FallBerlinerMauer

9.11.1989: Tausende klettern über die Mauer zwischen West- und Ost-Berlin © SRF

Mission Mauerfall – Einsatz vor Ort

Robert Ruoff /  Die steinerne Mauer ist weg. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte.

Red. Infosperber-Autor Robert Ruoff war als einer der wenigen Journalisten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 in Ost-Berlin. Hier erzählt er sein unvergessliches Erlebnis beim Fall der Berliner Mauer. Sein damals gemachter Fernseh-Bericht kann unten angeklickt und angeschaut werden.

Es war eine dieser Missionen, die man gerne erfüllt, aber mit begrenzten Erwartungen. Man hatte mich auf die Reise geschickt, weil ich Berlin kannte; ich hatte dort während des Studiums und für journalistische Arbeit 13 Jahre lang gelebt. Ausserdem waren die Ost-West-Beziehungen, russisch-amerikanische Gipfeltreffen zwischen Reagan und Gorbatschow, Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bis hin zur inneren Auflösung des Ostblocks meine Themengebiete in meiner Zeit bei der «Tagesschau». Jetzt, im Herbst 1989, erwarteten wir, dass die immer noch regierende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SED einen Terminplan für den Rücktritt von Erich Honecker als Partei- und Staatschef der DDR im kommenden Jahr beschliessen und vielleicht sogar schon den Namen des Nachfolgers bekanntgeben würde.

Im Taxi vom Flughafen Tegel (West-Berlin) in die Hauptstadt der DDR (Ost-Berlin) hörte ich dann im Autoradio die Meldung, dass Honecker vom Politbüro der SED entmachtet und sein Stellvertreter Egon Krenz als Nachfolger eingesetzt worden sei. – Also gab es zumindest etwas zu berichten.

Und dann beschleunigten sich die Ereignisse zum entscheidenden Wirbel der friedlichen Revolution, die die Berliner Mauer überwand, das Regime der SED-Herrschaft hinwegfegte und schliesslich zu der «Wiedervereinigung» führte, die der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk* «die Übernahme» nennt. Wirtschaftlich eine Übernahme durch das westliche kapitalistische Wirtschaftssystem und die Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft, politisch durch die Eingliederung der ehemaligen DDR in die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland und ihr Parteiensystem.

Blockade: Im Kampf um die Macht

Egon Krenz war nun also der Mann, der im Herbst 1989 den real existierenden Sozialismus in der DDR in die Zukunft retten sollte. Im Frühjahr hatte er als oberster Wahlleiter bei den Kommunalwahlen plumpe und grobe Wahlfälschungen verantwortet, um für die Staatsparteien den gewünschten Wahlsieg von 99 Prozent sicherzustellen. Im Sommer 1989 rechtfertigte er als Chef der DDR-Sicherheitskräfte das Massaker auf dem «Platz des himmlischen Friedens in Peking» als Massnahme, «um die Ordnung wiederherzustellen». Und Anfang Oktober, im Umfeld des 40-Jahre-Jubiläums der «Deutschen Demokratischen Republik» (6. – 9. Oktober 1989) war er mitverantwortlich dafür, dass die Nationale Volksarmee gegen allfällige Demonstrationen in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt wurde. Dieser gleiche Egon Krenz sollte nun also eine «Wende» einleiten, um in der DDR die Herrschaft des SED-Regimes zu stabilisieren und «die politische und ideologische Herrschaft wieder (zu) erlangen». «Wende» war das Wort, das er benutzte.

Aber wer die Macht nicht rechtzeitig teilt, verliert sie ganz. Trotz der Angst vor einer «chinesischen Lösung» wie auf dem «Platz des himmlischen Friedens» gründeten Oppositionelle eine Vielzahl politischer Initiativen wie das «Neue Forum», «Demokratie Jetzt», die «Vereinigte Linke» mit unterschiedlicher politischer Färbung. Eine Minderheit des Volkes wagte sich zu den Versammlungen in die Kirchen und dann zu den regelmässigen Montagsdemonstrationen in Leipzig, die sich vom September an auch in andere Städte verbreiteten. Und Zehntausende «stimmten mit den Füssen ab», das heisst: sie verliessen die DDR auf dem Weg über Prag, Warschau, Budapest. Ungarn hatte bereits im Mai 1989 mit dem Abbau des Eisernen Vorhangs begonnen. Die DDR war der letzte mitteleuropäische real-sozialistische Staat, der die rigorose Ausreisekontrolle aufrecht zu halten versuchte. Aber auch die DDR-Führung begann, zumindest aus taktischen Gründen über eine vorübergehende und kontrollierte Ausreisemöglichkeit nachzudenken. Eine Lösung wurde immer dringender, weil der Wunsch nach Ausreise zu einer Massenbewegung wurde und in Dresden sogar zu Strassenschlachten zwischen Sondereinheiten der Armee und Tausenden von Ausreisewilligen führte.

