Flüssiggas

Flüssiggas-Hamsterkäufe Europas verdrängen Entwicklungsländer aus dem Markt © NDR

Verhängnisvolle Nebenwirkungen der Sanktionen gegen Russland

Markus Mugglin /  Die Sanktionen gegen Russland wirken, verursachen aber unerwünschte politische und wirtschaftliche Schäden.

«Was bringen die Sanktionen gegen Russland?» fragte jüngst die Zeitschrift «Internationale Politik» und publizierte dazu je einen Pro- und einen Contra-Artikel.

Guntram Wolff, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Aussenpolitik (DGAP) beschreibt, wie die EU-Massnahmen Russlands Wirtschaft und Militär erheblich schwächen. Heribert Dieter von der Stiftung Wissenschaft und Politik schätzt deren Nutzen hingegen als begrenzt und die Kollateralschäden als enorm ein.

Sanktionen aus West-Ost- oder globaler Perspektive

Die Gegenüberstellung von Pro und Contra ist sehr aufschlussreich – weniger wegen einzelner Argumente und Beweisführungen. Sondern vielmehr wegen den zwei verschiedenen Blickwinkeln, aus denen die Autoren die Sanktionen bewerten. Wolff urteilt im Kontext «Westen gegen Russland», Dieter aus globaler Perspektive.  

Guntram Wolff räumt im Pro-Artikel zwar ein, dass die Energiesanktionen insgesamt nicht effektiv waren, kann aber plausibel erläutern, dass Russlands Wirtschaft und Militär geschwächt werden. Viele ausländische Firmen sind aus Russland abgezogen, Hunderttausende hochqualifizierte Russinnen und Russen haben das Land verlassen, der Industrie und dem Militär fehlen Halbleiter, Chips und andere wichtige Güter. China springt nicht in die Lücke. Es kommt zu Produktionsausfällen. Verschiedene hochmoderne Waffensysteme sind wegen Lieferausfällen nicht wie geplant einzusetzen. Und je länger die Sanktionen in Kraft bleiben, desto mehr wird die russische Wirtschaft geschwächt.    

Diese Analyse ist nachvollziehbar, doch sie ist zu eng geführt. Denn die Sanktionen wirken über die beiden Konfliktparteien Westen und Russland hinaus. Wie sind die Schwellen- und Entwicklungsländer betroffen? Und wie die weltwirtschaftliche Ordnung? Diese Fragen blendet der Autor aus.  

Den umfassenderen Blick aufs Thema richtet Heribert Dieter in seinem Artikel «Die Irrtümer der Sanktionsbefürworter». Sie hätten mindestens drei Dimensionen «entweder falsch eingeschätzt oder nicht bedacht».   

Erfahrungen der Geschichte, Schaden für Finanzsystem und Handelskonflikte

«Die Erfahrungen aus der Geschichte» erwähnt Heribert Dieter als ersten Punkt. Schon vor hundert Jahren hätten die westlichen Alliierten den Bolschewismus mit Sanktionen besiegen wollen und seien gescheitert. Die russische Gesellschaft, gibt Dieter zu bedenken, dürfte «ein Mass an Improvisationskunst und Leidensfähigkeit entwickelt haben, das westliche Gesellschaften deutlich übersteigt».   

«Das Finanzsystem wird geschädigt», ist für Heribert Dieter die zweite von den Sanktionsbefürwortern unterschätzte Dimension. Das Einfrieren russischer Forderungen und der Ausschluss russischer Banken von SWIFT zur Abwicklung grenzüberschreitender Zahlungen treffe vor allem den Westen selbst. Der chinesische Konkurrent CIPS verzeichne bereits eine starke Zunahme von Transaktionen. Und je länger die Sanktionen verhängt werden, desto mehr würden nicht-westliche Länder Zahlungen ausserhalb des westlichen Finanzsystems abwickeln.

Wegen des Risikos, dass im Ausland angelegte Währungsreserven wie im Falle Russlands beschlagnahmt werden, dürften sich Länder vermehrt davor hüten, ihre Reserven auf den globalen Kapitalmärkten anzulegen.  

