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Seine Kritik ist immer noch gültig: Der US-Medienwissenschaftler Neil Postman © C-SPAN

Midterms: Warum Meinungsumfragen weiterhin wenig taugen

Pascal Sigg /  Die Fehlprognosen zeigen wieder: Medien berichten oft gross über Resultate, ohne die Seriosität der Umfragen zu prüfen.

Zahlreich und bis kurz vor den Wahlen erwarteten Politjournalisten einen Erdrutschsieg der Republikaner bei den US-Zwischenwahlen. Diese Vorhersagen basierten meist auf Meinungsumfragen. Doch besonders in den USA ist politischen Meinungsumfragen nicht erst seit dem vermeintlich überraschenden Wahlsieg Donald Trumps über Hillary Clinton kaum zu trauen. Vor wenigen Wochen befragte die New York Times für einen kritischen Beitrag zehn Meinungsforscher. Das Fazit: Das Misstrauen, welches die öffentliche Debatte der US-Gesellschaft durchdringt, beeinflusst auch die Meinungsumfragen entscheidend negativ. Zudem erfolgen sie häufig auf dünner Datenbasis.

Trotzdem verweisen viele Schweizer Medien regelmässig auf irgendwelche US-Umfragen und basteln sich daraus Fernanalysen. 20 Minuten berichtete kürzlich von einer vermeintlich aufsehenerregenden Nachwahlbefragung. Cash glaubte, belegt durch Umfragen, die Zwischenwahlen würden sich an der Zapfsäule entscheiden. Auch die NZZ orakelte vor den Wahlen mithilfe von Umfragen. Und auch in Artikeln der Tamedia-Zeitungen findet man sie häufig. Watson war kürzlich immerhin ehrlich und fragte in Bezug auf zwei widersprüchliche Umfrageergebnisse: «Wie soll man das begreifen?» Die Resultate wurden im Artikel trotzdem nicht infrage gestellt.

Dabei gäbe es genügend fundamentale Kritik an Meinungsumfragen. Der hellsichtige US-Medienwissenschaftler Neil Postman formulierte sie in seinem weiterhin hochaktuellen Buch Das Technopol: Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft bereits vor 30 Jahren (ganzes Buch als PDF).

Zusammengefasst lauten die vier Argumente:

Erstens: Die Art der Fragestellung in Umfragen beeinflusst die Resultate entscheidend.

Postman: «Wenn wir Menschen die Frage stellen, ob sie es für akzeptabel halten, dass die Umwelt weiter verschmutzt werde, erhalten wir höchstwahrscheinlich ganz andere Antworten als auf die Frage: Sind Sie der Meinung, dass dem Umweltschutz vorrangige Bedeutung zukommt? Oder: Halten Sie die Sicherheit auf den Strassen für wichtiger als den Umweltschutz?»

Zweitens: Meinungsumfragen suggerieren, dass eine Meinung eine Information in einem Kopf ist, die von einem Forscher mit Fragen lokalisiert und extrahiert werden kann.

Postman: «Es wäre eigentlich richtiger, zu sagen, dass Menschen Meinungen nicht einfach ‹haben›, sondern in einem ständigen Prozess des ‹Meinens› oder der ‹Meinungsbildung› begriffen sind. Die Meinung als messbares Ding aufzufassen, verfälscht den Prozess, in dem sich die Menschen ihre Meinung tatsächlich bilden, und dieser Prozess steht in engster Beziehung zu dem, was den Kern einer demokratischen Gesellschaft ausmacht. Die Meinungsforschung sagt uns hierüber nichts und neigt dazu, diesen Vorgang unserem Blick zu entziehen.»

Drittens: Meinungsumfragen berücksichtigen selten, was die Menschen über die Themen, zu denen sie befragt werden, eigentlich wissen.

Postman: «Überlegen wir doch einmal, was wir von Meinungsumfragen halten würden, wenn stets zwei Fragen gestellt würden, eine, die ermittelt, was die Menschen ‹meinen›, und eine, die ermittelt, was sie über das jeweilige Thema ‹wissen›. Unter Verwendung von ein paar fiktiven Zahlen könnte dabei etwa folgendes herauskommen: ‹Die jüngste Umfrage ergibt, dass 72 Prozent der Amerikaner der Meinung sind, wir sollten Nicaragua die Wirtschaftshilfe entziehen. Von denen, die diese Meinung vertraten, glaubten 28 Prozent, Nicaragua liege in Mittelasien, 18 Prozent glaubten, es sei eine Insel in der Nähe von Neuseeland, und 27,4 Prozent vertraten die Ansicht, ‹die Afrikaner sollen selbst sehen, wie sie zurechtkommen›, wobei sie offensichtlich Nicaragua mit Nigeria verwechselten. Darüber hinaus wussten 61,8 Prozent der Befragten nicht, dass Amerika überhaupt Wirtschaftshilfe für Nicaragua bereitstellt, und 23 Prozent wussten nicht, was ‹Wirtschaftshilfe› bedeutet.›

Wären Meinungsforscher bereit, uns solche Informationen mitzuliefern, so würden das Ansehen und der Einfluss der Meinungsforschung darunter gewiss erheblich leiden.»

