Gewalt gegen Frauen

Gewalt gegen Frauen ist noch immer viel zu häufig, jedes Jahr endet sie für hunderte Frauen tödlich. © public-domain Gerd Altmann/Pixabay

Die Türkei tritt aus – und was leisten andere Länder?

Daniela Gschweng /  Frauen gehören geschützt, da sind sich die Unterzeichner der Istanbul Konvention einig. Ihre Umsetzung ist noch immer Nebensache.

Der Europarat sprach von «verheerenden Nachrichten», europäische Politiker von einem Angriff auf die Menschenrechte. In der Türkei protestierten tausende Menschen. Die Empörung war gross, als die Türkei im März aus der Istanbul Konvention austrat.

Vielen europäischen Bürgern war das Vertragswerk bis dahin eher ein vager Begriff. Die 2011 aufgelegte Istanbul Konvention ist ein verbindliches internationales Vertragswerk zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Von Stalking über Prävention bis Genitalverstümmelung deckt sie einen grossen Bereich von geschlechtsspezifischer Gewalt ab. Unterzeichner verpflichten sich, festgelegte gesetzliche und politische Voraussetzungen zu schaffen, um Frauen besser zu schützen.

Noch immer Nebensache

In der Türkei ist besserer Schutz von Frauen dringend nötig, das steht unzweifelhaft fest. Nach Angabe des Vereins «Wir werden Frauenmorde stoppen» wurden dort 2020 über 400 Frauen von Männern getötet, dieses Jahr sind es schon über 100.

Aber auch in anderen Ländern könnten die Dinge besser stehen. Obwohl Frauen die Hälfte der Bevölkerung darstellen, gibt es erschreckend viel tödliche Gewalt gegen sie, noch immer werden jedes Jahr hunderte Frauen von ihren Partnern getötet. Die Bekämpfung dieser Gewalt ist vielerorts noch immer Neben-, nicht Hauptsache.

Derzeit haben 33 Staaten inklusive der Schweiz die Istanbul Konvention ratifiziert, 12 weitere haben unterschrieben. In den meisten Ländern trat sie 2014 in Kraft. Gemessen an den Anforderungen sind viele nicht halb so weit, wie sie sein könnten. Erfolge gibt es, aber eher punktuell.

Grosse Sichtbarkeit, hohes Ansehen – aber viel zu tun

Das unabhängige Expertengremium GREVIO verfolgt die Umsetzung des Übereinkommens in den einzelnen Ländern. Im vergangenen Jahr legte es den ersten länderübergreifenden Report vor.

Bis 2020 hatten Albanien, Österreich, Dänemark, Monaco, Montenegro, Portugal, Schweden und die Türkei die erste Monitoring-Runde abgeschlossen. Noch nicht publizierte Berichte über Finnland, Frankreich, Italien, die Niederlande und Serbien gingen ebenfalls ein.

Das Vertragswerk geniesse ein hohes Ansehen bei Behörden, Frauenorganisationen und Opferverbänden, stellt GREVIO fest. Viele Länder hätten nun «höhere gesetzliche und politische Standards». Geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen sei mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.

Opfer frauenspezifischer Gewalt würden nun besser unterstützt. Fachkräfte, die mit Betroffenen zu tun haben, werden besser ausgebildet – der Report lobt Österreich und Schweden. Viele Mitgliedsstaaten des Europarates sollten jedoch mehr tun, um diese Gewalt zu beenden, fordert er.

Konkret: Stalking, konsensbasierte Sexualität, Zwangsheirat und Hotlines

Diese Aussage ist aus guten Gründen sehr allgemein gehalten. Im Monitoring-Prozess geht es oft um die Zuständigkeit einzelner Behörden und den Geltungsbereich von Gesetzen. Es gibt aber auch konkrete Kriterien, an denen sich Fortschritte festmachen lassen. Beispielsweise

