Sperberauge

Auch der «Tagi» macht’s billig

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Die einen kritisieren die NZZ, die anderen kündigen sogar ihr Abo. Aber ist die Konkurrenz, der «Tagi», besser?

Für die NZZ ist es klar: USA/NATO gut, Russland böse. Das hat einen grossen Vorteil: Der Beobachtungs- und Recherchier-Aufwand ist null, es macht den Journalismus preisgünstig oder eben – im doppelten Sinne des Wortes – billig. Differenzierte und faktenbasierte Analysen wären teuer.

Die kommerzielle Konkurrenz auf dem Platz Zürich, der «TagesAnzeiger», scheint allerdings auf den gleichen Kurs einzuschwenken. Da gab’s zum Beispiel die gute Idee des «Magazins», im Jahresrückblick auf die verschiedensten Themen einen Blick zu werfen. Aber was konnte man da etwa unter dem Stichwort «Ukraine» lesen? Der mit dem «Prix Média 2019 der Akademien der Wissenschaften» ausgezeichnete Wissenschaftsjournalist Mathias Plüss, der ausserhalb seiner Spezialität auch mal ganz locker über das tschechische Bier zu berichten weiss, schrieb da ebenso locker über die Situation in diesem Land. Da konnte man dann lesen: «Das Land (die Ukraine) ist zusammengewachsen. In zentralen Fragen – in ihrem Glauben an europäische Werte, in ihrem Bekenntnis zum ukrainischen Staat – ist sich die Bevölkerung heute weitgehend einig.» Und an anderer Stelle: «Die gesellschaftliche Ungleichheit ist heute die geringste auf der ganzen Welt.» Es verschlug einem die Sprache: Diese Aussagen ausgerechnet ein Land betreffend, das versucht, einem guten Drittel der Bevölkerung eine andere Muttersprache aufzuzwingen, und das im Südosten des Landes gegen russlandfreundliche Mitbürger einen Krieg mit Tausenden von Toten führt? Und das alles mit dem Glauben an «europäische Werte»? Und die weltweit «geringste gesellschaftliche Ungleichheit» in einem Land, in dem eine Handvoll milliardenschwerer Oligarchen das alleinige Sagen haben, während die Mehrheit der Bevölkerung am Rande der Armut dahinvegetiert? Wie bitte? Die «geringste gesellschaftliche Ungleichheit auf der Welt»?

Dabei ist der Wissenschafts-Journalist Mathias Plüss mit seinen abstrusen Feststellungen zur Ukraine nicht allein in der Redaktion mit seltsamen Kommentaren zu Osteuropa. Hans Brandt, ein anderer Redaktor des «Tagi», weiss von Putin, dass bei ihm «einzig die Macht» zählt. Im September, als das EU-Parlament einer von Polen eingebrachten Resolution zustimmte, wonach der Zweite Weltkrieg mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt begonnen habe und mit der die Kriegsschuld schon mal zur Hälfte von Hitler-Deutschland weg Richtung Russland verschoben wurde, war das dem «Tagi» keine Zeile wert. Jetzt aber, wo Putin ob dieser unglaublichen Geschichts-Neuschreibung durch Polen ausnahmsweise seine ruhige, meist überlegene Art verloren und den damaligen polnischen Botschafter in Berlin Józef Lipski als «antisemitisches Schwein» bezeichnet hat, war die Gelegenheit günstig, diesem bösen Putin wiedermal tüchtig an den Karren zu fahren (siehe unten). Auch für den «Tagi» ist klar: USA (und ihr Vasall Polen) gut, Russland böse. Wenn das schon alle anderen Zeitungen so handhaben, dann ist’s ja wohl das beste, es auch so zu tun, historische Fakten hin oder her.

Da hat man sogar Verständnis, wenn der russische Botschafter in Bern mit einem Kommentar auf Facebook versucht, Gegensteuer zu geben – eine vergebliche Liebesmüh wahrscheinlich. (Für jene, die des Botschafters Gegensteuer-Versuch lesen wollen: der Text ist unten einsehbar).

Nicht alle Journalisten können Geschichte studiert haben. Aber jene, die nun plötzlich die Russen als Verursacher des Zweiten Weltkrieges in die Kriegsschuld zu ziehen versuchen, sollten wenigstens einmal die Hitlers «Ostpolitik» betreffenden Seiten in Adolf Hitlers «Mein Kampf» lesen. Da steht, schwarz auf weiss und lesbar schon etliche Jahre vor 1939, dass es Hitlers Programm war, russischen Boden zu erobern, um für «unser deutsches Volk» mehr «Grund und Boden» zu erhalten, da «Deutschland seine Zukunft nur als Weltmacht» durchsetzen könne. Zitat aus «Mein Kampf»: «Nicht West- und nicht Ostorientierung darf das künftige Ziel unserer Aussenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk.»

Für die unter Zeitdruck stehenden «Tagi»-Journalisten erfordert die Kenntnisnahme geschichtlicher Fakten offensichtlich zu viel Zeitaufwand. Das NATO-Mitglied Polen in Schutz zu nehmen und Russland in die Pfanne zu hauen, das kann ja nie falsch sein. Also rein ins Blatt mit dem Kommentar.

