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Präsident Erdogan schliesst 45 Zeitungen und 16 TV-Sender © pi

Türkei: Erdogans «Säuberungen» gehen weiter

Amalia van Gent /  Nach Soldaten, Richtern und Lehrern geht Erdogan nun gegen Intellektuelle und Journalisten vor. Dutzende Medien werden geschlossen.

Keine zwei Wochen ist es her seit jener Nacht, als auf den Strassen Istanbuls und Ankaras Panzer rollten; seitdem ist die Türkei ein fundamental anderes Land. Der «gescheiterte Putschversuch», wie die Ereignisse vom 15. Juli genannt werden, hat jahrzehntealte innen- und aussenpolitische Konstanten erschüttert. «Des Türken einziger Freund ist der Türke» war ehemals ein Schlagwort der Rechtsnationalisten. Heute ist dieser Spruch in aller Munde.
Fast alle sehen Gülen als Drahtzieher
«Hat der Westen überhaupt verstanden, welcher Gefahr die Türkei ausgesetzt war?», empörte sich vor kurzem der Journalist Mustafa Akyol. Akyol versteht sich als muslimisch-liberaler Intellektueller, und er trat als solcher schon immer ein für eine engere Anbindung der Türkei an die EU, an den Westen allgemein. Dass westliche Regierungen sich nicht gleich nach dem Putschversuch bedingungslos hinter den türkischen Präsidenten gestellt haben, macht ihn wütend. Wie die meisten noch zugelassenen Medien ist auch Akyol davon überzeugt, dass Teile der türkischen Streitkräfte versucht haben, den Präsidenten und die Regierung zu stürzen. Und wie Präsident Erdogan glaubt auch Akyol, dass der in den USA residierende Prediger Fethullah Gülen der wahre Drahtzieher des Putschversuchs ist.
Gemäss offiziellen Angaben sind bis heute 8133 Armeeangehörige festgenommen und weitere 1684 aus dem Dienst entlassen worden. Unter den Verhafteten sind mindestens 124 Generäle und Admirale, «das sind 35 Prozent aller Generäle und Admirale der türkischen Streitkräfte», schrieb im internet-Portal «Al-Monitor» Kadri Gürsel, ein Ex-Militärberater der regierenden AKP-Partei. Laut Gürsel sollen sich «in gewissen Rängen» gar die Hälfte der Streitkräfte mit den Rebellen vereinigt haben. «Und das ist keine Übertreibung!»
Seit bald zwei Wochen wird die öffentliche Meinung der Türkei täglich mit Details über Stärke, Pläne und Motive der vermeintlichen Drahtzieher des Putsches bombardiert. Nur die Wenigsten dürften allerdings in der Lage sein, zu beurteilen, was wahr und was das Produkt einer hemmungslosen Propaganda-Maschinerie ist. «Bis zu 95 Prozent der Bevölkerung glaubt gemäss einer letzten Umfrage, dass Fethullah Gülen hinter dem gnadenlosen Putschversuch» stehe, erklärte Energieminister Berat Albayrak. Albayrak müsste allerdings wissen, dass nach den grossen «Säuberungen», welche in den letzten Monaten in den türkischen Medien konsequent durchgeführt wurden, rund 80 Prozent aller Medienerzeugnisse regierungs- oder Erdogan-treu sind. Und da ist nur die eine Meinung zu lesen, zu sehen, zu hören.
Wachsende anti-westliche Stimmung
Was in den Medien aber erscheint, heizt die Wut, den Nationalismus und den Hass der Bürger nur an: Die Regierungen und Medien in den USA und in der EU hätten auf die Ereignisse vom 15. Juli so reagiert, als wären sie «geradezu enttäuscht, dass der Putsch gescheitert ist», schrieb der bekannte Kommentator Murat Yetkin in der oppositionellen Tageszeitung «Hürriyet». Wie Akyol ist auch der konservativ-liberale Murat Yetkin davon überzeugt, dass der Westen sein Land in dieser schwierigen Situation allein gelassen habe.
Die stramm regierungstreuen, islamistischen Medien führen indessen freimütig den Putschversuch auf die USA und die Nato zurück. Die «sogenannten Alliierten» hätten den Coup d’Etat eingefädelt, um den «aufmüpfigen» türkischen Präsidenten umzubringen, heisst es. Diese Meinung wird mal offen und dann wieder verdeckter von zahlreichen Regierungsmitgliedern bestärkt. «Die USA wissen, dass Fethullah Gülen der Drahtzieher war», sagte etwa Justizminister Bekir Bozdag in einem Fernsehauftritt. «Barack Obama weiss es, und ich bin davon überzeugt, dass die amerikanische Geheimdienste es auch wissen.»