Als dritte Dimension erwähnt Heribert Dieter die Gefahr von Handelskonflikten, die allen Staaten schadeten und gar zum Sargnagel für die regelbasierte internationale Handelsordnung werden können.

Turbulenzen auf den Weltmärkten

Noch sind die von Heribert Dieter erwähnten Nebenwirkungen einigermassen überschaubar. Doch die Warnsignale mehren sich, dass die Handelsordnung über die Beziehungen zu Russland hinaus machtpolitisch ausgerichtet wird. Die USA haben soeben mit Sanktionen gegen Chinas Halbleiterindustrie ihre «America first»-Politik nochmals verschärft. Mit dem «Inflation Reduction Act» im Umfang von 433 Milliarden US-Dollar drohen die USA protektionistische Massnahmen auch gegen Europas Industrie an. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist alarmiert und fordert im Gegenzug zu den USA und China einen «Buy European Act». In deutschen TV-Talk-Shows zeigt man sich schon besorgt.       

Um mehr als nur Ängste geht es in Entwicklungsländern, seit EU-Länder angeführt von Deutschland mit Flüssiggas-Hamsterkäufen Entwicklungs- und Schwellenländern aus dem Markt drängen. Schiffe mit Flüssiggas, die Indien und Pakistan beliefern sollten, wurden nach Europa umgeleitet, weil hier höhere Preise locken. Bangladesch erlitt Strom-Blackouts, weil es sich den Kauf von Flüssiggas nicht leisten konnte. Indien fühlt sich gezwungen, wegen reduzierter Gasimporte Kohlekraftwerke aufzufahren.  

Noch schwerer trifft afrikanische Länder die massive Verteuerung auf den Agrarmärkten. Getreide- und Düngemittelexporte aus der Ukraine und Russland sind zwar seit Frühsommer wieder möglich. Die rekordhohen Preise liessen wieder etwas nach. Hindernisse gibt es trotzdem noch. Eine «abschreckende Wirkung» für private Akteure, nimmt die Chefin der UNO Organisation für Handel und Entwicklung (UNCTAD), Rebeca Grynspan, wahr. Private Akteure befürchten Reputationsrisiken oder fühlen sich abgeschreckt durch hohe Transaktionskosten für Versicherungsprämien, Finanzzahlungen, Verschiffungs- und Transportkosten, wenn sie bei russischen Lebensmittel- und Düngemittelausfuhren mitwirken.

Die Nebenwirkungen der Sanktionen machen verständlich, weshalb die Schwellen- und Entwicklungsländer sich ihnen nicht anschliessen wollen, auch wenn viele den Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine verurteilen. Die indische Finanzministerin will am G20-Gipfeltreffen auf Bali die «Spillover»-Effekte der Sanktionen auf die globale Wirtschaft zum Thema machen. Die negativen Auswirkungen beschleunigen die Abkehr Afrikas vom Westen, diagnostiziert besorgt ein japanischer Afrikaexperte.

Die Welt ist eine andere als zur Zeit des Kalten Krieges

Die Sanktionen gegen Russland sind in ein ganz anderes internationales Umfeld eingebettet als die Sanktionen im Kalten Krieg es waren. Damals waren die Blockfreien-Staaten ein politischer Faktor ohne wirtschaftliches Gewicht. Heute sind sie auch ein wirtschaftlicher Faktor.

China ist zur Nummer zwei der Welt aufgestiegen, Indien folgt kurz darauf. Indonesien und Brasilien haben mit Ausnahme Deutschlands alle westeuropäischen Länder überholt.  Bereits nach der grossen Finanzkrise von 2008 mussten die G7-Staaten und die EU eingestehen, dass sie die Regeln der Weltwirtschaft nicht mehr alleine vorgeben können. Wenn sie es jetzt wieder versuchen wollen, setzen sich die wirtschaftlich aufstrebenden Länder zur Wehr. 

