Kommentar

kontertext: Die Angst weglachen

Anni Lanz © zvg

Anni Lanz /  Was brauchen junge Migranten? Ein Rat für ratlose Gesichter

Vorbemerkung der Gruppe «kontertext»: Anni Lanz ist Menschenrechtsaktivistin und arbeitet heute vor allem im Bereich der Flüchtlingsbetreuung und der Flüchtlingspolitik. Letztes Jahr erhielt sie den Prix Courage Lifetime Award mit der Begründung: «Seit bald 40 Jahren kämpft Anni Lanz für Menschen auf der Flucht.» Sie ist Präsidentin von «Solinetz Basel».  Im Rahmen der Reihe «kontertext» wird Anni Lanz künftig Kolumnen schreiben.

Wenn ich Ibrahim frage, ob er zum Nachtessen komme, dann sagt er immer zu. Ohne Wenn und Aber. Und er kommt jeweils mit noch zwei, drei weiteren Cousins. Wenn ich sie frage, ob sie hungrig seien, sagen sie unterdessen ja, anders als am Anfang, als sie mit einem höflichen Nein antworteten. Und sie sind immer hungrig.

Ibrahim und seine Cousins sind minderjährige Flüchtlinge, die ich kenne, seit sie ihre schlimme Flucht durch die Türkei und über die Schengener hinter sich gebracht haben. Als sie ankamen, sah ich sie zum ersten Mal: eingeschüchtert, ausgehungert und erschöpft. Seither habe ich regelmässig mit ihnen Kontakt, bekoche sie, helfe ihnen beim Deutsch und beim Schreiben lernen, mache mit ihnen Spiele und Ausflüge. Sie sind zutraulich geworden, helfen mir, wo meine Kraft nicht mehr ausreicht. Beim letzten Ausflug über gefrorene Wege haben sie mich kurzerhand am Arm genommen und sicher über die Rutschflächen geführt. Wenn wir zusammen essen, kommt auch ihr Onkel. Dann wird in der heimatlichen Sprache ausgiebig erzählt und gelacht. Leider kann ich den Gesprächen noch nicht folgen.

Einer der Cousins ist ein begabter Geschichtenerzähler. Wenn er erzählt, kugeln sich die andern vor Lachen. Wenn ich frage, worum es denn in dieser lustigen Geschichte gehe, erklärt mir der deutschkundige Onkel, es sei eine Geschichte von einem bekannten gehbehinderten Dorfbewohner, der von den Taliban festgenommen, auf ein Motorrad gesetzt und zur Hinrichtung fortgefahren wurde. Der Arme habe so grosse Angst gehabt, dass er kein Wort mehr hervorbringen konnte. Bloss den Namen des Dorfältesten konnte er herausbringen. Dieser konnte ihn dann Dank seiner Weisheit und seinem Einfluss vor dem Tod retten. Der Gerettete brachte vor Glück kein Wort hervor und küsste dem Dorfältesten endlos die Füsse und Hände. Ich fragte, was denn so lustig sei an dieser traurigen Geschichte? Es sei die überwältigende Angst, die sie zum Lachen bringe, erklärte man mir. Alle hätten Angst vor den Taliban.

Ohne soziale Zuwendung schafft er es nicht

Kürzlich war ich zu einer kleinen Tafelrunde eingeladen, als ein Tibeter, ein Analphabet, zu erzählen begann, wie er sich früher vor dem Gang zur Fremdenpolizei fürchtete und jeweils die ganze Nacht zuvor gebetet hatte. Dann spielte er uns das Gespräch zwischen ihm und der Amtsangestellten vor und wir bogen uns vor Lachen. Auch ohne Schriftkenntnisse hatte er sich eine blumige deutsche Sprache erworben, und Mimik sowie Gesten belebten sein Spiel. Freimütig erzählt er über seine frühere Alkoholabhängigkeit, die er dank seiner hiesigen Bezugsperson Ursula überwinden konnte. Es war ein ausserordentlich lustiger Abend, doch eigentlich ging es auch da um bodenlose Abgründe und unbändige Angst.