Beschleunigung: Zur friedlichen Revolution

Es war das Verdienst besonnener Köpfe, die über eine neue Zukunft für den ostdeutschen Staat nachdachten, dass «die Wende» weitgehend gewaltfrei ablief. Markus «Mischa» Wolf gehörte dazu, der als Generaloberst von 1952 bis 1986 den Auslandsnachrichtendienst im Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) leitete, und der offenbar die stalinistische Opposition gegen Gorbatschows Reformkurs nicht mittragen wollte und deshalb auf Distanz ging. Es war Gregor Gysi, Mitglied der SED, der als freier Rechtsanwalt führende Oppositionelle und Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung wie Robert Havemann, Rudolf Bahro, Ulrike Poppe oder Bärbel Bohley vertrat und der später die SED zur «Partei des demokratischen Sozialismus PDS» machte, die schliesslich auf dem Weg über die «Linkspartei PDS» zu «Die Linke» mutierte. Es war Bärbel Bohley selber, die mit anderen für Bürger- und Menschenrechte in der DDR kämpfte und die grosse Demonstration vom 4. November mitorganisierte, bei der all diese Persönlichkeiten noch einmal zusammen kamen. Zusammen mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Christa Wolf und Stefan Heym und 200’000 anderen oder einer halben Million oder, wie die Veranstalter sagten, gar einer Million Menschen. Zusammen mit Pastoren der Evangelischen Kirche, die der Bürgerrechtsbewegung Schutz und Raum boten, Gewaltfreiheit predigten oder, wie Friedrich Schorlemmer, das Wort von der «Wende» aufnahmen, das Egon Krenz für den SED-Führungsanspruch missbraucht hatte, und das deshalb jetzt steht für einen gewaltfreien Weg von der Diktatur zur bürgerlichen Demokratie: eine friedliche Revolution.

Es war im Vorfeld und im Umfeld dieser Entwicklung, in dem die SRG wie damals üblich eine Delegation von drei Journalisten aus der italienischen, der französischen und der deutschen Schweiz mit einem gemeinsamen Kamerateam nach Berlin sandte, um zu berichten von der Sitzung des Politbüros, von der wir nicht viel mehr erwarteten als die Entscheidung, wer wann die Nachfolge von Erich Honecker als Staats- und Parteichef der DDR antreten würde, vielleicht irgendwann im Frühling 1990. Journalistische Spekulationen, die im Sturm der Ereignisse schnell zerstoben.

Am Abend des 9. November 1989 habe ich vom Zimmer im Hotel «Metropol» in Ost-Berlin aus noch einen Telefonbericht gemacht für die Spätausgabe der «Tagesschau», irgendwann um 22 Uhr. Es war ein Bericht über eine trockene, realitätsferne Diskussionsrunde aller DDR-Parteien (ohne SED) in der Französischen Kirche in Ost-Berlin über die Zukunft ihres Staates. So sehr abgeschottet von der Realität draussen vor der Tür, dass nicht einmal eine Andeutung fiel über das, was da draussen vor sich ging. Und so war ich als Journalist für zwei Stunden Teil dieser politischen Ahnungslosigkeit.

Befreiung: In den Lichtern der Nacht

Irgendein journalistischer Instinkt hat mich aber dann noch einmal hinausgetrieben in die Nacht, zum Brandenburger Tor und zum Übergang am Checkpoint Charlie. Dort die Autoschlange der Ossies, die nach Westen fuhren, kurzer Wortwechsel mit dem Grenzwächter – «Ja, die fahren in den Westen… ja, die kommen wieder zurück», also zurück ins Hotel, die Kollegen von TSR und TSi und den Kamermann aus den Betten geholt, und wieder los zur Mauer, auf der Ostseite.

Dort standen sie noch: die letzten Grenzsoldaten, ratlos. Die Truppe bestand aus jungen Dienstpflichtigen: leicht zu steuern und für die Aufgabe der Grenzsicherung zu indoktrinieren gegen den Klassenfeind (wir würden sie «Rekruten» nennen).

Auf der Westseite brannte das Licht des bengalischen Feuers, und in diesem Gegenlicht waren die ersten schwarzen Gestalten hzu sehen, die Wessies, die von Westen her auf die Mauer kletterten. Unser Kameramann hat das alles so perfekt eingefangen, wie man nur konnte.

Es war der 10. November, kurz nach Mitternacht. Die Grenzübergänge waren schon vorher offen, am 9. November, abends, nachdem das Politbüro-Mitglied Günter Schabowski auf der Pressekonferenz gesagt hatte, die freie Ausreise sei möglich, «Das tritt…nach meiner Kenntnis ist das sofort…, unverzüglich…»

Dann, eine halbe Stunde nach Mitternacht, wurden die letzten Grenzsoldaten abgezogen, in Einerkolonne. Der Weg war frei. Der Tanz um das Brandenburger Tor konnte beginnen (tatsächlich, und die Tanzenden sangen: «Auf der Mauer, auf der Lauer, sitzt ne kleine Wanze»). Und die ersten Mauerkletterer halfen einander auf Händen über die Mauer. – Die Triumph- und Freuden-Bilder, die dann überall auf der Welt zu sehen waren, wurden sämtliche später gedreht, als die Teams der Anstalten und Korrespondenten in Berlin auch vor Ort eintrafen. Es waren praktisch alles Wessies, die da auf der Mauer triumphierten.

