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Fällander Tagebuch 37 © cc

Ein Mensch ist ein Mensch und keine Kommode

Jürgmeier /  Alle Menschen sind gleich. Ein Leben ist ein Leben. Aber der Preis – volatil. 46 Millionen. 220'000. 3426. (Markt-)Preise für Tote.

8. Januar 2020

Alle Menschen
Sind gleich.1
Jede und jeder
Hat das Recht,
Das auf Leben2
Ist ein Leben.
Nur sein Wert –
Der steigt und fällt,
Wie’s der Macht und
dem Markt gefällt.

Alle Menschen sind gleich.
Ein Mensch ist ein Mensch.
Ein Leben ist ein Leben.

Der Preis für das Kind,
Das tote – erdrückt
Von einer Kommode –,
Ausgehandelt von Eltern
Und Möbelhaus Ikea3:
46 Millionen Dollar.
Weil nicht eindringlich
Genug davor gewarnt,
Dass Malm-Kommoden
Kippen und töten
Können.

220’000 zahlte die Swissair4
Für jede und jeden im
Todesflug SR 111, 1998.
Endstation Peggy’s Cove, Kanada.
Haben die Instruktionen
Für Schwimmwesten,
Sauerstoffmasken und
Notrutschen, alle gerappt5,
Den Preis gedrückt?
Weil die Toten wussten,
Was ihnen drohte?

Alle Menschen sind gleich.
Ein Mensch ist ein Mensch.
Ein Leben ist ein Leben.

Durchschnittlich 3426 Dollar6
Überwiesen die USA für eine
Versehentlich getötete
Zivilistin in Afghanistan,
Fünf Mal mehr für ein
Abgebranntes Haus.
Wurde die Bevölkerung
Rechtzeitig und ausdrücklich
Gewarnt? Kamen vor den
Panzern die Lautsprecherwagen?
Damit sie noch hätten fliehen können.

Und weshalb kein Dollar7
Für Agent-Orange-Kinder
Und -Kindeskinder in Vietnam?
Haben sie nicht nur
Die Wälder mit dem Gift
Von Dow Chemical & Monsanto
Besprüht und entlaubt,
Sondern auch Präservative
Abgeworfen, mit der Ermahnung
«Ihr Kind könnte ein Krüppel sein»,
In der Landessprache?

Alle Menschen sind gleich.
Ein Mensch ist ein Mensch.
Ein Leben ist ein Leben.



1 «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.»
(Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1, 1948)

2 «Jeder Mensch hat ein angeborenes Recht auf Leben. Dieses Recht ist gesetzlich zu schützen. Niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden.» (UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Artikel 6, 1966)

3 «Zweijähriger von Kommode erschlagen – IKEA zahlt 46 Millionen an Eltern. Stockholm. Drei Jahre nach dem Tod eines Kindes durch eine umgestürzte Kommode hat sich der schwedische Einrichtungskonzern mit den Eltern des damals zweijährigen Buben auf einen Vergleich geeinigt. US-Medienberichten zufolge soll es sich um eine Zahlung in Höhe von 46 Millionen Dollar handeln – das sind mehr als 44 Millionen Franken… Die Eltern warfen dem Konzern vor, von der Umkippgefahr der Kommoden vom Typ Malm gewusst zu haben, zumal bereits etliche Kinder verletzt oder getötet worden waren. Doch habe Ikea es versäumt, Kunden zu ermahnen, die Möbel an die Wand zu dübeln…» (Tages-Anzeiger, 8.1.2020)

4 «In Rechtsfragen agiert die Swissair schnell und unbürokratisch; neben 20’000 Dollar Soforthilfe erhalten die Hinterbliebenen auch mindestens 195’000 Franken Entschädigung (was indes einige langjährige Rechtshändel nicht verhindert)…» (Neue Zürcher Zeitung, 1.9.2019)

5 «Handyvideos von witzigen Sicherheitsansagen sind ein eigenes Internet-Genre geworden. Es gibt Passagieraufnahmen von überdrehten Flugbegleitern, von rappenden, ironischen, entfesselten und fränkischen. Was sie alle eint: der Wunsch, den monotonen Arbeitsalltag über den Wolken aufzuhellen – und natürlich endlich die verdammte Aufmerksamkeit der undankbaren Fluggäste zu bekommen. Es ist bereits vorgekommen, dass Airlines solche Mitarbeiter, die sich für besonders witzig hielten, zur Mässigung aufgefordert haben. Doch die meisten Fluglinien haben verstanden: Was die Leute auf Youtube gucken, gucken sie auch im Flugzeug und vielleicht merken sie sich dann endlich, wie viele Notausgänge die Maschine besitzt. Seit dieser Erkenntnis ist unter den Fluglinien ein Wettbewerb darum entbrannt, wer die witzigsten Sicherheitsvideos produziert, die ja ebenfalls vor dem Start abgespielt werden und bislang genauso uninspiriert daher kamen wie die Ansagen…» (Süddeutsche Zeitung online, 22.10.2015)

6 «20’000 Dollar für ein abgebranntes Haus; 14’756 Dollar für einen zerstörten Lastwagen; 1799 Dollar für acht getötete Schafe. Aber was ist den USA im Afghanistan-Krieg ein Menschenleben wert? Im Schnitt etwa 3426 Dollar. So viel zahlten die Vereinigten Staaten den Hinterbliebenen, deren Angehörige im Gefecht versehentlich getötet wurden. Das geht aus Recherchen der Website The Intercept hervor, die die Daten unter dem sogenannten ‹Freedom of Information Act› von der US-Regierung verlangt hat…» (Süddeutsche Zeitung online, 28.2.2015)

7 «…Drei Millionen Vietnamesen leiden unter den Folgen des Herbizid-Einsatzes der Amerikaner während des Vietnamkriegs. Entschädigt werden sie nicht… Bei diesen Einsätzen sprühte die US-Luftwaffe auch das dioxinhaltige Agent Orange weitflächig über das Land. Durch die flächendeckende Entlaubung wurde der Dschungel für den Vietcong unbrauchbar als Versteck. Das Gift, das als Kriegswaffe eingesetzt wurde, hat Auswirkungen bis heute. Auch in dritter Generation nach dem Agent-Orange-Einsatz kommen immer noch Kinder mit geistigen Behinderungen und körperlichen Missbildungen zur Welt…» (SRF online, 9.11.2017)


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Keine

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2 Meinungen

  • am 30.06.2020 um 12:10 Uhr
    Permalink

    Ich gratuliere dem Autor zum traurigen Gedicht.
    Der Titel könnte auch lauten: ‹Das Goldene Kalb 2.0›

  • am 1.07.2020 um 09:50 Uhr
    Permalink

    Fällander Tagebuch – (as always) simply the best!

    Kaum jemand führt die Widersprüche, den Irrsinn und Horror derart (erschreckend) klar und kurz vor Augen.

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