelpakete, unter Beschuss von Söldnern Israels und der USA. Innerhalb von acht Tagen töteten diese über 130 Menschen und verwundeten über 700.
In Gaza rüstet Netanjahu mit dem IS verbündete Milizen aus, lässt Lebensmittelplünderungen zu. Die Zivilgesellschaft ist zusammengebrochen – systematisch zerschlagen durch gezielte Tötungen von Ärzten, Journalisten, UN-Mitarbeitern, Beamten, Polizisten.
Das Mantra «nie wieder» wird zum Hohn
Ich vermute, dass Israel die Grenze zu Ägypten durchbrechen wird. Verzweifelte Palästinenser werden in den ägyptischen Sinai strömen.
Vielleicht wird es anders enden. Aber es wird bald enden. Die Palästinenser können nicht mehr viel ertragen.
Und wir? Wir sind vollwertige Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesem Völkermord – und am wahnsinnigen Ziel, den Gazastreifen zu leeren und den Grossraum Israel vom Jordan bis zum Mittelmeer auszuweiten. Der Vorhang über den live übertragenen Völkermord wird fallen.
Die vielen Universitätsprogramme zum Holocaust werden zur Farce. Sie sollten nicht dazu gedient haben, uns an das Schreckliche zu erinnern, sondern Israel als ewiges Opfer zu vergöttern, welches das Recht hat, Massenmorde zu begehen.
Das Mantra «Nie wieder» wird zum Hohn. Völkermord ist zur Staatspolitik geworden – abgesegnet von Regierungen und getragen von Parlamenten.
Wer fühlt sich nicht ohnmächtig?
Was bleibt zu sagen? Vielleicht gar nichts mehr. Vielleicht ist genau das die Absicht – uns stumm, gelähmt, machtlos zu machen. Wer fühlt sich nicht ohnmächtig? Traumatisiert? Gefesselt durch das Spektakel des Schreckens.
Ich habe aufgehört, mir die Bilder anzusehen. Die Reihen kleiner, verhüllter Leichen. Die enthaupteten Männer und Frauen. Familien, die in ihren Zelten lebendig verbrannt wurden. Die Kinder, die Gliedmassen verloren haben oder gelähmt sind. Die kreideweissen Totenmasken derer, die unter den Trümmern hervorgezogen wurden. Die Klagelaute. Die ausgemergelten Gesichter. Ich kann nicht.
Dieser Völkermord wird uns verfolgen – wie ein Echo in der Geschichte, wie ein Riss in unserer kollektiven Moral. Und wir werden wieder alles verdrängen.
Wenn es vorbei ist, wird niemand eine Schuld tragen wollen. Die Unterstützer werden sich tarnen, die Gleichgültigen schweigen, die Untätigen ihre Biografie neu schreiben.
Wie nach dem Dritten Reich.
Wie nach der Rassentrennung in den USA.
Ein Volk von angeblich Unschuldigen. Jeder wird behaupten, er hätte Anne Frank gerettet. Die Wahrheit ist: Die meisten haben nur sich selbst gerettet – auf Kosten anderer.
In seinem Buch «One Day, Everyone Will Have Always Been Against This» schreibt Omar El Akkad:
«Sollte eine Drohne einen namenlosen Menschen auf der anderen Seite des Planeten vaporisieren, wer von uns würde sich darüber aufregen? Was, wenn sich herausstellt, dass es tatsächlich ein Terrorist war? Was, wenn sich die stets automatische Anschuldigung als wahr herausstellt und wir damit implizit als Terroristen-Sympathisanten abgestempelt, geächtet und beschimpft werden?
Ihre Familien wurden durch einen Raketenangriff ausgelöscht. Ihr ganzes Leben wird in Schutt und Asche gelegt – all das wird präventiv mit dem Kampf gegen Terroristen gerechtfertigt.»
Mein Interview mit El Akkad finden Sie hier.
Die Gewalt wird zurückkehren
Und was glauben wir, was nachher kommt? Dass niemand reagiert? Man kann ein Volk nicht auslöschen, seine Städte in Schutt legen, Zehntausende ermorden, es zur Flucht zwingen – und glauben, das bleibe ohne Echo. Die Gewalt wird zurückkehren. Die Ermordung zweier israelischer Diplomaten in Washington und der Angriff auf Israel-Sympathisanten bei einer Demonstration in Boulder, Colorado, sind nur der Anfang.