  • wurde Stalking seit Inkrafttreten der Istanbul Konvention in mehreren Ländern strafbar.
  • haben sich in einer wachsenden Anzahl von Vertragsstaaten die Bestimmungen über sexuelle Gewalt in Richtung konsensbasierter Sexualität verschoben. Zum Nachweis einer Vergewaltigung muss in vielen europäischen Ländern aber noch immer nachgewiesen werden, dass der Täter Zwang angewendet hat. Artikel 36 der Istanbul Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten, alle nicht-einvernehmlichen Handlungen sexueller Natur unter Strafe zu stellen.
  • haben Länder, die Genitalverstümmelung nicht bestraften, einen Straftatbestand eingeführt. Das gilt auch für Zwangsheirat und erzwungene Sterilisation.
  • gibt es mehr Telefonhotlines, an die sich Opfer wenden können. In einigen Ländern sind sie aber nicht durchgehend erreichbar, nicht kostenlos oder nicht vertraulich.
  • gibt es Wegweisungen und Umgangsverbote, damit es nicht oder nicht erneut zu Gewalt kommt. In den überprüften Ländern sind diese aber oft von Gesetzes wegen lückenhaft oder unzureichend in der Umsetzung.

Zu wenige Anlaufstellen und Fokus auf häusliche Gewalt

Da endet aber auch schon fast der positive Teil. Allgemein liege der Fokus bei der Umsetzung der Istanbul Konvention eher auf häuslicher Gewalt, während es im Bereich sexueller und anderer Gewalt gegen Frauen an Anlaufstellen fehle, kritisiert GREVIO.

Anlaufstellen für Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt seien in ländlichen Gebieten oft kaum vorhanden. In mehreren Ländern, darunter in Albanien, Montenegro, Monaco und der Türkei, gibt es keine Krisenzentren für Vergewaltigungsopfer oder keine Anlaufstellen für Opfer sexueller Gewalt.

Diese Kritik betrifft so unterschiedliche Länder wie Albanien, Dänemark, Österreich und die eben ausgetretene Türkei. Gerade dort aber habe die Anzahl der Frauenhäuser «dramatisch» zugenommen. Albanien und Finnland haben die Mittel dafür erhöht.

Unterfinanziert, machtlos, zu wenig informiert

Das grösste Problem bei der Umsetzung der Istanbul Konvention ist die Finanzierung. In vielen Ländern fehlen den entsprechenden Stellen nicht nur Geld, sondern auch Kompetenzen und Personal. Wer gegen Gewalt angehen wolle, müsse Massnahmen auch unterstützen, fordert die Kommission. Projekte, die nach einiger Zeit auslaufen, seien ebenfalls nicht nachhaltig.

Wie wenig sich einige Länder um frauenspezifische Gewalt kümmern, zeigt auch die teilweise kümmerliche Datenerhebung. Die Konvention verlangt, dass mindestens Daten über Täter und Opfer nach Geschlecht, Alter, Art der Gewalthandlung und der Beziehung zwischen Tätern und Opfern gesammelt werden. Der Anteil der Verurteilungen bei allen geschlechtsspezifischen Formen von Gewalt gegen Frauen soll erhoben werden.

Die Realität weicht davon weit ab. Wenn Daten erhoben würden, dann oft von verschiedenen Stellen, die nicht zusammenarbeiteten. Fortschritte können so nicht erfasst, über notwendige Massnahmen kann nicht entschieden werden. Vor allem Daten über mitbetroffene Kinder fehlen.

Randgruppen sind am schlechtesten geschützt

Im Asylbereich wird geschlechtsspezifische Gewalt oft ausgeblendet. Kaum ein überprüftes Land dokumentiert den Asylstatus von Frauen, die wegen ihres Geschlechts Gewalt erfahren. Schweden, Finnland und Monaco haben ihr Asylgesetz so angepasst, so dass es Asylgründe wie Genitalverstümmelung, Flucht im Zusammenhang mit dem Brautpreis (Dowry) oder Menschenschmuggel einschliesst.

Angehörige marginalisierter Gruppen haben oft das Nachsehen, wenn sie Gewalt erfahren. Zu Frauen mit Suchtproblemen, Behinderungen, lesbischen Frauen, Transgender, Frauen in ländlichen Gegenden, Sans-Papiers, ethnischen Minderheiten wie Romnija und Samen oder Frauen im Asylsystem fehlen sowohl der Zugang als auch Daten. Die Frauen wiederum wissen über Hilfsangebote oft nichts. Ausnahmen gibt es, so hat Portugal eine Notunterkunft für Frauen aus der LGBT-Community gegründet.

