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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Die unglaubliche Unglaublichkeit des Scheins

Daniel Goldstein /  Es ist unglaublich, was alles just diese Anpreisung bekommt. Und «unglaublich» soll keine Zweifel wecken, ob etwas zu glauben sei.

Was haben die Wichtigkeit der Ehe in Indien, die Erscheinung bzw. das Wissen zweier berühmter Dirigenten, das Dilemma der EU mit Tunesien, die Konstanz des Abstimmungsverhaltens beim Covid-Gesetz und die Kraft der Mutter eines Mordopfers – was haben sie miteinander zu tun? Genau: Sie sind alle unglaublich – oder wenigstens hat sie jemand öffentlich so bezeichnet, meist in einem Radiointerview.

Wollte man uns damit einladen, die Aussagen nicht zu glauben, wie es das Wort «unglaublich» ja nahelegt? Wohl kaum – eher war es eine Einladung, der Sache Glauben zu schenken, obwohl das schwerfallen mag. Vielleicht soll es in Zeiten der Fake News just ein Wahrheitsbeweis sein, etwas «unglaublich» zu nennen: Wer würde es schon wagen, etwas Erfundenes aufzutischen, das wirklich unglaublich ist, also gar nicht geglaubt werden kann? Oder aber: Das Wort ist schon so abgenutzt, dass sich kaum noch jemand fragt, ob es wörtlich gemeint sei; vielmehr nimmt man «unglaublich» als gesteigertes «sehr» wahr, das sich gar nicht auf die Glaubwürdigkeit der Aussage bezieht.

Unsportlicher Wettlauf

Wird «unglaublich» wirklich so viel häufiger gesagt als früher oder kommt es mir nur so vor? Das Digitale Wörterbuch dwds.de zeigt in einer Wortverlaufskurve, dass die relative Häufigkeit seit 1985 kontinuierlich ansteigt und sich in dieser Zeit etwa vervierfacht hat. Eine Stichprobe in der Schweizer Mediendatenbank SMD ergibt eine Verdoppelung innerhalb eines Jahrzehnts. Dabei lässt sich auch ablesen, welche Personen besonders oft in Verbindung mit Unglaublichem gebracht werden oder selber zu diesem Sprachbild greifen: Es sind vorab Sportsleute. In den frühen Zehnerjahren schaffte es sonst nur Christoph Blocher in die «top twenty», in den letzten zwölf Monaten waren es Wladimir Putin und Queen Elizabeth II.

Die Sportberichterstattung nimmt in den Medien gern eine Pionierrolle dabei ein, dick aufzutragen (vgl. «Sprachlupe» vom 28.7.2018). Auch für Anleihen beim Englischen ist sie bekannt. Könnte «unglaublich» seinen Rückenwind ebenfalls Amerika verdanken? Ein – unwissenschaftliches – Indiz dafür liefert Thomas Zurbuchen: Der zur ETH wechselnde ehemalige Nasa-Forschungschef hat das Wort in einem Tamedia-Interview gleich sechsmal verwendet. Etwas weniger frappant ist ein Blick auf die Wortstatistik von Google Books (Ngrams): Sie zeigt für «unbelievable» und «incredible» einen moderaten Anstieg ab 1990, ist aber nur bis 2009 verfügbar. Bis dahin reicht auch die Kurve für «unglaublich», zuletzt steil und vor allem: früher einsetzend als die englischen Pendants.

Modisch genau, immer wieder

Diese Wortmode dürfte also hausgemacht sein – genau wie «genau», das ich in den ersten Absatz hineingeschmuggelt habe, um Ihnen quasi auf die Schulter zu klopfen: Bravo, Sie hatten da bereits gemerkt, dass all die genannten Erscheinungen «unglaublich» waren. Dieser bestätigende Ausruf wird auf der ersten Silbe betont, anders als das gewöhnliche Adjektiv. «Génau» scheint mit landestypischer Verspätung in die Schweiz gelangt zu sein.

Sprachkolumnisten in Deutschland und Österreich spiessten diese Mode bereits vor etlichen Jahren auf, noch ohne auf den Akzent einzugehen; Altmeister Harald Martenstein fand sie sogar schon bei einem Vorgänger von 1958. Seither hat man gelernt, sich mit dem Wörtchen sogar selber auf die Schulter zu klopfen: Das habe ich jetzt aber gut gesagt. Unglaublich? Genau!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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Eine Meinung zu

  • am 29.07.2023 um 18:47 Uhr
    Permalink

    Mit Vergnügen lese ich Goldsteins «Sprachlupe». Mit Missvergnügen registriere ich, dass vor allem wenig gebildete Politiker und ebensolche Journalisten die Sprache zunehmend verhunzen. Da wird «abgesenkt», «abgemildert», «nachverfolgt», «zurückerinnert», «ausgetestet», «nachrecherchiert»; Prioritäten gibt es nicht mehr, nur noch «höchste» Prioritäten, es wird «optimiert», bis die Heidi wackelt, das «bürokratische Blähwort ‹insbesondere› » (Wolf Schneider) ersetzt das gute «besonders», es wird «aufaddiert», «auseinanderdividiert» und «aufsummiert», so dass «ich persönlich» (welche Tautologie!) als «Fachexperte» (da Germanist und Journalist) aus dem «finalen» Staunen gar nicht mehr herauskomme. Dazu kommt die DSS – die deutsche Stottersprache: «sehr sehr schnell» oder «ganz ganz wichtig», oder «richtig richtig gut». Offenbar erreicht die einfache Darstellung eines Sachverhaltes nicht mehr das Hirn des Rezipienten (denken zumindest die Sprach- und Sprechakrobaten). Genau!

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