Ankaras Beziehungen zu den USA sind angespannt wie selten zuvor in der Vergangenheit. Sie werden zusätzlich belastet, weil Ankara mit Nachdruck von Washington die Auslieferung Gülens an die Türkei fordert. Gülen lebt seit 1999 in Pennsylvania. US-Aussenminister John Kerry hat nach dem Putschversuch immer wieder beteuert, seine Regierung würde ein entsprechendes Gesuch der Türkei prüfen, allerdings müsste Ankara eindeutige Beweise vorlegen, dass Gülen in den Putsch verwickelt war. «Die werden sie bald erhalten, denn die Festgenommenen haben begonnen, wie Kolibri-Vögel zu singen», sagte spöttisch Regierungschef Yildirim Binali. Er könne aber kaum verstehen, warum die USA «dieses Individuum» nicht ausliefern wollten.
Annäherung an Putin
Die amerikanische Regierung steht vor einem Dilemma. Liefert sie Gülen an die Türkei aus, ist das Schicksal des 75-Jährigen besiegelt. Verweigert sie hingegen die Überstellung, droht der Bruch mit einem der wichtigsten Verbündeten in der Region. Seit 1952 ist die Türkei treues Mitglied der Nato. Zum ersten Mal scheint es aber, als würden sich die zwei Alliierten nicht mehr gegenseitig vertrauen oder verstehen.
Ankara kündigte inzwischen den Besuch Erdogans für den 9. August in St. Petersburg an. Putin und Erdogan wollten sich gegenseitig beraten, hiess es. So erwartet Washington eine Zuspitzung in den bilateralen Beziehungen. Seit Beginn dieser Woche dürfen Familienmitglieder von amerikanischen Diplomaten und Botschaftsbeamten aus Ankara ausreisen. Wie es in einer Erklärung der US-Botschaft sibyllinisch hiess, könnte «während des Ausnahmezustands eine Zunahme von Polizei- oder Militäraktivitäten und infolgedessen eine Restriktion der Bewegungsfreiheit folgen».
Fassungslose EU
Fassungs- und ratlos beobachtet auch die EU, wie seit dem 15. Juli der Rechtsstaat in der Türkei Tag für Tag ausgehöhlt wird. Am 20. Juli hat Präsident Erdogan den Ausnahmezustand ausgerufen. Dieser ermächtigt den Präsidenten, für die nächsten drei Monate mit Dekreten alleine zu regieren. Seine Verordnungen, die sofort Gesetzeskraft haben, können weder vom Verfassungsgericht aufgehoben, noch vor dem Europäischen Gerichtshof angefochten werden. Denn die europäische Menschenrechtskonvention wurde für drei Monate ebenfalls ausgesetzt.
Das erste Dekret nach der Ausrufung des Ausnahmezustands hat die Zeit, in der Verdächtige ohne Anklage inhaftiert werden dürfen, von 48 Stunden auf 30 Tage erhöht. «Ein 30-tägiger Gewahrsam läuft automatisch auf Folter hinaus», erklärte der Vorsitzende der pro-kurdischen DHP, Selahaddin Demirtas. Er müsste es wissen. Denn der kurdische Südosten der Türkei hatte nach 1986 fast zwanzig Jahre lang im Ausnahmezustand gelebt.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warnte Anfang dieser Woche vor einer akuten Folter-Gefahr in den Haftzentren: Es gebe «glaubwürdige Hinweise», wonach Menschen, die nach dem gescheiterten Putschversuch in Haft sässen, schwer misshandelt würden, sagte Europa-Direktor John Dalhuisen. Folter, Schläge, gar Vergewaltigungen gehörten dazu. Er rief die türkische Regierung auf, diese «abscheulichen Praktiken» sofort zu stoppen und unabhängigen Beobachtern den Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, in denen Verdächtige festgehalten werden.
Insgesamt wurden bislang 13’165 Personen festgenommen. Dass das erste Dekret neben einer Verlängerung der U-Haft auch Behördenvertretern ermöglicht, bei Treffen von Verdächtigen und Anwälten anwesend zu sein und von den Gesprächen Ton- oder Videoaufnahmen zu machen, lässt allerdings nur Ungutes für diese Menschen erahnen. Jedes «Recht auf ein faires Gerichtsverfahren» werde damit unterlaufen, so Amnesty International.
Zerstörte Existenzen
