Krebserregender Zusatzstoff in Hunderten von Tabletten
Dafalgan Tabletten, Pantoprazol Streuli, Ibuprofen Sandoz – das sind nur drei von über 2200 in der Schweiz zugelassenen Medikamenten, die «Talcum», auf deutsch Talk, als Zusatzstoff enthalten. Bekannt ist der weisse Puder vor allem aus der Babypflege und Kosmetik. Doch Talk befindet sich auch in vielen Lebensmitteln, Süssigkeiten und eben Arzneimitteln. Er soll verhindern, dass sie oder darin enthaltene Wirkstoffe verklumpen.
Inzwischen gibt es jedoch viele Hinweise darauf, dass Talk zu den krebserregenden Stoffen gehört. Dabei ist es ein blosser Zusatzstoff, der relativ leicht ersetzt werden könnte.
Ein Artikel mit Signalwirkung
In den USA läuten jetzt die Alarmglocken. Rund 20 Millionen talkhaltige Tabletten werden dort pro Tag eingenommen – obwohl Studien schon vor über 30 Jahren gezeigt haben, dass Talk das Krebsrisiko erhöhen kann.
Am 10. April erschien im «Journal of the Academy of Public Health» ein Artikel mit dem langen und sperrigen Titel «Überprüfung der Sicherheit von Lebensmitteln und Medikamenten: Dringender Bedarf an einer umfassenden Neubewertung von Talk in der amerikanischen Lebensmittel- und Arzneimittelversorgung durch die FDA».
Am 20. Mai veranstaltete die US-Arzneimittelbehörde FDA einen Runden Tisch mit elf Expertinnen und Experten zum Thema, dessen Ergebnisse in einem Podcast vorgestellt werden.
Laut Wikipedia ist «das Mineral Talk, in pulverisierter Form auch als Talkum bekannt, ein sehr häufig vorkommendes Schichtsilikat und chemisch gesehen ein Magnesiumsilikathydrat». In der Natur kommt Talk meistens in der Nähe oder in Kombination mit Asbest vor, einem bekanntermassen krebserregenden Stoff. Deshalb suchte man vor allem asbestfreie Vorkommen und prüfte Talk, der in Kosmetika eingesetzt wird, auf Asbest-Bestandteile – nicht aber in seiner Verwendung bei Lebensmitteln und Medikamenten.
2020 wurden weltweit 7,6 Millionen Tonnen Talk abgebaut, vor allem in China, Indien, Brasilien, den USA und Südkorea. China ist der weitaus grösste Produzent von Talk. In Europa gibt es nur wenige Abbaugebiete wie etwa Rabenwald in der Steiermark. In der Schweiz existiert ein bescheidener Abbau von Speckstein, der Talk enthält.
Oft geschluckte Cholesterinsenker sind ebenfalls betroffen
In den letzten Jahrzehnten wurden immense Anstrengungen unternommen, Krebserkrankungen in ihren verschiedenen Formen zu bekämpfen und Medikamente und andere Verfahren (Bestrahlung, Chemotherapie) dagegen zu entwickeln. Die Ursachenforschung hingegen wurde vernachlässigt, insbesondere die Suche nach äusseren Ursachen, also solchen, die nicht genetisch bedingt sind. Seit über 50 Jahren sei bei hunderten von Zusatzstoffen, die irgendwann einmal als sicher erachtet wurden, nie mehr eine wissenschaftliche Risikobewertung vorgenommen worden – obwohl neue Erkenntnisse hinzukamen. Einer davon ist Talk.
Unter den zehn am meisten verbreiteten Medikamenten in den USA figurieren vier mit Talk als Zusatzstoff, darunter auf Rang 1 der Cholesterinsenker Lipitor mit dem Wirkstoff Atorvastatin, der jährlich über 10 Millionen Menschen verschrieben wird. In der Schweiz sind über zehn Atorvastatin-haltige Arzneimittel auf dem Markt, die ebenfalls Talk enthalten, beispielsweise Sortis, Atorvastatin Zentiva oder Atozet.
