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Abstimmen per Handaufheben: Daran wird sich auch künftig im Ständerat nichts ändern. © SRF

Ständerat: undurchsichtige Motive einer Ablehnung

Jürg Lehmann /  Die Kleine Kammer will ihr Abstimmungsverhalten nicht für jedes Mitglied einzeln dokumentiert haben. Eine Suche nach Hintergründen.

Der Glarner Ständerat This Jenny (SVP) wollte mit einer parlamentarischen Initiative einführen, was im Nationalrat seit 18 Jahren gang und gäbe ist: ein elektronisches Abstimmungssystem. Jedes Mitglied der Kammer tippt per Knopfdruck ein Ja oder ein Nein. Das Resultat wird protokolliert und ist für alle einsehbar, also transparent.

Seit seinem Bestehen 1848 stimmt der Ständerat per Handaufhalten ab, das bei knappen Entscheidungen auch zu Zählpannen führen kann. Im März musste die Abstimmung über einen Asylvorstoss der SVP bei einem Ergebnis von 22:22 wiederholt werden und als aktuelles Beispiel die Abstimmung über ein Importverbot von Reptilienhäuten.

«Ich glaube, dass die Zeit nun wirklich reif ist», sagte This Jenny am 11. Juni 2012 in der ersten Runde der Diskussion über die Einführung der Elektronik im Rat auf dem Hintergrund solcher Peinlichkeiten. Doch weit gefehlt, denn die Gegner schlugen zurück. Das Ratsprotokoll gibt folgende Statements wieder (Ausschnitte):

• Paul Niederberger (CVP, NW): «Ich möchte nicht, dass wir auf ein Ja oder Nein reduziert werden.»

• Ivo Bischofberger (CVP, AI): «Es gilt, nicht ohne Not Änderungen einzuführen, die in Tat und Wahrheit nicht wir selber wollen, sondern externe Kreise.»

• Werner Luginbühl (BDP,BE): «Ich bin überzeugt, dass ein Stück politische Kultur, ein Stück Qualität verlorengeht. Das wäre schade und, wie ich finde, auch unnötig.»

• Filippo Lombardi (CVP, TI): «Aber unser Verhalten würde sich verändern, wir würden darauf achten, ob wir es wollen oder nicht. Darunter würde unsere Diskussionskultur leiden.»

• Pankraz Freitag (FDP, GL): «Ich komme aus einem Kanton, wo sogar über Gesetze und die Verfassung mit der Hand abgestimmt wird, nämlich an der Landsgemeinde und ich kenne kein Verfahren, das transparenter ist als dieses.»

Nicht einmal eine «Minireform»

Doch die Opposition unterlag. Mit 22:21 Stimmen beschloss die Kammer knapp Eintreten auf Jennys Vorstoss. Jetzt musste eine konkrete Vorlage ausgearbeitet werden. Sie schlug vor, dass elektronische Abstimmungen sich vorerst auf Gesamt- und Schlussabstimmungen beschränken sollten, also keine namentlichen Bekenntnisse bei einzelnen Gesetzesartikeln. This Jenny nannte es «Minireform». Das müsste machbar sein. Nein! Am 28. November versenkte der Rat die Vorlage mit 25:20 Stimmen.

Der Ständerat hat sich der demokratischer Transparenz verweigert. Karin Keller-Sutter (FDP,SG) hat allerdings kein Problem damit. Die ehemalige Bundesratskandidatin des Freisinns (2010) drehte in ihrem Votum das Rad der Geschichte weit zurück: «Ich habe nichts dagegen, wenn man mir hier Konservatismus vorwirft. Denn ich finde, dass wir eine historisch begründete Tradition haben, wir sind hier die Fortsetzung der Tagsatzung.» Zur Erinnerung: Die letzte Tagsatzung fand 1848 statt.

Für einmal ist Transparenz möglich

Doch was sind die Gründe hinter der Ablehnung? Wie ist aus einem knappen Ja ein Nein geworden? Eine kurzzeitige ständerätliche Schwäche macht für einmal fast volle Transparenz möglich. Das Reglement der Kammer ermöglicht in Artikel 46 eine Abstimmung unter Namensaufruf mit Ja/Nein, wenn es zehn Ratsmitglieder verlangen.

Genau das war am 11. Juni der Fall, also können wir nachlesen, wer Jennys Initiative zugestimmt und wer sie abgelehnt hat – sehr zum Missfallen des Glarners Pankraz Freitag übrigens, der verärgert zu Protokoll gab: «Aus meiner Sicht hätten wir auch diese Abstimmung in unserer üblichen Weise durchführen können; ich verstehe das wirklich nicht.» Anscheinend ist eine solche Transparenz nicht mit seinem liberalen Selbstverständnis kompatibel. Freitag wollte noch vor neun Monaten Präsident der schweizerischen FDP werden, zog sich dann aber zugunsten von Philipp Müller zurück.

Die Gegnerschaft unter der Lupe

Am 28. November gab es dann keine Namensabstimmung mehr. Trotzdem lässt sich aufgrund der ersten Runde am 11. Juni die Gegnerschaft sezieren:

Einiger CVP-Block. Sämtliche 13 CVP-Vertreter in der kleinen Kammer waren dagegen: Pirmin Bischof (SO), Isidor Baumann (UR), Peter Bieri (ZG), Ivo Bischofberger (AI), Stefan Engler (GR), Jean-René Fournier (VS), Konrad Graber (LU), Brigitte Häberli-Koller (TG), René Imoberdorf (VS), Filippo Lombardi (TI), Urs Schwaller (FR), Paul Niederberger (NW) und Anne Seydoux (JU). In der Debatte hatte Schwaller noch getönt, ein Ständerat verstehe sich «zuerst einmal als Kantonsvertreter und erst in zweiter Linie als Parteivertreter». Das genaue Gegenteil trifft hier zu.