Der Schutz von Kindern geht bisher unter

Von dieser Diskriminierung betroffen sind Frauen in allen Ländern, auch in Schweden und Dänemark, wo Sans-Papiers keinen Zugang zu Frauenhäusern und zum Gesundheitssystem haben. Frauen mit Behinderung oder mit Kindern, die Behinderungen haben, können die Einrichtungen oft nicht helfen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der in Ländern wie Albanien, Dänemark und Finnland verwendete geschlechtsneutrale Ansatz beim Umgang mit häuslicher Gewalt. Was sich nach Haarspalterei anhört, hat tatsachlich Folgen für die Schwächsten: Kinder, die in Konflikte verwickelt oder davon betroffen sind, werden zu wenig geschützt. Es wird meist im «besten Interesse» des Kindes gehandelt, was bedeutet, ihm unbedingt ein Umgangsrecht mit beiden Eltern zu ermöglichen. Der Entzug von Sorge- oder Umgangsrecht ist die Ausnahme. Der Schutz von Kindern sei auch auf mehreren anderen Ebenen unzureichend, kritisiert GREVIO.

Die Schweiz liegt bei der Umsetzung im Mittel  

Die von GREVIO dargestellte Lage in Europa ist in etwa auch in der Schweiz abgebildet, wo die Istanbul Konvention 2018 in Kraft trat und die Überprüfung gerade läuft. Es gibt keine ständig erreichbare Telefonhotline, die Gewaltopfer berät, Stalking ist in einigen Punkten anerkannt, «Nein» heisst vor Gericht nicht immer «Nein», Kompetenzgerangel zwischen Bund und Kantonen verhindert Teile der Umsetzung. Zudem fehle Geld für Präventionsprogramme, listen «Watson» und «humanrights.ch» auf.

Ausländerinnen haben in der Schweiz noch immer kein Recht auf einen eigenständigen Aufenthaltstitel, wenn sie sich von einem gewalttätigen Partner trennen. Wozu das führen kann, hat die «WOZ» in einem Artikel über eine Frau beschrieben, die seit Jahren um das Aufenthaltsrecht und ihre Kinder kämpft.

Strukturelle Gewalt? Naja, vielleicht ein bisschen

Dass Frauen Gewalt erfahren, weil sie Frauen sind, ist als Grundsatz nicht überall akzeptiert. «In einigen Gesellschaften behindert das fehlende Bewusstsein und/oder die völlige Leugnung dieses strukturellen Zusammenhangs eine effektive Umsetzung oder ist sogar Grund für das Scheitern der Konvention», fasst Feride Acar, die Präsidentin von GREVIO, zusammen.

Die Verbreitung falscher Narrative über den Sinn und Zweck des Vertragswerkes schränke die Arbeit zusätzlich ein. Behauptungen, die Istanbul Konvention propagiere die Homosexuellenehe oder bestimmte Formen der Sexualerziehung sind beispielsweise schlicht falsch.

Zuspruch finden diese Falschdarstellungen vor allem in konservativen Ländern und Organisationen wie den Kirchen, die das traditionelle Familienbild bedroht sehen. Dazu gehören auch Staaten, die strikte Abtreibungsgesetze haben, obwohl die Istanbul Konvention zum Thema Abtreibung keine Aussage macht, sofern Frauen nicht dazu gezwungen werden.

Der Zusammenhalt wackelt

Irrationale Ängste und «bestimmte innenpolitische Agenden» bremsten oder verhinderten Umsetzung und Ratifizierung, so Acar. Die Zustimmung zu einem wichtigen europäischen Vertragswerk, bei dem es um Leben und Wohlergehen hunderter Frauen geht, wackelt.