An der gestrigen «Dreikönigstagung» der Schweizer Medien-Branche hielt natürlich auch Pietro Supino, seines Zeichens Verwaltungsratspräsident der Tamedia (seit 1.1.2020 neu TX Group), Herausgeberin des «TagesAnzeigers», und seit etlichen Jahren Präsident des Verbandes Schweizer Medien VSM, eine Rede. Dazu rapportiert persoenlich.com: «Der Balance-Akt zwischen inhaltlicher Arbeit und Kostenmanagement werde im neuen Jahrzehnt noch anspruchsvoller. Steigende Erträge im digitalen Geschäft vermöchten die Rückgänge im Print bei weitem nicht zu kompensieren. Bemerkenswert sei, dass das Medienangebot in der Schweiz trotz dieser dramatischen Entwicklung hervorragend bleibe, sagte der Verlegerpräsident.» Womit Supino von oberster Stelle des «TagesAnzeigers» bestätigte, dass seine Journalisten und Journalistinnen vor allem billig produzieren müssen.

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Siehe dazu

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Für jene, die an den originalen Texten von Hans Brandt und der Antwort des russischen Botschafters in Bern interessiert sind, hier die beiden Texte vollumfänglich.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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10 Meinungen

  • am 9.01.2020 um 10:35 Uhr
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    Tagi oder NZZ, beide sind für mich Auslaufmodelle! Hoffentlich bleibt der infosperber gesund.

  • am 9.01.2020 um 10:58 Uhr
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    Ach Herr Müller: Sie sollten bei Ihrem Brückenbauer-Artikel noch hinzufügen, dass einem der Optiker den Balken aus dem Auge entfernt, welches nur die Splitter in den Augen der anderen sehen.

  • am 9.01.2020 um 12:20 Uhr
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    Herzlichen Dank für diesen interessanten Artikel, Herr Müller. Seit diesem Jahr wird der Auslandsdienst der SDA an die DPA (aus Kostengründen) ausgelagert. Das bedeutet, dass wir in Zukunft über den Grossteil der CH-Medienlandschaft das gleiche Narrativ haben werden – auf der Trans-Atlantikbrücke ideologisch aufgearbeitet und von den Massen-Medien-Journalisten per «copy/paste» übernommen. Das benötigt nicht viel Arbeit und ist billig. Im geopolitischen Bereich also praktisch kein Unterschied zwischen NZZ, Tagi, BZ, usw, usw. Zum Glück gibt es noch einige freie Journalisten und den Infosperber. Das ist mir eine Spende Wert 🙂

  • am 9.01.2020 um 12:54 Uhr
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    Danke, Christian Müller! Die entscheidenden Worte des russischen Botschafters befinden sich am Schluss seines Textes:
    „Russland war und bleibt ein Teil des europäischen Kontinents. Uns verbindet so vieles: kulturell, historisch und auch menschlich. Offen sind wir auch für die Schaffung eines gemeinsamen wirtschaftlichen und humanitären Raums vom Pazifik bis zum Atlantik. Im breiteren Kontext sehen wir auch Perspektiven für die Gründung einer grossen eurasischen Partnerschaft. Zweifelsohne soll diese Zusammenarbeit auf einer gegenseitig vorteilhaften Grundlage beruhen im Verlaufe eines vertrauensvollen Dialoges auf Augenhöhe und nicht in der Sprache der Drohungen und Ultimaten.“
    Er sieht das richtig, aber genau das will die USA um jeden Preis verhindern. Letzter Versuch: Die Öl-Zufuhr durch die Strasse von Hormuz durch eine Provokation Irans zu blockieren. Wenn die EU dem nicht den Riegel vorschiebt, dann ist der nächste europäische Konflikt vorprogrammiert

  • am 9.01.2020 um 14:07 Uhr
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    Schade! Muss man bald auch den TAGI als neutralen, ausgewogenen, fairen NEWS Verbreiter abschreiben ? Und NUR alles wegen Konkurrenz im Internet, der die finanzielle Basis schmälert? Komisch, uns und unserer Jugend wird doch immer wieder eingebläut und von allen Politikern bestätigt, ihr müsst keine Angst haben vor neuer Technik, Automation, Robotern, künstlicher Intelligenz und dem Internet. Wenn ihr immer a jour bleibt, Weiterbildung betreibt, flexibel bleibt, kann das nur positiv angesehen werden. Berufe die wegfallen, werden durch andere ersetzt. UND es werden viel mehr neue geschaffen.
    Ohhh, ist das bei den Zeitungen etwa anders? Müssen die Angst haben?….

  • am 9.01.2020 um 15:04 Uhr
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    Beim Tagi ist es noch schlimmer als hier dargestellt. Seit er seine Auslandsberichterstattung weitgehend an die «Süddeutsche Zeitung» ausgelagert hat, gilt nur noch «USA/NATO gut, Russland/China böse."

