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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Schreiben, auf Abschreiben reduziert

Daniel Goldstein /  Künstliche Intelligenz verstärkt den jeder Sprache innewohnenden Mechanismus, neue Aussagen auf zuvor erfolgten aufzubauen.

«Textlich betrachtet beginnt also 2026 der globale Inzest.» Miriam Meckel, Professorin für Firmenkommunikation in St. Gallen, liess kürzlich in einem «Spiegel»-Interview ihre Aussagen zur Textproduktion mit Künstlicher Intelligenz (KI) so gipfeln. Inzest, also Inzucht, geht in der Biologie mit Degeneration einher, da die genetische Vielfalt fehlt. Droht der Sprache dasselbe Schicksal?

In der vorhergehenden Antwort hatte die Professorin gesagt, was Menschen der KI voraushätten: «Wir haben einen genialen kreativen Geist, der Neues schaffen kann.» Die Interviewer konterten: «Ist das nicht eine Verklärung des Menschlichen? Besteht nicht auch menschliche Kunst letztlich darin, das, was schon da ist, auf neue Weise zu deuten?» Meckels Replik: «In vielen Fällen gewiss. Doch es gibt auch Momente, in denen Menschen wahrhaft Neues schaffen. Alles, was dagegen KI ausrechnet, ist blosse Statistik. Den Prognosen zufolge werden die Sprachmodelle in drei Jahren alles gelesen haben, was im Internet zur Verfügung steht. Ab dann wird fast alles, was neu in die Modelle eingefüttert wird, ein Remix dessen sein, was es schon gibt. Textlich betrachtet beginnt also 2026 der globale Inzest. Wir werden ein permanentes Wiederkäuen von Bestehendem erleben. Und wir wissen, dass das die Modelle schlechter macht. Dann werden wir menschlichen Input brauchen, um Originalität in die Datensätze einzuführen.»

Von einem Buch ins andere

Der Einwand des «Spiegels», auch menschliche Kunst bestehe nur aus Neudeutung von Bestehendem, war mir ähnlich schon einmal begegnet, als es noch nicht um KI ging, sondern um Plagiate. Dazu hatte in der Zeitschrift «Sprachspiegel» (keine Verwandtschaft mit dem deutschen Magazin») die Redaktorin Katrin Burkhalter 2021 geschrieben: «Wer Sprache verwendet, kann nicht anders als imitieren, übernehmen, sich beim sprachlichen Bestand bedienen, meinetwegen stehlen. Das ist gewiss kein Plagiat.» Die Antwort auf die Frage, was denn wirklich ein «Diebstahl geistigen Eigentums» wäre, überliess sie einem Juristen.

Ausgangspunkt jenes «Sprachspiegels» war die Kontroverse um Urs Mannharts Roman «Bergsteigen im Flachland», in dem ein fiktiver Reporter vor allem Osteuropa bereist. Vorlagen waren zum Teil eigene Reportagen des Autors, aber auch solche von Ernst Brunnsteiner (Sammelband: «Bis ins Eismeer»). Mannhart übernahm sie stellenweise wörtlich – ohne Quellenangabe, nur mit einem Dankwort, das auch 44 weiteren Personen galt. Juristisch endete der Fall mit einem Vergleich, es gab also kein Gerichtsurteil. Laut «Der Bund» (7.8.2015) waren die Zürcher Handelsrichter aber bereits zum Schluss gekommen, das Urheberrecht sei nicht verletzt worden, und Brunnsteiner verpflichtete sich zur Zahlung von 20’000 Franken, weil seine Klage zu einem temporären Verkaufsverbot für Mannharts Buch geführt hatte.

Schutz nur für «Einmaliges und Besonderes»

Im «Sprachspiegel» erklärte der Zürcher Rechtsprofessor Mischa Senn, das Schweizer Urheberrecht schütze, ähnlich wie in anderen Ländern, allein «geistige Schöpfungen der Literatur und Kunst …, die individuellen Charakter haben». Der wiederum sei «… gemäss Lehre und Rechtsprechung … dann gegeben, wenn ein Werk ‹aufgrund der Summe seiner Merkmale etwas Einmaliges und Besonderes› darstellt. Auf jeden Fall muss damit eine (gestalterische oder künstlerische) Überdurchschnittlichkeit vorliegen und somit das übliche Textrepertoire – vorbestehende Sprachwerke – überragen. Oder anders gesagt: Das Werk muss innovativ sein.»

Damit schützt die Jurisprudenz genau den «genialen kreativen Geist, der Neues schaffen kann», der gemäss Meckel den Menschen gegenüber der KI auszeichnet. Ob da wirklich ein immaterieller Geist waltet, der sich nicht einmal theoretisch mit einer Maschine nachbauen liesse, wird vielleicht künftige Forschung über Hirn und Rechner entscheiden können. Doch schon jetzt ist zweierlei dringend nötig: einerseits menschliche Vorleistungen für KI-Systeme abzugelten (wie es die «New York Times» gerichtlich fordert); anderseits zu verhindern, dass KI durch Fehlleistungen den menschlichen Geist irreführt.

Mit fremden Federn

Da es in dieser «Sprachlupe» um tiefere Schichten der Sprache geht, als eine Lupe erkennen kann, habe ich Texte anderer Autoren ausführlich zitiert. Solche Quellen anzugeben, gehört sich auch dann, wenn ihnen das Urheberrecht keinen Schutz bietet. Es reicht ein Satz aus dem «Journalistenkodex» des Schweizer Presserats: «Sie begehen kein Plagiat.» Der Rat, in dem Berufsleute und Verlage vertreten sind, hat in seinen Stellungnahmen erst wenige Pflöcke zu diesem Punkt eingeschlagen, am deutlichsten hier: «Eine Zeitung, die einen kurz zuvor von einem anderen Medium veröffentlichten Primeur übernimmt und ohne Quellenangabe veröffentlicht, handelt berufsethisch unlauter. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine solche Nennung unter den gegebenen Umständen sowohl sinnvoll als auch zumutbar war.» Trotz dieser Einschränkungen: Abschreiben ist verpönt, selbst wenn es nicht um Primeurs (exklusive Erstmeldungen) geht. Freilich sind die Bräuche im Journalismus weniger streng als in der akademischen Welt. Dort können Plagiate, heute auch dank KI leichter aufdeckbar, zur Aberkennung von Diplomen führen – und so Juristenfutter liefern.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Zum Infosperber-Dossier:

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Eine Meinung zu

  • am 23.03.2024 um 14:50 Uhr
    Permalink

    Die Behauptung von Frau Merkel «Doch es gibt auch Momente, in denen Menschen wahrhaft Neues schaffen. Alles, was dagegen KI ausrechnet, ist blosse Statistik», überzeugt nicht. Statistik kann man auch als Wissenschaft des Zufalls verstehen. Und es ist gut denkbar, dass zufallsbasierte KI-Modelle sehr wohl in der Lage sind «wahrhaft Neues zu schaffen».

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