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Tausende Argentinier protestieren in Buenos Aires gegen den harten Sparkurs von Präsident Milei. © France24/Youtube

Süd- und Mittelamerika: Was in vielen unserer Medien unterging

Romeo Rey /  Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von Tages-Anzeiger und Frankfurter Rundschau, fasst die jüngste Entwicklung zusammen.

Romeo Rey
Romeo Rey

Wie schon in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise von 1929 und später im Kalten Krieg versucht sich der Subkontinent zwischen den grossen Machtblöcken zu orientieren. Auf der einen Seite stehen Länder wie Chile, Brasilien, Kolumbien, Mexiko, Honduras und Guatemala. Nach langen Jahren konservativer Vorherrschaft suchen sie mittels sozialer, politischer und wirtschaftlicher Reformen Wege in eine andere, möglicherweise bessere Zukunft.

Im rechtsgerichteten Lager, zu dem seit langem Paraguay, Peru und El Salvador zählen, haben Politiker und Ökonomen das Sagen, die wie eh und je an die Rezepte der Marktwirtschaft glauben. Derzeit ist das auch in Uruguay der Fall und neuerdings wieder in Ecuador und Argentinien. Ungewiss scheint gegenwärtig die Lage in Bolivien, wo verschiedene Fraktionen um die Macht ringen. Düster sieht es für Haiti aus, das in Chaos, Gewalt und Anarchie zu versinken droht.

Schwer einzuschätzen ist die Entwicklung in Costa Rica und im benachbarten Panama wie auch in der Dominikanischen Republik. In diesen Ländern herrschen zwar seit Jahrzehnten politisch relativ stabile Verhältnisse, doch Krisen in benachbarten Staaten können die Stabilität gefährden. Weil es in fast ganz Lateinamerika nicht gelingt, im Parlament klare Mehrheiten zu bilden, wird das Regieren der gewählten Machthaber behindert.

Wichtigster Hotspot der politischen Auseinandersetzung ist derzeit das von wild galoppierender Inflation und leeren Staatskassen geplagte Argentinien. Präsident Javier Milei will die rund 250 Prozent hohe Teuerung mit einer Notbremse und rücksichtsloser Sparpolitik unter Kontrolle bringen. Mit seinem «Ley Omnibus» titulierten Sammelsurium von Hunderten Gesetzes- und Verfassungsänderungen hat er bis jetzt vor allem eine Flut von Widersprüchen und Verwirrung ausgelöst, was France24 und die Zeitschrift Proceso genüsslich kommentieren.

Mit den von Milei geplanten Gesetzesänderungen müsste sich nun das Parlament befassen. Doch dieses begeht den Weg des Widerstands und zerlegt das monumentale Vertragswerk in Hunderte Einzelteile. Dabei sprudelt über alle Parteigrenzen hinweg hundertfache Kritik und Opposition. So wird der ganze Schwall entweder zur Debatte in die andere Kammer des Kongresses weitergeleitet oder an Kommissionen abgeschoben – und landet damit auf der berüchtigten langen Bank.

Das grösste Problem besteht im Kern darin, dass Milei allen Widerstand mit der Berufung auf ein Notstandsdekret (Ley de Necesidad y Urgencia) zu bodigen gedenkt – wie schon sein Amtskollege Carlos Menem in den 1990er Jahren. Damals mit katastrophalem Ergebnis: Es kam zu einem Volksaufstand von seltener Dramatik. Bereits wenige Monate nach Amtsantritt steht Präsident Milei nun vor einem Scherbenhaufen, wie das IPG Journal feststellt. Nur der Internationale Währungsfonds, Argentiniens grösster Kreditgeber, findet in dieser Situation noch einen Grund, um Milei Beifall zu spenden.

Eine ausführliche Analyse in Nueva Sociedad befasst sich mit Peru, wo die Proteste gegen die Regierung von Dina Boluarte inzwischen abgeflaut sind. Wir erinnern uns: Nach dem gescheiterten Selbst-Coup und der Entmachtung des Staatspräsidenten Pedro Castillo hievte die Opposition Ende 2022 kurzerhand die amtierende Vizepräsidentin Dina Boluarte auf den Thron. Diese ist nach rechts gerückt und kommt seither zusammen mit einem konservativen Block im Parlament recht gut über die Runden.

Die Regierung Boluarte scheint ein ganz besonderes Augenmerk auf Reformen im Justizwesen zu richten, und dies in der Absicht, die seit Jahrzehnten labilen Verhältnisse in der Machtstruktur des Landes in die gewünschte Richtung zu zwingen. Dabei sollen gleich auch günstige Voraussetzungen geschaffen werden, um einen Sieg der konservativen Kräfte bei der nächsten Präsidentenwahl (2026) sicherzustellen.