  • am 10.01.2020 um 12:18 Uhr
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    Zitat aus obigem Artikel: «Diese Aussagen ausgerechnet ein Land betreffend, das versucht, einem guten Drittel der Bevölkerung eine andere Muttersprache aufzuzwingen, und das im Südosten des Landes gegen russlandfreundliche Mitbürger einen Krieg mit Tausenden von Toten führt? Und das alles mit dem Glauben an «europäische Werte» Zitat Ende.

    Bei allem Respekt, aber aus historischer Sicht sind das doch die Europäischen Werte. Vielleicht wollte der Tagi Autor ja eine unterschwellige Botschaft verbreiten ;-).

    Wer denkt, der Tagi sei besser als die NZZ der erinnert mich an einen Facebook Kontakt der mir mal schrieb: «Du kannst nichts glauben was in unseren Medien steht. Lies besser RT Deutsch.»

    Jedes Medium ist abhängig. Konzernmedien vom grossen Kapital und somit von den Besitzer eben jenes, Staatsmedien von Behörden und (globaler) Politik (und dem grossen Kapital) und Internetmedien von ihrer jeweiligen Ideologie ohne die sie nicht existieren würden. Man kann kleine Internetmedien als Idealisten und die grossen Staats- und Konzernmedien als Opporunisten bezeichen. Idealisten scheitern immer wieder bei der Suche nach der Wahrheit gerade auch wegen ihrer Ideologie (ich weiss das nur zu gut), aber sie suchen sie immerhin aufrichtig was man von Opportunisten nicht erwarten kann. Ich denke, dass sollte man im Hinterkopf bewahren, wenn man Medien konsumiert.

  • am 10.01.2020 um 14:22 Uhr
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    Kluge Worte von Michel Mortier. Danke. Mit Drohungen, Sanktionen und Ultimaten kommen wir nicht weiter. Daher haben wir Bürger in der Schweiz, Europa und weltweit wirklich andere Sorgen:
    Klima, Altersrenten, Altersarmut, Arbeitslosigkeit. Daher gelten heute immer noch die Worte von Willy Brandt, Deutscher Bundeskanzler von 1969 bis 1974: „Wandel durch Annäherung“.
    Niklaus Berwert

  • am 10.01.2020 um 20:06 Uhr
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    Vielleicht muss man die Hoffnung fahren lassen – so scheint es nach dem Lesen dieses Artikels – dass sich hier Menschen zusammenfinden, die für Russland eintreten wollen gegen antirussische (sei es dumme oder strategisch gelenkte) Propaganda und dabei 1. mit ihrer prorussischen Positivität die russische Bevölkerung, ihre Lebenssituation und Kultur meinen und diese nicht mit der Politik der sich selbst bereichernden Clique im Kreml verwechseln, 2. die Illusion aufgeben, dass man für dieses Russland etwas Gutes bewirkt, wenn man ohne vertiefte Kenntnis die Ukraine schlechredet und dafür die echten Probleme der russischen Bevölkerung schönredet. Eine solche von mir erträumte Community würde die russische und die ukrainische Bevölkerung in Schutz nehmen gegen westliche und russische Feindbild-Propaganda und die tatsächliche Lebenssituation beider Bevölkerungen zu verstehen versuchen ohne die geringste Sympathie für imperiales Gehabe der russischen oder nationalistisches Gehabe der ukrainischen Regierung, weil beide ideologischen Taktiken die materiellen und geistigen Lebensinteressen der Bevölkerungen betrügen.

  • am 12.01.2020 um 16:32 Uhr
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    Danke Peter Lüthy, Sie bringen es auf den Punkt. Eine Würdigung der Zivilgesellschaft in diesen Ländern findet im Infosperber mit wenigen Ausnahmen (zB die differenzierten Beiträge von Roman Berger) kaum statt. Im Gegenteil, es wird einfach mit umgekehrten Vorzeichen ein Gegennarrativ zelebriert ganz im Sinne von Putin und seinen ihm hörigen Oligarchen, welche alles unternehmen, um jedwelche zivilgesellschaftliche Organisationen im eigenen Land oder den Ländern in «ihrem Einflussbereich» zu diskreditieren, da sie für ihn und für andere «autoritär-demokratische» Regimes (zB Türkei, Ungarn) eine grosse, direkte Bedrohung sind. Sie werden daher mit allen, auch groben Bandagen bekämpft und entweder mit «getürkten Beweisen» kriminalisiert oder als vom Westen oder von Neonazis gesteuert dargestellt.
    So vehement das russische Regime den direkten Gegner als Nazi brandmarkt, so stark ist die Sympathie und auch finanzielle Unterstützung von rechtsnationalen Bewegungen in Europa (FN, Lega, etc), welche zT grosse Mühe haben, sich von «faschistoiden» Mitgliedern in den eigenen Reihen abzugrenzen, wo sie es denn versuchen. Oder wie gerade bekannt wurde, wird in Russland offenbar sogar versucht, Mussolinis Faschismus geschichtlich reinzuwaschen ("Unerwartete Ehrenrettung für den Faschismus – ausgerechnet in Russland», Markus Ackeret, NZZ vom 11.01.2020).

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