Kommentar

Cassis wartet auf «Opportunitäten» – seine Abwahl ist so eine

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Um den Bundesrat parteipolitisch angemessen zusammenzusetzen, gibt es eine einfache Lösung. Ignazio Cassis zeigt uns den Weg.

Man hätte es wissen können: Ignazio Cassis, seit September 2017 Bundesrat, ist kein Macher und erst recht kein Visionär. Er kennt im Politbetrieb lediglich den Reset-Knopf – und wartet dann auf «Opportunitäten», wie er seinen eigenen «Führungsstil» in einem 50minütigen NZZ-Standpunkt-Gespräch eingehend erläutert hat. Aber weil es bei der damaligen Bundesratswahl keine Frau sein durfte, um beim nächsten Mal Frau Karin Keller-Sutter auf sicher im Bundesrat zu haben, erfand die FDP-Parteizentrale das Argument «Tessiner» und deren Sitz-Anspruch – trotz einer klar besser qualifizierten Tessiner Frau der gleichen Parteifarbe – die aber eben eine Frau war und strategisch deshalb nicht in Frage kam. Weil die Bundeshaus-Journalisten und -Journalistinnen vom Kanton Tessin gerade mal wissen, dass dort die Sonne öfter scheint als im nebligen Norden, wurde auch von Seite der Medien kaum etwas hinterfragt. Und Ignazio Cassis seinerseits hatte stilgerecht eine Super-«Opportunität» und musste nur noch zwei kleine Manöver inszenieren, um auch von der SVP wählbar zu sein: Er musste seine Doppelbürgerschaft Schweiz/Italien aufgeben und er trat der Waffen-Lobby-Organisation ProTell bei. Und schon lief mit seiner Wahl in den Bundesrat alles wie am Schnürchen.

Und was hat man seither von ihm gehört?

Vor allem einmal: wenig. Und wenn man von ihm hören konnte, wenig Schmeichelhaftes. Und auch Widersprüchliches. Vom völlig deplatzierten Vorhaben, ausgerechnet den Tabak-Konzern Philip Morris als Hauptsponsor des Schweizer Pavillons an der nächsten Weltausstellung in Dubai präsentieren zu können, wollte Cassis nichts gewusst haben, während der zuständige Beamte Nicolas Bideau, Chef «Präsenz Schweiz», Cassis› vorherige Zustimmung ausdrücklich bestätigte. Anlässlich einer Rede vor den Mitgliedern des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes sagt Ignazio Cassis zwar wörtlich: «Und schliesslich ist Israel ein wichtiger Platz für Schweizer Banken.» Dass aber die Schweizer Grossbanken UBS und CS und sogar die der Eidgenossenschaft gehörende PostFinance den Geldtransfer zwischen Cuba und Venezuela und der Schweiz aufgrund von Sanktionen der USA (!) gegen diese beiden lateinamerikanischen Länder blockiert haben und zum Beispiel die Angestellten der Venezolanischen Botschaft in Bern durch dieses Einhalten der US-Sanktionen durch die Banken ihr ihnen zustehendes Gehalt nicht mehr erhalten, ist Ignazio Cassis egal. Das gehe das EDA nichts an, die Beziehungen der Banken mit ihren Kunden gehöre in den Bereich des Privatrechts, meinte er, einmal mehr jede Verantwortung von sich schiebend.

Die UNRWA, das UNO-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge, bezeichnete Ignazio Cassis zwar als «Teil des Problems», mit dem Stopp der Zahlungen an eben diese UNRWA durch die zum EDA gehörende DEZA will Cassis aber nichts zu tun haben, obwohl die – privaten – Probleme des UNRWA-Chefs Pierre Krähenbühl wiedermal eine klassische «Opportunität» waren, irgendwo was zu machen. Und Ignazio Cassis› letzte – schockierende – «Opportunität» war, jenen Nestlé-PR-Mann als Stellvertretenden Chef in die DEZA zu holen, der bei Nestlé dafür verantwortlich war, der Welt die Privatisierung des Wassers beliebt zu machen. Zumindest ausserhalb der Schweiz hat man von dieser krassen Fehlbesetzung mit Schrecken Kenntnis genommen und zum Protest angesetzt.

Oder hat man von einem Fortschritt in Sachen EU-Rahmenvertrag gehört? Cassis› Erklärung: Bisher fehlten die «Opportunitäten» …

Dafür flirtet Bundesrat Ignazio Cassis in Andermatt mit der internationalen Wirtschaftselite – darunter zum Beispiel auch UBS-Chef Sergio Ermotti –, die sich für die von China lancierte «neue Seidenstrasse» einsetzt: «One Belt, One Road». Ausschnitt aus Ignazo Cassis Rede: «The Swiss Government sees the Belt and Road Initiative BRI as an opportunity [ ].»

