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Demonstration vor der Stadtverwaltung von Madrid am internationalen Frauentag 8. März 2018 © unbekannt

Frauenrechte: Spanien zeigt, wie feministische Politik geht

Daniela Gschweng /  Von wegen Macho-Land - Spanien hat die vielleicht weiblichste Regierung Europas und macht entschieden progressive Politik.

1997 berichtete die 60-jährige Ana Orantes aus Granada in einem Fernsehinterview von den Misshandlungen durch ihren Ex-Mann, zwei Wochen später übergoss er sie mit Benzin und zündete sie an. Ein grausamer Einzelfall, fand die spanische Regierung.

2016 wurde beim jährlichen Stiertreiben in Pamplona eine 18-Jährige von fünf Männern in einem Hauseingang vergewaltigt und dabei gefilmt. Zwei Jahre später urteilte ein Gericht, dass es sich nicht um eine Vergewaltigung handle, weil sich die Jugendliche nicht gewehrt hatte.

Beide Vorfälle zeichnen ein Bild von Spanien, das längst nicht mehr stimmt. Und beide hatten weitreichende Konsequenzen. Der erste Vorfall führte zu mehreren Massnahmen in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt. Der zweite zu einem Gesetz, das Konsens beim Sex zwingend notwendig macht. Spanien ist inzwischen ein feministisches Vorreiterland, gleich nach skandinavischen Ländern wie Schweden.

«Nur Ja heisst Ja»

Ein Beispiel: «Catcalling», das in der Schweiz noch als Unart durchgeht, wird in Spanien seit Anfang Juni als sexuelle Belästigung bestraft. Pfiffe und anzügliche Bemerkungen sind kein angemessenes Verhalten, findet der spanische Gesetzgeber.

Mit demselben Gesetzespaket verabschiedete Spanien auch ein «Nur Ja heisst Ja»-Gesetz. Am 26. August stimmte das spanische Parlament endgültig dem Gesetz zu, nach dem sexuelle Übergriffe auch als Vergewaltigung gewertet werden, wenn sich das Opfer nicht wehrt.

Ein ganzes Bündel weitere Gesetze sind in Vorbereitung oder bereits verabschiedet. Sexistische Werbung für Kinderspielzeug ist beispielsweise seit März verboten. Demnächst wird Spanien bezahlte Krankheitstage für Frauen einführen, die unter starken Menstruationsbeschwerden leiden. Das ist bemerkenswert, in Spanien wird normalerweise erst ab dem vierten Tag Krankengeld bezahlt. Die «Pille danach» ist womöglich auch bald kostenlos.

Vorreiter in Europa und «feministischer Ausnahmezustand»

In den deutschsprachigen Medien machten vor allem dieser «Menstruationsurlaub» und das Catcalling-Gesetz Schlagzeilen. Dabei hat die Entwicklung der feministischen Innenpolitik in Spanien nicht erst in diesem Jahr begonnen.

2004 führte Spanien als erstes Land in Europa ein Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt ein – eine direkte Folge von Orantes Ermordung. Weitere folgten: Seit 2015 verliert ein gewalttätiger Mann beispielsweise das Sorge- und Besuchsrecht für gemeinsame Kinder. Andere Länder haben Nachholbedarf beim Kinderschutz,  wie er von der Istanbul Konvention vorgesehen ist und nur selten umgesetzt wird. Laut der «Zeit» prüft Spanien derzeit, ob auch zurückgehaltene Unterhaltszahlungen als Gewalt gelten können. 

Spanien gehört inzwischen zur feministischen Avantgarde, was auch einige Medien bemerkt haben. Die konservative Zeitung «Die Welt» diagnostizierte schon 2019 einen «feministischen Ausnahmezustand». Ein Wort für «Rabenmutter» gebe es im Spanischen nicht, stellte sie fest. Stattdessen gibt es bezahlte Elternzeit bis 16 Wochen nach der Geburt, der Partner kann zusätzliche Zeit nehmen. Danach werden viele Kinder fremdbetreut.

So viele Frauen in der Politik wie sonst fast nirgends

Ein Grund für die progressive Haltung Spaniens ist die aktuelle spanische Regierung und ihre Zusammensetzung. Nicht nur Ministerpräsident Pedro Sanchez tritt für ein «feministisches Spanien» ein. Sanchez ist Mitglied der Partido Socialista Obrero Espaniol (PSOE), die mit der Partida Unidas Podemos (UP) als Juniorpartner regiert und seit 2020 Spaniens erste Koalitionsregierung bildet.

42 Prozent der Parlamentsmitglieder sind weiblich. Die wichtigsten Ministerien sind mit Frauen besetzt, 15 von 23 Kabinettsmitgliedern sind weiblich. Es gibt ein Gleichstellungsministerium, geführt von der populären UP-Politikerin Irene Montero, die die meisten der neuen Gesetzesentwürfe zur Gleichstellung verfasst hat.

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Gleichstellung in Spanien: Frauen sind in Spanien gut repräsentiert, sie haben genauso oft einen akademischen Abschluss wie Männer, besetzen zwei Fünftel des Parlaments und der Gender Pay Gap liegt bei nur neun Prozent. Allerdings machen sie immer noch doppelt so viel Hausarbeit wie ihre Partner.

Die Genderforscherin Judith Goetz, die vom ORF befragt wurde, führt die Entwicklung in Spanien noch auf eine ganze Reihe anderer Faktoren zurück. Einer davon: Frauen sind nicht nur im spanischen Parlament gut repräsentiert, sondern auch in der Arbeitswelt.