Die Ossies gingen durch die bekannten offiziellen Grenzübergänge, die nun offen waren. Dahin zogen wir – die Kollegen von TSR und TSI, der Kameramann und ich– weiter durch die Nacht, in der alles in Bewegung war, zum nahe gelegenen Grenzübergang an der Invalidenstrasse, wo die Grenzbeamten zu Verkehrspolizisten wurden. Dort habe ich den Schriftsteller Stefan Heym in der Menge entdeckt und mit ihm ein spontanes Interview geführt, das eigentlich schon alle Themen anspricht, die uns von damals bis heute beschäftigten: Soll die DDR ein selbständiger Staat werden? Wie soll der im Prinzip aussehen? Ist eine Wiedervereinigung zu erwarten?

Die Antwort der realen Politik kennen wir alle. Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte.

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Hier kann die Sendung von Robert Ruoff und seinen Kollegen als Video angeschaut werden. Sie dauert sechs Minuten.
Hier anklicken.

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*Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. C.H. Beck, München 2019. Kowalczuks Buch ist eine zuverlässige Stütze der eigenen Erinnerung oder eines neuen Einstiegs in die Geschichte der «Wiedervereinigung».


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Autor war bis 2004 Mitarbeiter von SRG/SRF.

Zum Infosperber-Dossier:

Frher

«So hatte ich es erlebt»

Die ältere Generation berichtet authentisch, wie sie wichtige Ereignisse früher persönlich erlebt hatte.

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4 Meinungen

  • am 9.11.2019 um 12:00 Uhr
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    Ich kann mich noch sehr gut an diese Nacht erinnern. Das, was Herr Ruoff hier schreibt und zeigt, ist das Beste, was ich in den vergangenen Tagen gesehen habe. Vielen Dank und alles Gute, Joseph Goldinger, Grandson

  • am 9.11.2019 um 12:29 Uhr
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    David Hasselhoff war auch dabei und sang an der gefallenen Mauer: „I‘ve been looking for freedom“. Nachzusehen in B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979–1989, 2015 ‧ Musik/Musikfilm ‧ 1h 32m, Regie: Mark Reeder

  • am 10.11.2019 um 11:52 Uhr
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    Na ja. Die Freiheit gewonnen und sogleich wieder verloren, würde ich sagen. Von der bürokratiegesteuerten «demokratischen» Mitwirkung zur «demokratischen» Mitwirkung, die auf Investitionsentscheide von Kapitaleignern angewiesen ist. Vom Karteikasten- «Staatsschutz» -Ost zum computerisierten «Staatsschutz» -West. Von sorgloser Arbeitsplatz- und Einkommensgarantie zum Zwang seine Arbeitskraft am Markt zu verkaufen, zu Arbeitslosigkeit und dem Zurückdrängen der Frauen an den Herd. Vom gesicherten, billigen Wohnraum einfachen Komforts für alle, zum Wohnungsmarkt mit stetig steigenden Mieten, die den Lohn auffressen. Von der Mauer dort, zu Mauern anderswo. Vom Grenzschutzdienst an der Berliner Mauer zum Grenzschutz an der Festung Europa. Von den Toten am Zaun, zu den Toten im Mittelmeer. Von der Militärparade in Ostberlin zum Kriegseinsatz in fremden Ländern. Etc. und so fort.

  • Portrait_Gnther_Wassenaar
    am 10.11.2019 um 23:55 Uhr
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    Ja die Mauer war weg – und gleichzeitig schwappten Politiker aller Parteien der BRD ins Land – machten Wahlkampf.

    So auch im Dezember 1989 in Karl-Marx-Stadt – ein Herr Kohl. Aus seiner Rede war zu erkennen, dass es wieder ein Groß-Deutschland geben würde. Ich informierte meine Kollegen darüber und ergänzte, dass es dann bald Krieg geben würde. Sie beschimpften mich als «Rote Socke» – aber Einige davon kamen später und fragten, wie ich das so klar habe voraussehen können.

    Erst gestern habe ich bei einer Schulung über Gewalt mit und unter Jugendlichen, darauf verwiesen, dass ich als Student, Ferienarbeit bei der Post ausgeführt habe. Zu der Zeit transportiete die Post der DDR noch ALLES – von Biefen, über Pakete, Zeitungen für die Kioske, lebende Tiere, sogar Urnen – aber auch Wert – sprich Geld. Bei einer dieser Fahreten, hatte ich 250.000 Mark im Auto – und das Auto war nicht mal abschleißbar. Darüber machte sich weder die Post noch machte ich mir selbst Gedanken darüber. Das Ausrauben von Geldtransporten gab es einfach noch nicht. Auch das gehört zur Lebensqualität, die wir in diesem Land hatten – in den Gebiet heute Frauen und Mädchen, oder selbst Männer nur bedingt in der Nacht auf die Straße gehen können.

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