Nein der Ex-Regierungsräte: Elf ehemalige Regierungsräte haben sich gegen elektronische Abstimmungen gewehrt: Baumann (UR), Robert Cramer (Grüne,GE), Joachim Eder (FDP,ZG), Engler (GR), Fournier (VS), Freitag (GL), Keller-Sutter (SG), Luginbühl (BE), Schwaller (FR), Martin Schmid (FDP, GR) und Niederberger (NW). Wie soll man ihr Beharren auf einem «demokratischen Missstand» (Jenny) interpretieren? Haben Sie als ehemalige kantonale Exekutivmitglieder ihr eigenes Transparenz-Verständnis?

Nein von Ex-Nationalräten: Fünf Mitglieder des Ständerates, die Nein sagten, sassen zuvor im Nationalrat und haben dort selbstverständlich elektronisch schon abgestimmt. Als Ständeräte mögen sie das nun nicht mehr: Bischof (SO), Christine Egerszegi (FDP, AG), Häberli-Koller (TG), Luc Recordon (Grüne, VD) Géraldine Savary (SP,VD). Egerszegi war 2007 sogar Nationalratspräsident, also höchste Schweizerin!

Erst seit 2011 im Rat: Acht Neulinge haben Nein gestimmt. Sie sitzen seit einem Jahr im Ständerat. Bischof (SO), Baumann (UR), Eder (ZG), Engler (GR), Häberli-Koller (TG), Keller-Sutter (SG) Savary (VD) und Schmid (GR). Peter Bieri (ZG) hatte die Neulinge gebeten, «zuerst einmal zwei drei Jahre Erfahrungen zu sammeln, bevor sie eine bewährte Tradition in diesem Rat zerstören». Das hat er auf die Befürworter gemünzt. Eine Mahnung an die Gegner, sich erst mal zu enthalten, hat er nicht gemacht.

Seitenwechsler: Zwei Abgeordnete wechselten am 28. November im Vergleich zum 11. Juni die Seiten, einer fand seine Meinung. Das wissen wir dank der NZZ, die nachfragte, sonst wäre es nicht dokumentiert. Robert Cramer hatte sich im Juni der Stimme enthalten und hob nun die Hand zum Nein. Savary begründete ihr Nein, dass diese «Minireform» scheinheilig sei. Der «Tages-Anzeiger» fragte bei Hannes Germann (SVP,SH) nach, der ebenfalls ins Lager der Nein-Sager wechselte. Germann sagte zur Begründung: «Ich wollte nicht zu einer Spaltung des Rates beitragen.»

Nicht eruieren kann man die Position von Roland Eberle (SVP, TG). Er war am 11. Juni nicht anwesend und wie er am 28. November abstimmte, ist schriftlich nicht verbürgt. Ebenso unklar ist aufgrund der Dokumente, wie Hans Alterherr (FDP, AR) stimmte. Er war am 11. Juni Präsident des Rates und stimmte nicht ab. Petar Marjanovic von der Plattform politnetz.ch (sie hält die Abstimmungsresultate im Ständerat auf Video fest) macht uns allerdings darauf aufmerksam, dass sowohl Eberle als auch Altherr am 28. November Nein gestimmt haben. Das gehe aus den Videoauswertungen hervor.

Wäre die elektronische Abstimmung auch im Nationalrat nicht möglich, könnten Analysen wie beim Tierseuchen- und Epidemiegesetz nicht gemacht werden. Von demokratisch transparenten Kommissionssitzungen wie sie im schottischen Parlament üblich sind, wollen wir hier gar nicht erst sprechen. Sie sind in der Schweiz undenkbar.

Wo lebt Ex-Bundesratskandidat Schwaller eigentlich?

Also bleibt im Ständerat alles beim Alten und, wie das Beispiel zeigt, eine Ausnahme, wenn in der Kleinen Kammer vorübergehend Abstimmungs-Transparenz möglich ist. CVP-Fraktionschef Urs Schwaller (FR) tröstete in der Debatte: «Wer wissen will, wie der einzelne Ständerat denkt, spricht und stimmt, kann dies bereits heute wissen. Jeder kann es wissen, wenn er während der Debatte hier im Rat selber anwesend ist.»

Angesichts solcher Sätze darf man sich fragen, auf welchem Planet der ehemalige Bundesratskandidat Schwaller (2009) lebt. War es noch vor fünfzehn Jahren als Besucher relativ einfach, sich einen Tribünenplatz im Ständeratssaal zu ergattern, ist es heute ein Hindernislauf. Erst nach einer aufgeblasenen Sicherheitskontrolle gelangt man ins Bundeshaus, muss eventuell mangels Platzangebot eine Wartezeit in Kauf nehmen, bis man eine Debatte (möglicherweise gar nicht die gewünschte) verfolgen darf und kann. Und wenn der Andrang gross ist, wird die Aufenthaltsdauer auf der Tribüne beschränkt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war 1987-1995 Bundeshausredaktor der SonntagsZeitung.

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