Starke feministische Bewegung

In Spanien arbeiten 21 Prozent der berufstätigen Frauen Teilzeit, in den 19 Eurozone-Ländern sind es durchschnittlich 40 Prozent, fand «Die Zeit». Der Gender-Pay-Gap beträgt nur neun Prozent und ist damit halb so hoch wie in der Schweiz. Im Juni kündigte beispielsweise der spanische Fussballverband an, Nationalspielerinnen künftig gleich zu bezahlen wie ihre männlichen Kollegen.

Getragen wird diese Politik von einer starken feministischen Bewegung, die breiten Rückhalt hat, gut mobilisieren kann, viele Menschen auf die Strasse bringt und so Druck auf die Politik ausübt. Ministerinnen und andere Amtsträgerinnen nähmen ganz selbstverständlich an Demonstrationen zum Weltfrauentag teil, hat Goetz beobachtet.

Wer sich dieser Bewegung entgegenstellt, muss mit Widerstand rechnen. Als die konservative Regierung der Partida Popular (PP) 2012 die Abschaffung der Fristenlösung für Abtreibungen anstrebte, gab es so grossen Widerspruch, dass zwei Jahre später der Justizminister zurücktreten musste.

Von Franco bis Netflix

Spaniens feministische Protestkultur gehe zurück bis zu den Zeiten der Franco-Diktatur, erklärt die Genderwissenschaftlerin Goetze. Erst 1978, drei Jahre nach Francos Tod, wurde der Gleichheitsgrundsatz in die spanische Verfassung aufgenommen, vorher standen Frauen unter der Vormundschaft ihres Mannes.  

Bis sie sich im katholischen Spanien scheiden lassen durften, vergingen drei weitere Jahre. Der Einfluss der Kirche habe seitdem abgenommen, analysiert die «Berliner Morgenpost». Nur noch ein Drittel aller Spanierinnen und Spanier zahlten Kirchensteuer.

Gewalt in Beziehungen ist in Spanien kein Privatproblem

Das Verständnis von geschlechtsspezifischer Gewalt und der gesellschaftlichen Rolle von Frauen ist in Spanien aus diesen historischen Gründen anders als in der Schweiz oder in Deutschland. Sexualität, Familie und Partnerschaft werden nicht als ausschliesslich private Angelegenheit angesehen.

Gewalt in Beziehungen gilt in Spanien als gesellschaftliches und strukturelles Problem. Über Femizide wird prominent und landesweit berichtet, während deutschsprachige Medien noch immer von «Beziehungsdramen» titeln.

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Berichterstattung über einen Frauenmord in der deutschen Bildzeitung und im spanischen «El Confidencial»

Die Zahl der Anzeigen wegen geschlechtsspezifischer Gewalt steigt jedes Jahr. Ein gutes Zeichen, resümiert die Polizeikommissarin María-Jesús Cantos gegenüber der «Zeit». Die Dunkelziffer sinke und das Vertrauen in die Behörden steige.

2021 gab es in Spanien 47 Femizide, in der fünfmal kleineren Schweiz mindestens 17, genaue Zahlen werden nicht erfasst. In Deutschland mit knapp doppelt so vielen Einwohnern wie Spanien waren es 2020 schon 139. Fachleute halten diese Zahl für noch zu niedrig.

Auch in der Popkultur sei Feminismus angesagt, sagt Goetz. Namentlich bei Netflix, dessen Serien in Spanien oft «starke» Frauen porträtierten und Geschlechterrollen und -identitäten in den Fokus rückten. Zwei Drittel der unter 30-jährigen Frauen und ein Drittel der Männer gleichen Alters bezeichnen sich als Feministinnen und Feministen.

Die Sorge um den Backlash

Ein feministisches Utopia ist Spanien dennoch nicht. Frauen schultern noch immer einen grossen Teil der Care-Arbeit und machen täglich eine Stunde mehr Hausarbeit als Männer. Und manches Vorhaben erweist sich als nicht durchführbar: Einer Verringerung der Mehrwertsteuer für Tampons und Binden erteilte beispielsweise die Wirtschaftsministerin eine Absage – das sei schlicht zu teuer, fand sie.

Die Geschichte der Frauenbewegung Spaniens sei eine der Fortschritte und Rückschläge, sagt Judith Goetz zum ORF. Konservative Regierungen hätten in Spanien von jeher versucht, feministische Politik wieder rückgängig zu machen, teilweise mit Erfolg. Viele Feministinnen sorgen sich vor einen Backlash.

Politisch ist Spanien weiter in Bewegung. Nach dem eben überstandenen Corona-bedingten Wirtschaftseinbruch ist das Land durch hohe Energiepreise und Inflation belastet. Kritik gibt es auch am Umgang mit der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung.

Die wachsende rechtspopulistische Partei Vox will bei den nächsten Wahlen 2023 mit der konservativen PP Stimmen erobern. Konservative und Rechtspopulistenwürden dann als Erstes das Gleichstellungsministerium abschaffen, haben sie durchblicken lassen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 11.09.2022 um 22:20 Uhr
    Permalink

    Vielleicht sollte man bei dieser Gelegenheit die Staatsverschuldung des Landes anschauen. Diese steigt in immer Astronomischere Höhen. Wenn man jetzt diese Frauenfreundliche Politik so weiter betreibt wird die Bevölkerung irgendwann verarmen. In der Schweiz konnten wir durch immer mehr Abgaben und Steuern diese Sozialistischen Begehren befriedigen da es unserer Wirtschaft bis anhin immer wieder gelang noch mehr Geld zu verdienen. Aber Spanien hat kaum Möglichkeiten diese Ausgaben zu bezahlen, ausser durch noch mehr Schulden. Das wird sich irgendwann rächen.

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