Ich lerne manches über Gepflogenheiten, über das Selbstverständliche in fremden Kulturen, über die Tabus, die nie angesprochen werden, darüber, was belustigt oder verletzt. Ich gebe Zuwendung und erfahre Anerkennung , erlebe ein menschliches Miteinander, das mir Lebenskraft gibt. Ich habe eine grossmütterliche Rolle schon lange vorher übernommen, auch bei den wöchentlichen Gefängnisbesuchen von Ausschaffungshäftlingen. Manche von ihnen waren früher straffällig geworden, hatten eine Strafhaft abgesessen und sollten nun ausgeschafft werden. Beispielsweise der junge Bilen , der mit vierzehn Jahren in die Schweiz kam und an seinem 18. Geburtstag einen negativen Asylentscheid erhielt. Er verlor den Boden unter den Füssen, konsumierte Drogen. Hätte ich ihn als Minderjährigen kennen gelernt und begleitet, wäre es vermutlich nicht dazu gekommen, denke ich. Oder Hassan, der in seiner Jugend durch ganz Europa irrte, nirgends einen sicheren Ort fand, keine Ausbildung und keine Beschäftigung bekam und schliesslich zu stehlen begann. Er möchte ein neues Leben beginnen, aber ich weiss, ohne soziale Zuwendung wird er es nie schaffen.

Ratlos oder hirn-und herzlos?

Ich sehe die ratlosen Gesichter von Behörden in einer TV-Sendung zu den Diebestouren von jungen Migranten. Die Anwohner sind besorgt und verlangen eine sofortige Lösung, die es natürlich nicht gibt. Von der obersten Chefin der Flüchtlingsbehörde werden sofortige Abhilfemassnahmen gefordert. Sie wird von der Moderatorin in die Zange genommen. Dabei wissen es eigentlich alle: Es bräuchte statt eines unseriösen 24 stündigen Schein-Asylverfahrens ein  besseres Zusammenleben, mehr Entwicklungschancen für alle. Damit wären zwar nicht alle Probleme gelöst. Aber soziale Zuwendung ist stets eine Win-win-Situation, für die es keinen Ersatz gibt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Anni Lanz arbeitet in der Flüchtlingshilfe.

Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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2 Meinungen

  • am 24.12.2023 um 11:42 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrte Frau Lanz
    Herzlichen Dank für Ihren Artikel und Ihr Erlebtes. Für mich sind das sehr wichtige Erzählungen und Informationen.
    Ich bin in der Schweiz aufgewachsen und mein Bild ist – auch mitgeprägt durch die Politik und Medienlandschaft – unter Umständen weit weg von der Realität der Menschen, die solches erdulden und erleben müssen.
    Einerseits eine sehr berührende Erzählung, im Kern äusserst traurig, ohnmächtig und am Schluss wunderbar auf den Punkt gebracht, die Ohnmacht weggewischt:
    weg von Behauptungen und dem Meinungsmanagement zu Gunsten eigener Einflusssicherung,
    hin zur Menschlichkeit.
    Frohe Weihnachten und Festtage

  • am 24.12.2023 um 13:37 Uhr
    Permalink

    Niemand bestreitet das es viel Leid auf dieser Welt gibt. Wir werden aber dieses Leid nicht lindern, nicht einmal im Ansatz lindern, wenn wir die Leidenden zu uns nach Europa holen. Das ist Unsinn und schadet insbesondere Deutschland wo die meisten Flüchtling hin wollen. Wir sind auch nicht Verantwortlich für das ganze Leid das es auf der Welt gibt. Wir sind verantwortlich für das was in unsren Ländern hier in Europa geschieht. Wir sollten uns also in Deutschland um die Regierung kümmern.

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