Die EU täte gut daran, Wirtschaftssanktionen gegen Russland im globalen Kontext zu diskutieren. Auch wenn die vor fünf Jahren vom französischen Präsidenten Macron geforderte «strategischen Autonomie» zu mehr als einer Parole werden sollte: Europa bleibt abhängig auch nach dem Abkoppeln von russischen Gas-, Erdöl-, Kohle- und Uran-Lieferungen. Mit der Transformation zu erneuerbaren Energien wird sich nur die Abhängigkeit ändern – von den fossilen Energien zu Kobalt, Kupfer und Lithium aus nicht-westlichen Ländern.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Kalter_Krieg

Der Kalte Krieg bricht wieder aus

Die Grossmächte setzen bei ihrer Machtpolitik vermehrt wieder aufs Militär und gegenseitige Verleumdungen.

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9 Meinungen

  • am 15.11.2022 um 11:13 Uhr
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    Bereits bei Verhängung der ersten Skt. gegen die RF hagelte es viele Warnungen von namhaften Leuten. Das wurde und wird ignoriert, weil hier allein der pol. Wille und nicht der Nutzen im Vordergrund steht. Die unerwünschten Wirkungen der Skt. werden der RF in die Schuhe geschoben – z.Bsp. beschuldigen europ. Pol. immer wieder die RF, für die derzeitige Rez. verantwortlich zu sein. Es wäre nun Zeit für Einsicht: die Selbstbeschädigung ist immens und wird viele Milliarden verschlingen. Noch dazu werden die Skt. von einem großen Teil der eur. Bevölkerung abgelehnt – sie muss die Folgen tragen, ohne befragt worden zu sein. Dass die RF durch Fachkräfte- und Technologiemangel stark getroffen wird, steht außer Frage. Insgesamt zögert die RF seit Beginn des Krieges, mehr Ressourcen dafür aufzuwenden; gemessen an anderen Invasionen bleibt es kleiner Krieg, der mit wenig Mitteln geführt wird. Die RF kann sich nicht in gleichem Maß wie die EU oder die USA verschulden.

  • am 15.11.2022 um 12:02 Uhr
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    Neben der Frage „wem schaden die Sanktionen?“ stellt sich auch die Frage „wer profitiert?“.
    Antwort: ausschliesslich die USA. Sie verhängen eigenmächtig Sanktionen und zwingen andere Länder zum Nachvollzug im Interesse ihrer Wirtschaft (Waffen, Frackinggas, Finanzindustrie etc.).
    Westliche Politiker getrieben von den Medien spielen mit. Keiner verlangt Sanktionen im Zusammenhang mit den Angriffskriegen der USA, der Saudis, Israels u.a.m.
    Eine traurige Doppelmoral!

  • am 15.11.2022 um 12:57 Uhr
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    Als diesbezügliche Ergänzung, siehe Artikel auf ;
    „Der Irrweg der Sanktionen“; Deutscher Experte übt scharfe Kritik an den Russland-Sanktionen: Diese wirkten „anders als erwartet“ – zum Nachteil des Westens. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9077

    Machtkämpfe hinter der Front (II); Immer mehr deutsche Unternehmen bauen ihre US-Präsenz aus – immer öfter zum Nachteil deutscher Standorte. US-Reindustrialisierung geht mit Deindustrialisierung Deutschlands einher. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9072

  • NikRamseyer011
    am 15.11.2022 um 17:39 Uhr
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    Sehr gute Analyse. Merci! Nur fehlt eine erhellende Zahl. Sie stammt von Goldman Sachs und wurde im «Economist» publiziert. Demnach ist die Wirtschaft Russlands nach Beginn der Sanktionen wohl eingebrochen. Doch hat sie sich inzwischen bis auf + 3% (im Activity Indicator) rasch erholt. Wieso? Zum einen weil die Rohstoffpreise massiv anstiegen (Gas in der Boykott-Eu jetzt 7 mal teurer als im Boykott-Profiteur USA). Zum anderen, weil die Russen durch langjährige immer neue Sanktionen abgehärtet sind – und längst anderweitige Lieferanten und Kunden gefunden haben. Die europäischen Boykott-Helden (vorab Deutschland) hingegen schneiden sich derweil mit ihrer willfährigen Schützehilfe für den US-Wirtschaftskrieg gegen Russland und China tief ins eigene Fleisch: Ihre Volkswirtschaften schrumpfen jetzt kontinuierlich bis gegen – 3% (Deutschland). Was Wunder kommt die gescheite Sarah Wagenknecht zum faktenbasierten Schluss: «Deutschland hat die dümmste Regierung.»