Von Ignazio Cassis lernen …

Nun ergäbe sich für die Schweizer Polit-Szene die einmalige Gelegenheit, von Bundesrat Ignazio Cassis sogar zu lernen: nämlich eine «Opportunität» wahrzunehmen. Der überwältigende Erfolg der Grünen bei den Parlamentswahlen ruft laut nach einer anderen Zusammensetzung des siebenköpfigen Bundesrates: statt der sogenannten «Zauberformel» 2+2+2+1 (mit zwei Vertretern der FDP) neu 2+2+1+1+1 (mit nur noch einem Vertreter der FDP und dafür einem neuen Bundesrat oder einer Bundesrätin der Grünen). Dass dies politisch angemessen wäre, bestätigen praktisch alle Parteien ausser FDP und SVP. Man solle, so die zögerliche CVP in der Mitte, einfach warten, bis auf FDP-Seite ein Bundesrat freiwillig zurücktrete. Warum denn?

Die unerwartete «Opportunität», Ignazio Cassis als Bundesrat wieder loszuwerden, sollte bei den Bundesratswahlen am 11. Dezember 2019 wahrgenommen werden. Dass Patrik Müller, der Chefredaktor der CH Media-Zeitungen (von Solothurn und Aarau im Westen und Luzern im Süden bis St. Gallen im Osten der marktbeherrschende Zeitungsverbund) auf der Frontseite der Ausgabe vom 23. Oktober bereits zur Erweiterung des Bundesrates von sieben auf neun Mitglieder plädiert, darf als Signal verstanden werden, dass auch die Rechte bereit ist, die bisherige Zauberformel 2+2+2+1 zu durchbrechen.

Klar, hätte die FDP zwei Bundesräte, die einen ordentlichen Job machen: die Hemmung, einen von ihnen in die Wüste zu schicken, wäre verständlich. Aber warum bei Ignazio Cassis, der selber nichts tut und nur auf «Opportunitäten» wartet? Bei ihm sind solche Hemmungen fehl am Platz.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Siehe zum gleichen Thema

  • Allez hopp! von Matthias Daum im Schweizer Teil der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit»

    Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

    Zum Autor. Es gibt keine Interessenkollisionen.

  • Zum Infosperber-Dossier:

    Nationalratssaal_Bundeshaus

    Parteien und Politiker

    Parteien und Politiker drängen in die Öffentlichkeit. Aber sie tun nicht immer, was sie sagen und versprechen.

    War dieser Artikel nützlich?
    Ja:
    Nein:


    Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
    Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

    Direkt mit Twint oder Bank-App



    Spenden


    Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

    9 Meinungen

    • am 27.10.2019 um 13:00 Uhr
      Permalink

      Die vom Bund-Chefredaktor vorgeschlagene Formel 2-3-2, d.h. 2 für Grün-Rot, 2 für rechts/SVP und 3 für die Mitte (1 FDP, 1CVP, 1 GLP) scheint mir in Bezug auf die Kräfteverhältnisse einleuchtender zu sein.

    • erich_schmid
      am 27.10.2019 um 13:09 Uhr
      Permalink

      Wieviel gestaltungswille und wohl auch -fähigkeit Ignazio Cassis entbehren, zeigte das Interview von Roger de Weck an der Bar von Republik. Zum allgemeinen politischen Wandel sagte er, mal schlage das Pendel nach rechts, mal nach links, in dreissig Jahren würde sich das wieder ändern. Wer so spricht, muss im Grunde ein Fatalist sein, ein Zeitgeist-Surfer, einer, der sich einfach gerade der gegenwärtigen Situation anpasst. Solche Politiker haben wir genug, im Bundesrat, der vorspuren muss, ist das ein Rückschritt. Daraus folgt…

    • am 27.10.2019 um 14:16 Uhr
      Permalink

      So einfach darf es nicht sein, Herr Müller. Kaum haben unsere Öko-Fundis einen bemerkenswerten Wahlsieg errungen muss sofort ein BR-Sitz her. Und warum muss subito gedrängelt werden? Diese, Kielwasserfahrer müssen zuerst mal beweisen, dass sie eine mehrheitsfähige Politik auf die Beine bringen. Sollte ihnen das gelingen darf die CVP ihren Sitz an die Grünen abtreten. Wenn die grüne «Konfession» mehr WählerInnen anzieht als die Katholische, soll die «Christliche Volks"-Partei ihren Platz frei machen.

    • am 27.10.2019 um 17:16 Uhr
      Permalink

      Die Mehrheit der vereinigten Bundesversammlung wollte eine farblose Marionette als Bundesrat haben und das haben sie erhalten!
      Ob sie nun damit glücklich sind, das überlasse ich den Einzelnen, darunter auch denjenigen, die ihr politisches Mandat nicht erneuert bekommen haben.
      Es ist traurig als Aussenstehender mitansehen zu müssen, dass bei der Wahl eines Bundesrates der Sex eine Rolle spielt und nicht die Qualifikation. Von mir aus könnten alle sieben Frauen sein, wenn sie fähig und gewillt sind Verantwortung zu übernehmen.
      Ignazio war ganz klar ein Fehlentscheid der FDP und diese muss die Parteispitze verantworten. Christoph war auch eine solche Fehlbesetzung, zum Glück hat man ihn in die Wüste geschickt, bevor er noch mehr Unheil anrichten konnte, aber mindestens hatte der Charisma im Gegensatz zu Ignazio.
      Dank dem höheren Frauenanteil in der vereinigten Bundesversammlung könnte anlässlich der nächsten Bundesratswahl eine Neubesetzung des Bundesrates erwirkt werden. Ich jedenfalls habe meine Stimme konsequent den Frauen gegeben, denn es ist an der Zeit, ihnen mehr Verantwortung zu übergeben. Wir Männer haben sie nun genügend lange bewusst oder unbewusst unterdrückt.

