Kommentar

»O mein Heimatland! …»

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des AutorsGret Haller ist Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE. Der Kommentar erschien zuerst als Editorial ©

Gret Haller /  Ein Volk ist nur dann wahrhaft glücklich und frei, wenn es Sinn für Wohl und Freiheit anderer Völker hat, sagte Gottfried Keller.

Während die Eidgenossenschaft 1848 als erster europäischer Staat zur Republik wurde, lebte der überzeugte Republikaner Gottfried Keller in Heidelberg. In seinem Nachlass findet sich ein Fragment aus jener Zeit, in welchem sich der spätere Staatsschreiber des Kantons Zürich mit dem Spannungsfeld zwischen Heimatliebe und Weltbürgertum auseinandersetzt. Dieser Text ist noch heute höchst aktuell.

»O mein Heimatland! … «, das später vertonte Gedicht an sein Vaterland schrieb Gottfried Keller ebenfalls in diesen Jahren. «Wie so innig, feurig lieb› ich Dich!» lautet die zweite Zeile, und sie bringt wohl auch das Heimweh zum Ausdruck, unter dem der Dichter in Deutschland gelitten hat. Aber die Jahre in der Fremde haben ihn geprägt, auch in seiner Heimatliebe und seinem Weltbürgertum, und beide gehören für ihn zusammen. Das damals entstandene Fragment trägt denn auch den Titel «Patriotismus und Kosmopolitismus».*)

«Erst durch die richtige Vereinigung beider gewinnt jedes seine wahre Stellung. Die Ratschläge und Handlungen des beschränkten und einseitigen Patrioten werden seinem Vaterlande nie wahrhaft nützlich und ruhmbringend sein; wenn dasselbe mit dem Jahrhundert und der Welt in Berührung tritt, so wird er sich in der Lage eines Huhnes befinden, welches angstvoll die ausgebrüteten Entchen ins Wasser gehen sieht; indessen der einseitige Kosmopolit, der in keinem bestimmten Vaterlande mit seinem Herzen wurzelt, auf keinem konkreten Fleck der Erde Fuss fasst, für seine Idee nie energisch zu wirken im stande ist und dem fabelhaften Paradiesvogel gleicht, der keine Füsse hat und sich daher aus seinen luftigen Regionen nirgends niederlassen kann.»

«Wie der Mensch nur dann seine Nebenmenschen kennt, wenn er sich selbst erforscht, und nur dann sich selbst ganz kennen lernt, wenn er andere erforscht, wie er nur dann andern nützt, wenn er sich selbst in Ordnung hält und nur dann glücklich sein wird, wenn er andern nützlich ist, so wird ein Volk nur dann wahrhaft glücklich und frei sein, wenn es Sinn für das Wohl und die Freiheit und den Ruhm anderer Völker hat, und es wird hinwiederum diesen edlen Sinn nur dann erfolgreich bethätigen können, wenn es erst seinen eigenen Haushalt tüchtig geordnet hat. Immer den rechten Übergang und die innige Verschmelzung dieser lebensvollen Gegensätze zu finden und zur geläufigen Übung zu machen, ist der wahre Patriotismus und der wahre Kosmopolitismus. Misstrauet daher jedem Menschen, welcher sich rühmt, kein Vaterland zu kennen und zu lieben! Aber misstrauet auch dem, welchem mit den Landesgrenzen die Welt mit Brettern vernagelt ist und welcher alles zu sein und zu bedeuten glaubt durch die zufällige Geburt in diesem oder jenem Volke, oder dem höchstens die übrige weite Welt ein grosses Raubgebiet ist, das nur dazu da sei, zum Besten seines Vaterlandes ausgebeutet zu werden!»

«Allerdings ist es eine Eigenschaft auch der wahren Vaterlandsliebe, dass ich fortwährend in einer glücklichen Verwunderung lebe darüber, gerade in diesem Lande geboren zu sein, und den Zufall preise, dass er es so gefügt hat; allein diese schöne Eigenschaft muss gereinigt werden durch die Liebe und Achtung vor dem Fremden; und ohne die grosse und tiefe Grundlage und die heitere Aussicht des Weltbürgertums ist der Patriotismus (ich sage absichtlich diesmal nicht Vaterlandsliebe) ein wüstes, unfruchtbares und totes Ding.»

Am 30. November 2015 werden der neue Nationalrat sowie die neu gewählten Mitglieder des Ständerates vereidigt. Den Parlamentarierinnen und Parlamentariern könnte Gottfried Kellers Text durchaus als Rahmen für ihre Tätigkeit in der nun beginnenden 50. Legislatur dienen. Denn während der kommenden vier Jahre werden die ausgebrüteten Entchen ins europäische Wasser gehen. Jenen Parlamentarierinnen und Parlamentariern, welche sich selbst am besten in der Rolle des Kellerschen Huhnes gefallen, wird nichts anderes übrig bleiben, als diese Entchen mit ihren angstvollen Blicken zu begleiten.

*) in Jakob Baechtold, Gottfried Kellers Leben, Zweiter Band, S. 522 f, Berlin 1894 (3.Auflage)

Dieser Kommentar von Gret Haller erschien zuerst als Editorial auf der Website der SGA-ASPE.


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Gret Haller ist Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Aussenpolitik SGA-ASPE. Der Kommentar erschien zuerst als Editorial auf der Website der SGA-ASPE.

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4 Meinungen

  • am 25.10.2015 um 12:31 Uhr
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    Ich bin beeindruckt über diese präzise, achtsame und subtile Darstellung von Gottfried Keller.
    Ja. Wie innen so aussen. Wie oben so unten. Und auch.. wie gestern so heute.
    Danke Gret Haller fürs finden und präsentieren dieses Textes!

  • am 25.10.2015 um 13:55 Uhr
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    Ich kann mich Ihrem Kommentar nur anschliessen, Herr Schläpfer. Danke, Gret Haller, so ein Text war wirklich fällig. Respekt.

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 28.10.2015 um 10:30 Uhr
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    Frau Haller musste nicht Muschg lesen, sondern ging mit Bächtold direkt an die Quelle. Schliesse mich den Komplimenten an. Fürchte nur, es ist eine Einigung innerhalb ungefähr derselben Generation.

  • am 28.10.2015 um 18:28 Uhr
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    Und es gab eine Zeit, das gehörte Gottfried Keller – mit Recht – in den Schulen zur Pflichtlektüre! Und heute ist wohl der Name den meisten unbekannt. Der Verlust an Literatur zugunsten wohlfeiler, markgerechter Texte ist stets auch Verlust von Ethik und Identität.

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