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«Wir sagen Ja!»: Enthusiastische Erdogan-Anhänger bei der Eröffnung der Ja-Kampagne © ard

«Manifestation einer Diktatur»

Amalia van Gent /  Der Abstimmungskampf für Erdogans Alleinherrschaft ist lanciert. Ob das Volk der Verfassungsreform zustimmen wird, ist ungewiss.

«Türkiye, Quo vadis?» Yusuf Kanli, ein altgedienter Redaktor der konservativen türkischen Tageszeitung «Hürriyet», sucht Antworten auf diese Frage, indem er die gegenwärtige Situation mit der jüngeren Vergangenheit seines Landes vergleicht: Zwei Jahren nach ihrem Putsch legten die türkischen Generäle 1982 dem türkischen Volk eine Verfassung vor, die den Staat allmächtig machen und die Bürger entmündigen sollte. Dennoch nahm das Volk jene Verfassung mit 92 Prozent der Stimmen an. Abertausende Verhaftungen nach dem Militärputsch 1980, systematische Folter, willkürliche Entlassungen von Akademikern und zahllose Prozesse der Militärjustiz hatten bei Türkinnen und Türken Spuren hinterlassen. Die Angst sass tief im Kollektivbewusstsein der Menschen. Dass die Ja-Stimmzettel blau waren und in den Wahlcouverts deutlich von den Nein-Zetteln zu unterscheiden waren, trug wohl erheblich zum Abstimmungsergebnis von 92 Prozent bei.
Repressionen wie vor 25 Jahren
25 Jahre später stimmt die Türkei erneut über eine neue Verfassung ab, die jene der Generäle ersetzen soll. Die Abstimmung vom 16. April 2017 findet in einem Land im Ausnahmezustand statt. Der Rechtsstaat hat faktisch aufgehört zu existieren. Es gibt viele Parallelen zwischen damals und heute. Nach ihrem Coup d’Etat 1980 liessen die Generäle gleich Hunderterttausende ihrer Opponenten, meist Gewerkschaftler und Anhänger politischer Bewegungen, verhaften. Im Juli 2016 hat die Regierung in Ankara den Putschversuch zum Anlass genommen, um «ihre» Opponenten loszuwerden. In einer beispiellosen Säuberungswelle sind inzwischen weit über 100’000 Personen vom Dienst suspendiert und/oder festgenommen worden. Noch sitzen rund 40’000 Personen hinter Gittern – darunter Richter und Staatsanwälte, höhere Staatsangestellte und Diplomaten, Offiziere und Polizeichefs, gewählte Politiker sowie zahllose Intellektuelle. Rund 4000 Akademikern wurde seit vergangenem Juli der Lehrauftrag an den Universitäten gekündigt. Mehrere Fächer können nur teils oder gar nicht mehr gelehrt werden. Auch die Generäle schlossen 1980 die besten Köpfe der Nation von den Hochschulen aus und holten zum geistigen Kahlschlag aus. Damals wie heute wurde die Presse gleichgeschaltet.
Patrioten und Landesverräter
Es gibt aber auch klare Unterschiede: Zu Beginn der 1980er-Jahre gärte der Kurdenkonflikt unterschwellig, heute ist er in einen ausgewachsenen Krieg ausgeartet. Damals trauten sich die Generäle zu, die Türkei im Alleingang vom «ideologischen Unkraut», wie sie ihre Opponenten nannten, säubern zu können. Heute versucht die Regierung, den Kahlschlag breit abzustützen. Nach dem Putschversuch hat die türkische Regierung die Nation in «Patrioten» und in «Landesverräter» sowie «Terroristen» gespalten. Immer wieder ruft sie ihre Anhänger (die «Patrioten») auf, die Nation vor den Verrätern zu schützen. Noch geht die Rechnung auf. Die Regierung kann auf die Unterstützung eines beachtlichen Teils der Massen zählen: Andersdenkende werden heute in der Türkei schamloser denunziert, aus ihrer Arbeit vertrieben und sozial ausgegrenzt, als je zuvor.
Auf dem Weg zur Alleinherrschaft
Ein wichtiger Unterschied betrifft auch die Verfassung selber: Die Verfassung der Generäle bezweckte, das politische System des Landes der Kontrolle der Armee zu unterstellen. Erdogans Verfassungsreform will hingegen die parlamentarische Demokratie abschaffen, die in der Türkei im Jahr 1945 eingeführt wurde. An deren Stelle soll ein «Präsidialsystem» treten, in dem der stärkste Mann im Staat, Präsident Recep Tayyip Erdogan, allein das Sagen hat.
Die Türkei sei ein lustiger Ort – wenn man nicht dort leben müsse, behaupten türkische Kollegen gelegentlich. Tatsächlich verfügt Präsident Recep Tayyip Erdogan über einen interessanten Humor: «Endlich wird die Türkei ihre Fesseln abschütteln», sagte er zur Verfassungsreform. Er räumte zwar ein, dass die Reform eine gewisse Machtkonzentration aufweise. Dies geschehe aber nur «um mögliche Meinungsdifferenzen an der Staatsspitze zu meiden». Wohl wahr: Wenn ein und derselbe Mann alles bestimmt, dann braucht es an der Staatsspitze keinen Streit mehr zu geben. Die vorgesehenen Machtbefugnisse des Präsidenten sind umfassend:

  • Gemäss Verfassungsreform ist der Präsident Oberbefehlshaber der Armee.
  • Er darf Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, den Ausnahmezustand im Land ausrufen und das Parlament jederzeit auflösen.
  • Der Präsident ist gleichzeitig Vorsitzender der Exekutive; er ernennt die Minister und die hohen Staatsbeamten und er legt den Staatshaushalt vor.
  • Der Präsident darf den Parteivorsitz beibehalten und als Parteivorsitzender künftig bestimmen, wer Abgeordneter seiner Partei wird.
  • Der Präsident nimmt ferner direkten Einfluss auf die Justiz; er darf die Hälfte der Mitglieder des «Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte» ernennen oder nach seinem Gutdünken absetzen.
  • Das Parlament verliert seine Funktion als Legislative und als Kontrollinstanz der Exekutive. Künftig darf es kein Vertrauensvotum stellen und keine parlamentarische Anfrage. Es verkommt somit zu einer beratenden Instanz.

«Für eine starke Türkei von morgen»
«Wir sagen Ja!» rief Regierungschef Binali Yildirim am 25. Februar an einer Grossveranstaltung zum Auftakt der Abstimmungskampagne in Ankara seinen Landsleuten zu. Und Tausende von Anhängern der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) skandierten zurück: «Millionen Ja für eine starke Türkei von morgen». «Das neue System wird dem Terror ein endgültiges Ende setzen», so Yildirim weiter: «Warum, glaubt ihr, führen die Terrororganisationen PKK, ISIS und FETÖ die Nein-Kampagne an? Etwa für nichts?»
Wie in den Wochen zuvor brandmarkte der Regierungschef einmal mehr alle «Nein-Sager» inidirekt als vermeintliche Anhänger der Terroristen – und als Landesverräter. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) gilt türkischen Nationalisten als Feind Nr. 1. FETÖ wurde zum Oberbegriff für die Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, dem angeblichen Urheber des gescheiterten Putsches im Juli 2016. «PKK und FETÖ sagen Nein, weil das neue System ihre Lebensader durchschneidet», setzte Yildirim seine Rede in unverminderter Lautstärke fort. Es dürfte wohl keinen anderen Regierungschef geben, der so enthusiastisch für seine eigene Abschaffung plädiert – das neue System kommt ohne das Amt des Premierministers aus.
Die Begeisterung im Sportstadion war kaum zu bändigen: «Für vollständige Freiheit» brüllten die Menschen und «für die Stabilität unseres Staates: natürlich Ja». Die Sozialdemokratische CHP, die grösste Oppositionspartei des Landes, sprach hingegen von der «Manifestation einer Diktatur».