Hilflos sieht ein Teil der Bevölkerung, wie seit dem 15. Juli die Grundlage seiner Existenz restlos zugrunde gerichtet wird. Rund 66’000 Soldaten, Polizisten, Beamte, Richter, Wissenschaftler und Lehrer wurden suspendiert, 1700 Dekane staatlicher und privater Hochschulen zum Rücktritt aufgefordert und fünf Rektoren verhaftet, ohne dass Beweise für ihre vermeintliche Nähe zur Bewegung von Gülen vorgebracht worden wären. Wegen ihrer vermeintlichen Nähe zu Gülen, wurde die Schliessung von 1043 Privatschulen und Studentenwohnheimen, 15 Universitäten, 1229 Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen sowie 35 medizinischen Einrichtungen angekündigt. «Was soll mit den Schülern und Patienten wohl passieren?», fragte der liberale Journalist Yavuz Baydar. Es sind Fragen ohne Antworten.
Rund 40’000 Lehrer werden ihren gelernten Beruf lebenslang nicht mehr ausüben können. Denn das soeben erlassene Dekret sieht vor, dass sie zeitgleich mit ihrer Suspendierung auch ihre Berufslizenz verlieren.
Hetzjagd auf Akademiker und Journalisten
Diese Woche begann eine Hexenjagd auf Akademiker und Intellektuelle; Dutzende wurden festgenommen, andere suspendiert – auch da nur noch zerborstene Träume.
Am Mittwoch dann der Schlag gegen die Presse: Per Dekret ordnete die türkische Regierung an, 45 Zeitungen und 16 Fernsehsender zu schliessen. Zudem werden drei Nachrichtenagenturen, 23 Radiosender, 15 Zeitschriften und 29 Verlagshäuser geschlossen.
Am Mittwoch wurde Alpay Sahin in Handschellen aus seinem Haus geholt. Der 72-jährige, weltoffene Soziologieprofessor war nicht nur bei seinen Studenten beliebt, sondern dank seiner Sprachkenntnisse auch bei ausländischen Akademikern und Journalisten. «Meine Seele schlägt immer noch für die europäische Sozialdemokratie», sagte er mir in einem Gespräch. Nach der Jahrhundertwende beschloss er aber, die Reformer in der Bewegung des politischen Islam zu unterstützen, weil er fest davon überzeugt war, dass nur sie in der Lage wären, die Moderne in der Türkei einzuführen.
Fast zur selben Zeit wie Alpay wurde auch die scharfzüngige Nazli Ilicak festgenommen. Grossbürgerlich im Haus des Besitzers der konservativen Tageszeitung «Tercüman» aufgewachsen, lernte Ilicak in jungen Jahren mit Sprache und Politik umzugehen. Wie Soziologie-Professor Alpay glaubte auch Ilicak, dass das «ideologische Korsett der Kemalisten allzu eng» geworden sei und dass die Türkei einen fundamentalen, politischen Wechsel brauche. Sie wurde als Parlamentarierin der ersten islamistischen Regierung der Türkei gewählt. Nun sitzt die heute 72-Jährige hinter Gitter.
Die regierungsnahe Zeitung Sabah veröffentlichte indessen eine Liste von Journalisten und Wissenschaftlern, die angeblich Gülen unterstützen. Darunter sind die linke Schriftstellerin Perihan Magden, die links-liberalen Hasan Cemal und Murat Belge, die Autorin des britischen Magazins Economist Amberin Zaman, die sich zwar besonders gut in der Kurdenfrage des Nahen Ostens auskennt, mit Islamisten aller Art aber nichts anfangen kann, der ebenfalls liberale Wissenschaftler und Menschenrechtler Cengiz Aktar. Allesamt handelt es sich um Menschen, die ich als langjährige Berichterstatterin in Istanbul als Freunde und Bekannte oder einfach aufgrund ihres Wissens tief respektiere.
«Gut, wir sind vor einem Militärputsch bewahrt worden», sagte Can Dündar, der ehemalige Chefredakteur der Tageszeitung Cumhuriyet, dem Guardian gegenüber. «Wer aber schützt uns nun vor einem Polizeistaat?» Der Name des überzeugten Kemalisten Can Dündar steht offenbar auch auf Liste der Journalisten, die nun per Haftbefehl gesucht werden.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Amalia van Gent war von 1988 bis 2009 Türkei-Korrespondentin der NZZ und beschäftigt sich seither intensiv mit dem Kurdenkonflikt. Im Rotpunktverlag ist ihr Buch «Leben auf Bruchlinien – die Türkei auf der Suche nach sich selbst» erschienen.