Viertens: Politische Meinungsforschung verschiebt Verantwortung.

Postman: «Gewiss sollen Kongressabgeordnete die Interessen ihrer Wähler so gut wie eben möglich verfechten. Aber ebenso gewiss ist, dass Kongressabgeordnete ihre eigene Urteilskraft nutzen sollen, um herauszufinden, worin diese Interessen bestehen. Hierzu müssen sie sich an ihre eigenen Erfahrungen und ihr eigenes Wissen halten.

Vor dem Aufkommen der Meinungsforschung wurden Politiker, denen die Meinungen ihrer Wähler auch damals nicht gleichgültig waren, im Wesentlichen nach ihrer Fähigkeit beurteilt, Entscheidungen auf der Grundlage dessen zu treffen, was ihnen an Weisheit zur Verfügung stand; mit anderen Worten, diese Politiker waren verantwortlich für ihre Entscheidungen. Mit der Verfeinerung und Ausweitung der Meinungsumfragen geraten sie immer mehr unter den Druck, auf eigenverantwortliche Entscheidungen zu verzichten und sich stattdessen den Meinungen ihrer Wähler zu fügen, gleichgültig, wie uninformiert oder kurzsichtig diese Meinungen sind.»

Insgesamt führen Meinungsumfragen für Postman zu einer «riesigen Menge gänzlich nutzloser Information». Einerseits verdeckt dieser Haufen das für den Wahlausgang sehr relevante Gerrymandering – also die parteiische Einteilung der Wahlkreise. Andererseits lässt dieser Haufen auch jede Information, unabhängig ihrer Qualität, auf demselben Level erscheinen. Vor diesem Hintergrund ist nicht erstaunlich, dass auch die Resultate von Meinungsumfragen häufig zuerst aufgrund ihres Effekts beurteilt werden. So sagte der damals amtierende Präsident Donald Trump vor den Midterms 2018: «Ich glaube nur den Umfragen, die uns vorne sehen.»

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Pascal Sigg

Pascal Sigg ist Redaktor beim Infosperber und freier Reporter.

3 Meinungen

  • am 14.11.2022 um 12:34 Uhr
    Permalink

    Stets amüsant und gleichermaßen irreführend die immergleich verallgemeinernden Umfragen in den Käseblättchen und im ÖPNV-TV: «52% der Österreicher…», etc. pp. Niemals steht da korrekt «52% der Befragten…» – es wird immer verschleiernd hochgerechnet und damit natürlich Inhalte suggeriert, die grob irreführend sind. Auch der schöne Begriff der «Mehrheit» wird meist auf die relative Mehrheit (x>y>z) bezogen, während der durchschnittliche Leser meist unter «Mehrheit» eine absolute (x>50%) versteht. Leider konzentrieren sich Meinungsmacher, Politiker und PR-Agenturen sehr auf diese Umfragen und stützen sich dann in diese scheinbare Mehrheit. Diese gefährlichen demokratiefeindlichen Zahlenspielchen haben u.a. die Covid-Hysterie und den damit rechtfertigten Grundrechteabbau sehr getrieben. Meinungsumfragen bedienen allzu oft Psychotricks und setzen auf die kurze Aufmerksamkeitsspanne, die das Erfassen von Details verhindert.

  • am 14.11.2022 um 18:16 Uhr
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    Tja in diesem Fall war der Treffsicherheit der Umfragen besonders förderlich, dass Leute über die Festnetznummer kontaktiert und befragt wurden. Und wer hat denn noch eine Festnetznummer?

    • Portrait_Josef_Hunkeler
      am 15.11.2022 um 20:16 Uhr
      Permalink

      Ich, ich habe noch eine Festnummer und ich erhalte immer noch diese dofen Anfragen, wenn es nicht irgendein Trickser im Microsoft Business ist. Seit ich hier nur noch strikt auf französisch antworte, hat sich das etwas beruhigt. Eine Kollegin aus Genf sagt allerdings, dass es auch «arnaqueurs» gäbe, die fliessend französisch sprechen.

      Bei den Krankenkassen-«racoleurs» genügt es in der Regel zu sagen, dass ich alt und potentiell chronisch krank, d.h. ein «schlechtes» Risiko sei… selbst wenn der Risikoausgleich das vergolden könnte.

      «Mimi masiquini, matabishi, matabishi…» ist doch irgendwie ein Spiel, das durch die Umfragen sozial aufgewertet wird. Wenigstens verdienen die Leute der «call centers» ihr Mittagessen.

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