Es könnte knapp werden

Beobachtet man die jüngsten Umfragen, ist man geneigt zu glauben, dass die Türkei tatsächlich ein «lustiger Ort» ist: Eine von der renommierten Universität «Kadir Has» Ende letzten Januar veröffentlichte Studie ergab, dass 65 bis 70 Prozent der Wähler den Block der sogenannten «Konservativen, Religiösen und Nationalisten» ausmachen. Dieser Block setzt sich aus der regierenden AKP und der rechtsnationalistischen MHP zusammen. Erst die Allianz beider Parteien ermöglichte, dass die Verfassungsreform im Parlament eine Mehrheit fand. Ein Ja beim Referendum schien deshalb sicher. Dennoch sagen die jüngsten Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus – die Arithmetik spielt irgendwie nicht mehr mit. Was ist geschehen?
Das Nein-Lager setzte sich bis vor kurzem aus der sozialdemokratischen CHP und der pro-kurdischen HDP zusammen. Beide zusammen machten gemäss der Studie der Kadir Has-Universität aber bestenfalls 35 Prozent der Wähler aus.
Es war aber ausgerechnet die Allianz der regierenden AKP mit der rechtsnationalistischen und antikurdischen MHP, die im Südosten des Landes das Ja-Lager geschwächt hat. Die konservativen Kurden, denen die HDP zu radikal war, hatten bislang für die AKP gestimmt. Sie bewunderten Erdogan. Wegen dessen Schulterschluss mit den Ultra-Nationalisten scheinen sie erstmals der Regierungspartei den Rücken zu kehren und sich, wenn auch im Stillen, dem Lager der Nein-Sager anzuschliessen.
Dem Nein-Lager schlossen sich neuerdings aber auch Dissidenten der MHP an. Dazu gehört die gut organisierte Jugendorganisation der rechsextremen «Ülkü Ocaklari». In diesen kafkaesk anmutenden Tagen verkörpern ausgerechnet konservative Kurden und ein Teil der Rechtnationalisten die Hoffnung in der Türkei, dass Erdogans autokratische Verfassung nicht durchkommen wird.
Unfairer Abstimmungskampf
Diese neue Arithmetik erklärt, weshalb der Abstimmungskampf immer härter und nicht nur fair ausgetragen wird. Das zeigte sich, als der obskure Mafia-Boss und Erdogan-Bewunderer Sedat Peker sich einmal mehr zu Wort meldete. Er werde die «Nein-Sager» auf der Strasse erwarten, kündigte er öffentlich und bislang ungestraft an. Was das bedeutet, erfuhr eine junge CHP-Abgeordnete, die gleich nach ihrem TV-Auftritt, wo sie für ein Nein plädierte, telefonisch Morddrohungen erhielt und von einer Polizei-Eskorte nach Hause begleitet werden musste.
Das zeigte sich ferner in der südostanatolischen Provinz Sirnak, wo Staatsbeamte den Wählern offenbar drohten, ihre Wohnviertel dem Erdboden gleichzumachen, sollten sie Nein stimmen. Das zeigt sich schliesslich auch in Deutschland und anderswo in Europa. Hier erhalten oppositionelle türkische Journalisten, die nach dem gescheiterten Putsch geflohen sind, massenweise Morddrohungen und Hass-Mails. «Glaubt nicht, ihr könnt sie schützen», stand in einer E-Mail, die vor kurzem in der deutsche und französische Botschaft in Ankara einging.
Willkommen im Abstimmungskampf, der «vollständige Freiheiten» verspricht und bereits auch in Westeuropa angekommen ist.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.

Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • Helmut_Scheben_310
    am 28.02.2017 um 12:58 Uhr
    Permalink

    Sehr gute Analyse, die einen detaillierten Überblick über die Lage in der Türkei verschafft.

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