Chaim Engel, der am Aufstand im Nazi-Vernichtungslager Sobibor in Polen teilnahm, beschreibt, wie er einen Wachmann im Lager mit einem Messer angegriffen hat:
«Das ist keine Entscheidung. Man reagiert einfach instinktiv. Mit jedem Stich sagte ich: ‹Dieser ist für meinen Vater, dieser für meine Mutter und dieser für all diese Menschen, für alle Juden, die ihr getötet habt.›»
Glaubt irgendjemand, Palästinenser würden anders handeln? Wie sollen sie reagieren, wenn Europa und die USA, die sich als Vorreiter der Zivilisation darstellen, einen Völkermord unterstützt haben, bei dem ihre Eltern, ihre Kinder, ihre Gemeinden abgeschlachtet, ihr Land besetzt und ihre Städte und Häuser in Schutt und Asche gelegt wurden? Wie können sie diejenigen nicht hassen, die ihnen das angetan haben?
Welche Botschaft hat dieser Völkermord nicht nur den Palästinensern, sondern allen Menschen im Globalen Süden vermittelt?
Die Botschaft ist klar: Ihr seid unwichtig. Das humanitäre Recht gilt nicht für euch. Euer Leiden und das Ermorden eurer Kinder sind uns egal. Ihr seid Ungeziefer. Ihr seid wertlos. Ihr verdient es, getötet, ausgehungert und enteignet zu werden. Ihr solltet von der Erde getilgt werden.
El Akkad bringt es auf den Punkt:
«Um die Werte der zivilisierten Welt zu bewahren, muss man Bibliotheken anzünden, Moscheen in die Luft sprengen. Olivenbäume verbrennen, Schmuck, Kunstwerke und Lebensmittel rauben und Banken plündern, Kinder einsperren, weil sie Gemüse pflückten, Kinder erschiessen, weil sie Steine warfen, Gefangene in Unterwäsche vorführen, einem Mann die Zähne ausschlagen und ihm eine Toilettenbürste in den Mund stecken, Kampfhunde auf einen Mann mit Down-Syndrom loslassen und ihn dann sterben lassen – sonst könnte die unzivilisierte Welt gewinnen.»
Es gibt Menschen, die ich seit Jahren kenne und mit denen ich nie wieder reden werde. Sie wissen wie alle, was vor sich geht. Doch sie riskieren es nicht, ihre Kollegen zu verprellen, als Antisemiten diffamiert zu werden, ihren Status zu gefährden, gerügt zu werden oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Sie schweigen aus Angst um ihre Karrieren, ihren Ruf, ihren Status. Sie riskieren nichts – während Palästinenser ihr Leben verlieren. Sie beten ihre Götzen an: Wohlstand. Ruf. Zugehörigkeit.
Zu Füssen dieser Götzen liegen zehntausende Leichen.
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Übersetzung von Infosperber. Den englische Originalbeitrag auf Youtube hören.
Israels Regierung ist eine Gefahr für alle Juden
Von Thomas L. Friedman, Kolumnist «New York Times»

Eines Tages werden ausländische Fotografen und Reporter ohne Begleitung der israelischen Armee nach Gaza einreisen dürfen. Wenn dies geschieht und das ganze Ausmass der Zerstörung für alle sichtbar wird, könnte die Gegenreaktion gegen Israel und Juden überall enorm sein.
Die Hamas verdient es, vernichtet zu werden. Die Hamas ist und war schon immer ein Krebsgeschwür für das palästinensische Volk, ganz zu schweigen von den Israelis.
Aber als Jude, der an das Recht des jüdischen Volkes glaubt, in einem sicheren Staat in seiner biblischen Heimat zu leben – neben einem sicheren palästinensischen Staat –, konzentriere ich mich derzeit auf mein eigenes Volk. Und wenn mein eigenes Volk sich nicht gegen die völlige Gleichgültigkeit der israelischen Regierung gegenüber der Zahl der heute in Gaza getöteten Zivilisten wehrt – ebenso wie gegen ihren Versuch, Israel durch die Entlassung seines unabhängigen Generalstaatsanwalts in den Autoritarismus zu treiben –, werden Juden überall einen hohen Preis zahlen.
(Zitate aus der «New York Times» vom 13. Juni 2025)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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