    • am 27.10.2019 um 17:19 Uhr
      Permalink

      In dieser guten Analyse fehlt noch die wahrgenommene «Opportunität» Cassis, bei der Frage der Konzernverantwortung (Glencore) beide Augen zu schliessen.
      Warten auf Opportunitäten gilt leider für die gesamte FDP. Auch die Abwahl von SR Noser im zweiten Wahlgang wäre eine gute Opportunität zum Wohl des Landes.

    • am 28.10.2019 um 17:02 Uhr
      Permalink

      Endlich redet jemand Klartext, und dies mit sachlicher und sprachlicher Brillanz. Warum auf eine Erweiterung des Bundesrats auf 9 Mitglieder warten? Eine Abwahl Cassis› lag für mich schon lange «in der Luft». Hier wären «Rücksichten» unter Hinweis auf frühere Fälle am wenigsten am Platz. Cassis stolperte zu oft völlig blind von einem Fettnäpfchen ins andere – die beiden peinlichsten das Tabaksponsoring für den Schweizer Pavillon und der Besuch einer Glencore-Mine im Kongo (danke, dass auch Walter Schenk daran erinnert hat). Die Befürchtung, man hätte durch die Wahl einer Tessiner Frau die Chancen Karin Keller-Suters gefährdet, und man deswegen auf Cassis gesetzt hat, zeigt auch, welche Nebensächlichkeiten im Interessensumpf in Bern mutige Entscheide verhindern. Von KKS bin ich je länger je mehr enttäuscht, wenn ich nur an ihre Rolle gegen die Ausarbeitung eines griffigen und wirksamen Gegenentwurfs zur Konzernverantwortungsinitiative denke. Auch Ruedi Nosers peinliches und leider knapp gelungenes Manöver zur Verschiebung der Debatte über dieses wichtige Geschäft im Ständerat sollte allein schon zu seiner Abwahl im 2. Wahlgang führen.

    • am 28.10.2019 um 18:09 Uhr
      Permalink

      @H.R.Knecht: Um C. Blocher Platz zu machen musste BR Metzler hurtig über die Klinge springen. Cassis ist eine klassische Fehlbesetzung. Die Idee von neun Bundesräten ist eine aufgewärmte Idee, ganz klar nur eine Nebelpetarde um den Machterhalt von FDP und SVP zu sichern.

    • am 28.10.2019 um 19:16 Uhr
      Permalink

      Für Herrn Dr. med. Cassis war die bisherige Laufbahn immer mit «Opportunitäten» verbunden. Zuerst Kantonsarzt, ganz sicher kein harter Job, dafür sehr gut entlöhnt. Dann fehlte der TI-FDP im Tessin ein NR-Kandidat und flugs war Dr. Cassis bereit. Uebrigens, ein Exekutiv-Amt hatte er nie inne, jetzt natürlich schon als BR! Eine Opportunität war übrigens auch das für die ungemein anstrengende Arbeit sehr gut entlöhnte Amt während seiner NR-Zeit bei Curafutura. Im TI nennt man Herrn Dr. C. auch «Krankencassis». Mir schmeckt Kir Royal mit Cassis de Dijon schon lieber.
      Herr Dr. C. ist ganz sicher nicht der einzige BR der eigentlich abgewählt werden sollte, aber eben, man kann doch jetzt den TI-BR und den VD-BR nicht gleichzeitig abwählen ohne auch fähige Anwärter bereit zu haben. Im TI ist objektiv gesehen weit und breit eigentlich nur die damals bei der Dr.C.-Wahl nicht berücksichtige FDP-Frau wählbar (mit RegRat und NR Erfahrung).

    • am 30.10.2019 um 18:09 Uhr
      Permalink

      Ignazio Cassis hat sich seit jeher als hemmungsloser Opportunist bar jeglichen politischen Instinkts erwiesen. Die Bilanz seines bisherigen Wirkens als Bundesrat kann am treffendsten als nicht enden wollende Kaskade von Peinlichkeiten umschrieben werden. Von der FDP als Quotentessiner in den Bundesrat gehievt, verdankt er seine Wahl einzig und allein seiner Herkunft aus der helvetischen Sonnenstube «oltre Gottardo». Seine Ablösung aus der Landesregierung scheint nachgerade überfällig. Je schneller, desto besser !

    Comments are closed.

    Ihre Meinung

    Lade Eingabefeld...