Im linksorientierten Lager hat der in Brasilien wiedergewählte Staatschef Luiz Inácio da Silva vor allem aussenpolitische Schritte unternommen, die weit herum aufhorchen liessen. Die grösste Nation Lateinamerikas strebt zumindest seit den 1960er Jahren danach, sich aufgrund ihrer Grösse und Geschichte als Sprachrohr des globalen Südens zu profilieren. Dieses Anliegen verfolgt Brasilien mit einer auf Dialog basierenden Diplomatie, die von den meisten Regierungen der Vergangenheit – mit Ausnahme jener von Jair Bolsonaro – fortgesetzt wurde. Auf diesem Pfad besuchte da Silva neulich Ägypten und Äthiopien, äusserte sich dort zu brennenden Fragen der Weltpolitik und erntete laut amerika21 viel Beifall in weiten Teilen Afrikas.

Seit einem Jahr regiert der ehemalige M19-Guerillero Gustavo Petro das traditionell konservative Kolumbien. Als Präsidentschaftskandidat hatte er ein breites Bündnis linker und fortschrittlicher Parteien sowie sozialer Bewegungen hinter sich. Diese setzen grosse Hoffnungen in die Reformregierung, doch die unterlegene Rechte bekämpft diese heftig. Eine jüngst in Nürnberg durchgeführte Lateinamerika-Woche befasste sich intensiv mit dieser Entwicklung und mit der Frage, ob der versprochene Richtungswechsel hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit gelingt.

Seit der Jahrtausendwende hat Mexiko Stück für Stück die Funktionen einer der wichtigsten Relaisstationen im weltweiten Kokainhandel – besonders in Richtung USA – von Kolumbien «geerbt». Die Berliner taz befasst sich in einem kurzen Feature mit dem Drogenkrieg, der immer dramatischere Dimensionen annimmt. Die Drogenbanden und Kartelle zögern nicht, alle und alles aus dem Weg zu räumen, was sich ihrer wachsenden Vorherrschaft entgegenstellt. Staatspräsident Andrés Manuel López Obrador stösst in diesem verzweifelten Kampf an Grenzen. Doch ihn deswegen als Versager abzukanzeln, erscheint zumindest als undifferenziertes Urteil.

In Chile sollen, nicht zum ersten Mal, die Umstände des Todes von Pablo Neruda wenige Tage nach dem Putsch von General Augusto Pinochet im Jahr 1973 gerichtlich untersucht werden. Frühere Versuche, in dieser Frage Klarheit zu schaffen, wurden unter diversen Umständen abgebrochen und ad acta gelegt. Mittlerweile sollen wissenschaftliche Fortschritte in der kriminalistischen Wahrheitssuche mehr Erfolg versprechen.

150 Jahre nach dem Völkermord an den Indigenen vom Volk der Selk’nam erzählt der Dokumentarfilm «Colonos» von den Gräueln der Kolonisation in Patagonien und Feuerland.

In Zeiten konservativer Diktaturen in Paraguay und Uruguay wurden politische Gegner systematisch inhaftiert, gefoltert oder gar ermordet. Die Schergen der Junta blieben jahrzehntelang unbehelligt. Jetzt hat vor kurzem die lokale Justiz zwei dieser Täter zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die längst überfälligen Urteile haben in der Öffentlichkeit beider Länder eine gewisse Erleichterung ausgelöst. Jetzt müssen die Schuldsprüche nur noch zügig umgesetzt werden.

Honduras zieht bei Halbzeit des vierjährigen Mandats von Präsidentin Xiomara Castro Bilanz über deren gemässigt linke Regierung. Menschenrechtsorganisationen bemängeln fehlende Fortschritte bei der Aufklärung von Verbrechen unter früheren Machthabern. Doch diesem Ansinnen – wie auch bei wichtigen wirtschaftspolitischen Projekten – steht die Obstruktion der Konservativen im Kongress als Bremsklotz entgegen, wie amerika21 feststellt. Aus Guatemala schildert der deutsche Anwalt und Menschenrechtsexperte Miguel Mörth seine Eindrücke über die ersten Gehversuche der gemässigt linken Regierung von Bernardo Arévalo.

Im Vorfeld der nächsten allgemeinen Wahlen findet in Venezuela ein Machtkampf mit den USA statt. Washington treibt die Regierung in Caracas mit Enteignungen, Sanktionen und Blockaden zur Weissglut und mischt sich laut venezuelanalysis und amerika21 selbst dann in innere Angelegenheiten des Erdölstaats ein, wenn Beschlüsse von dessen Oberstem Gerichtshof zur Debatte stehen. Fallen Urteile zu Ungunsten der USA aus, wirft die Administration Biden den hohen Richtern vor, sie seien «per Fingerzeig» von Präsident Nicolas Maduro ins Amt berufen worden. Das mag in einigen Fällen zutreffen, entspricht jedoch einer in Lateinamerika (und wohl nicht nur dort) weit verbreiteten legalen Praxis, selbst in Ländern mit langer demokratischer Tradition.

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Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Lateinamerika Karte

Politik in Süd- und Mittelamerika: Was in vielen Medien untergeht

Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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