Zudem kommt Talk in vielen verarbeiteten Lebensmitteln wie Kaugummi oder Bonbons vor; die WHO listet über 50 verschiedene Produkte des täglichen Bedarfs auf, die Talk enthalten. Talk hat die Eigenschaft, einzelne Tabletten oder Kaugummis daran zu hindern, sich mit anderen zu verkleben und damit Klumpen zu bilden. So wird in Asien zum Beispiel Talk auch dem Reis beigemischt, um zu verhindern, dass Reiskörner verkleben. Während Babypuder nach langen Diskussionen und politischen Anstrengungen inzwischen talkfrei ist, «nehmen wir es immer häufiger mit der Nahrung zu uns», wie der Moderator des erwähnten Runden Tisches etwas lapidar sagt.
«Starke Anzeichen für krebserregende Aktivitäten»
Dass Talk toxisch und gar krebserregend sein könnte, wurde schon in den frühen 1990er Jahren diskutiert. 1993 fand das Nationale Toxikologische Programm der USA, das der Bundesgesundheitsbehörde untersteht, in Versuchen an weiblichen Mäusen heraus, dass Talk zu Eierstockkrebs führen kann. In der Folge wurden weltweit über 30 Studien zum Zusammenhang zwischen Talk und Eierstock- bzw. Magenkrebs durchgeführt. Menschen, die Talk über Lebensmittel, Medikamente oder Kosmetika in ihrem Körper aufnehmen, haben demnach ein 30 Prozent (relativ) höheres Risiko, an Eierstock- oder Magenkrebs zu erkranken verglichen mit solchen, die diesem Risiko nicht ausgesetzt sind.
Eine Studie mit einer Million Patientinnen und Patienten in Taiwan stellte ebenfalls ein erhöhtes Magenkrebsrisiko fest, wenn diese in irgendeiner Form Talk (ohne Asbest) eingenommen haben. Auch die Krebsforschungsabteilung (International Agency for Research on Cancer, IARC) der WHO widmete sich dem Thema und fand «starke Anzeichen für krebserregende Aktivitäten» im Zusammenhang mit dem Konsum von Talk. Dabei untersuchte die Forschungsstelle nur Talkvorkommen, die nicht im Zusammenhang mit Asbest stehen. Talk wurde im Gewebe von Eierstöcken gefunden, die vom Krebs befallen waren.
EU verbietet Talk in Kosmetika ab 2027
Verschiedene Regierungen haben angesichts dieser Befunde reagiert. Die Europäische Union beispielsweise will Talk in Kosmetika bis 2027 verbieten. Der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) kam nach einer Literaturrecherche zum Schluss, dass es genügend Beweise für die Behauptung gebe, dass Talk an verschiedenen Stellen des Körpers Tumore auslösen könne. Laut dem RAC sei die Tumorentwicklung sowohl im Lungen- als auch im Eierstockgewebe «biologisch plausibel».
In den USA sah sich der Hersteller Johnson & Johnson, der Talk in einigen seiner meistverkauften Kosmetikprodukte verwendet, in den letzten Jahren mit zahlreichen Klagen konfrontiert, die landesweit für Schlagzeilen sorgten. So musste sich das Unternehmen gegen mehr als 60’000 Ansprüche im Rahmen des Konkurses einer Tochtergesellschaft wehren, die sich insgesamt auf zehn Milliarden Dollar belaufen. In Missouri wurden 22 Kläger, die Talkprodukte als krebserregend bezeichneten, mit insgesamt 550 Millionen Dollar abgefunden.
Einfache und kostengünstige Alternativen zu Talk
Gemäss der FDA-Expertinnen- und Expertenrunde gäbe es gute und preisgünstige Alternativen, um die Klumpenbildung zu verhindern. Erwähnt wurden Magnesiumstearat, also das Magnesiumsalz der Stearinsäure, das aus tierischen oder pflanzlichen Fetten gewonnen werden kann. Ebenfalls das Calciumstearat, das Calciumsalz der Stearinsäure.
Beide Alternativen werden bereits in der pharmazeutischen und Lebensmittelindustrie eingesetzt. Für ein generelles, auch politisches Umdenken bedarf es laut der Mehrheit der Teilnehmenden am Runden Tisch noch immer weiterer Studien, vor allem aber brauche es politischen Willen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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