Einige Länder möchten «Gewalt gegen Frauen» eher als «Gewalt in der Familie» verstanden wissen. Polen beispielsweise will die Konvention durch einen Vertrag zur Familiengewalt ersetzen und sucht dafür Partnerstaaten. Ungarn, die Slowakei und Bulgarien tragen sich mit ähnlichen Absichten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

we_can

Gleiche Rechte für Frauen und Männer

Gleichstellung und Gleichberechtigung: Angleichung der Geschlechter – nicht nur in Politik und Wirtschaft.

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4 Meinungen

  • am 23.04.2021 um 11:22 Uhr
    Permalink

    Frauen gehören geschützt; aber gehören sie herausgehoben in ganz besonderer Weise ganz allgemein geschützt?
    Die polizeiliche Kriminalstatistik, zum Beispiel für die BRD, zeigt über zweieinhalb mal so viele männliche Opfer von Gewaltkriminalität wie weibliche. Bei Mord,Totschlag und Tötung ist das Verhältnis doppelt so viele männliche Getötete wie weibliche. Zwei von drei Tätern sind Männer, und diese Gewalt richtet sich auch überwiegend gegen Männer.
    Gewalt gegen Männer ist gesellschaftlich tabuisiert, da sie dem Stereotyp als starkes Geschlecht widerspricht, und wird deshalb vielfach gar nicht angezeigt.

  • alex_nov_2014_1_3_SW(1)
    am 23.04.2021 um 18:49 Uhr
    Permalink

    @Ulf Cihak Bei der Istanbul Convention geht es speziell um systemische Gewalt. Das heisst, Gewalt, die Frauen nur deshalb erfahren, weil sie Frauen sind. Das betont Acar nicht ohne Grund. Die Zahl der Männer, die wegen einer Trennungsabsicht von ihren Frauen ermordert werden, dürfte weltweit beispielsweise sehr, sehr klein sein.

  • am 24.04.2021 um 13:27 Uhr
    Permalink

    @Daniela Red. aber gerade das – nur die Gewalt gegen Frauen als systemische Gewalt zu definieren und deshalb besonders herausgehoben zu schützen – kritisiere ich.
    In Kriegen und kriegerischen Konflikten gibt es zwar auch zivile und darunter weibliche Opfer, aber alle zivilen Kriegsopfer sind durch die Genfer Konvention geschützt, und zwar (soweit ich weiß) geschlechtsunabhängig, was ich für richtig halte. Auch die Haager Landkriegsordnung ist geschlechtsneutral formuliert, obwohl die weitaus überwiegende Zahl der kriegsführenden Kombattanten männlich sein dürften. Ist das nicht «systemisch»?
    Was spricht dagegen, auch eine allgemeine Gewaltkonvention wie die Istanbulkonvention geschlechtsneutral zu formulieren, auch wenn zur Zeit die überwiegende Anzahl der sexualisierten Tatopfer Frauen und die überwiegende Zahl der Sexualtäter Männer sind? So wie es jetzt ist, wird diese pauschalisierte Vorverurteilung für alle Zeiten festgeschrieben; was richtet diese Pauschalzuschreibung bei unseren Kindern und insbesondere den männlichen Jugendlichen an, welche sich ohne jede persönliche Schuld gruppenbezogen als Täter vorverurteilt sehen?

  • am 18.08.2021 um 11:37 Uhr
    Permalink

    Da gebe ich @ Ulf Cihak recht. Stichwörter wie Massenmord Srebrenica – 8000 Knaben und Männer! ..oder IS Massenerschiessungen von Soldaten und Polizisten, (trugen verbotene Kleider)…..
    Ehrlich, da bekommt das Adjektiv «systemisch» seinen brutaleren Zusatz: «Systematisch». Und auf Ihrem Schlachtenbild (Fontane zum russisch-afghanischen Krieg): keine einzige Frau. Dafür dann wieder in der Zeitung: Hauseinsturz! 12 Tote, darunter eine Frau…! Mittlerweile wird jeder Mord an einer Frau von banalen Medien und VereinfacherInnen als Femizid bezeichnet, bald werden Unfalltode von Frauen gleich gewertet..! Gewalt gegen Männer ist gesellschaftlich tabuisiert, wie Herr Cihak sagt.

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