  • am 15.11.2022 um 17:43 Uhr
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    Dass die gegen Russland verhängten Sanktionen, vielmehr aber noch die selbstmörderischen Importbeschränkungen von Gas und Öl den «Wertewesten» weit schwerer treffen würden als die Kriegspartei selbst, war vorhersehbar. Nur geschichtlich ungebildete, lebensunerfahrene und untertänigePolitiker konnten sich deshalb dem von den USA vorgegebenen Kurs anschließen. Den Amerikanern tut das nicht weh, sie haben Öl und Gas (wenn auch aus schmutzigen Quellen). Das Unsolidarische ihres Verhaltens besteht darin, dass sie die europäischen Staaten und darüberhinaus den «globalen Süden» ungerührt in echte Existenzprobleme bringen. Was wir erleben, ist ja erst der Anfang vom Ende unseres Wohlstandes.

  • am 16.11.2022 um 07:59 Uhr
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    Geehrter Herr Mugglin
    Die Regel basierte Ordnung und das internationale Recht sind mir bekannt, aber die regelbasierte internationale Handelsordnung ist Neuland. Haben die USA und die UN fusioniert?

  • am 16.11.2022 um 18:49 Uhr
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    Trortdem finde ich es selbstverständlich, dass man nicht ohne Not bei Kriegsverbrechern einkauft oder mit ihnen Handel treibt. Dazu gehören natürlich nicht nur Russland, sondern alle Grossmächte und viele andere Länder

  • NikRamseyer011
    am 17.11.2022 um 09:07 Uhr
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    Was viele der nun laut nach Sanktionen Rufenden nicht wissen (wollen): Sanktionen sind rein willkürliche Machtmassnahmen, die mit dem Rechtsstaat nichts zu tun haben. Rechtsstaatlich müssten die Regeln nämlich so lauten: «Staaten und Regime, die Menschenrechte oder das Völkerrecht grob verletzen oder andere Länder angreifen, werden wirtschaftlich sanktioniert.» Das gälte natürlich dann für alle Rechtsbrecher (auch USA, Israel, Türkei, Saudiarabien uvm). Aber so ist es leider nicht. Das zeigt sich krass am Schweizer «Embargogesetz» vom 22. März 2002: Da «kann der Bundesrat» (nicht etwa ein Gericht!) «Sanktionen durchsetzen, die von der UNO, der OSZE – oder von den wichtigsten Handelsparnern der Schweiz(!) beschlossen worden sind». Das ist ein reines Mitmach-Gesetz, das die Gewaltentrennung verletzt und Erpressungen durch «Handelspartner» Tür und Tor öffnet. Ein solcher Gesetzes-Krüppel gehört eigentlich abgeschafft. Und die Schweiz sollte sich aus allen Sanktions-Kriegen heraus halten.

  • am 18.11.2022 um 08:48 Uhr
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    Die EU und insbesondere Deutschland als Mächte mit eigenem Willen oder Handlungsspielraum zu betrachten ist in meinen Augen Selbstlüge. Seit 1945 ist der Einfluss der USA in Europa dermassen gross und wurde bewusst entwickelt, dass es schwer ist in der EU etwas anderes als eine US Kolonie zu sehen. Es gibt Dutzende von Autoren welche dies hinreichend untersucht und belegt haben.

    Die Anwendung des Sanktionswerkzeugs und der blinde Gehorsam in der Übernahme desselbigen durch die EU ist ein strategisch äusserst geschickter Schachzug der USA um das Platzen ihrer Blase noch etwas hinauszuzögern, auf Kosten anderer. Weshalb die Gesellschaften in Europa Politiker weiterhin unterstützen, welche derart willfährig gegen das Volkswohl, zum Wohl einer anderen Nation handeln ist mir schleierhaft.

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