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3 Meinungen

  • am 29.07.2016 um 15:45 Uhr
    Permalink

    Werden die Waffenlieferungen der Schweiz nach der Türkei nach den Säuberungen jetzt eingestellt? Den anderen autokratischen im Nahen Osten, Katar, Saudiarabien, den Emiraten werden sicher weiter Rüstungsgüter geliefert, auch Pakistan. Auch die Nato Staaten, die immer wieder Kriege führen, werden weiter gute Kunde der Schweizer Rüstungsindustrie bleiben. Obwohl: Kriegsmateriallieferungen an Staaten die Kriege führen, sind nach der Kriegsmaterialverordnung klar verboten. All die Waffenlieferungen heizen Konflikte an, produzieren Flüchtlinge, die bei uns gar nicht willkommen sind. Wie werden wir die türkischen Flüchtlinge empfangen, die versuchen werden sich in der Schweiz vor der Verfolgung in der Türkei zu retten?

  • am 29.07.2016 um 17:33 Uhr
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    In der Zwischenzeit wurde gemeldet, dass Erdowahn all diese Entlassenen auch enteignet hat, Presse, Soldaten, Lehrer, Professoren, whom ever. Und alle Anhänger seines Gülen Gegners werden noch als Terroristen geführt und deren Auslieferung verlangt.
    Und sowas am helllichten Tag, vor unser aller Augen und Ohren und niemand findet die Mittel und den Mut, das zu stoppen: alle Verträge mit ihm kündigen, EU-Mitgliedschaft und UN und Visaerleichterungen und Finanzhilfen, Schluss, aus und fertig – einen Punkt machen, besonders Mutti. Hitler liess man auch machen, weil es keiner und keine glauben konnten, was sich da anbahnte – das hat uns ein halbes Jahrhundert gekostet, aber wenigstens die EU gebracht.
    Hans-Xoph von Imhoff,

  • am 30.07.2016 um 18:38 Uhr
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    Alles für ein neues Islamisches Reich? Von Istanbul bis Mekka.

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