Kommentar

Der missbrauchte Erich Fried

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  «Die» Israelis gegen «die» Palästinenser – Frontbildung bis in die Schweiz, auch kulturell. Schlagt euch die Köpfe ein!

«Die Gesellschaft Schweiz-Palästina ist stark israelfeindlich», versichert Georg Humbel in der NZZ am 04.11.23 und führt als Beleg u.a. an, diese Gesellschaft habe «ein Gedicht mit einem Nazi-Vergleich gepostet. Darin werden die Palästinenser mit gequälten KZ-Häftlingen in Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs verglichen. Israel habe das palästinensische Volk ebenfalls in Lager gesperrt. Und wenn es sich zu wehren versuche, bedrohe Israel es mit Bomben und Napalm».

Ja, wer schreibt denn solche Gedichte?

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Damals auf der Berliner Mauer.

Es ist kein geringerer als der österreichische Dichter Erich Fried (1921 – 1988), einer der grossen Autoren des 20. Jahrhunderts und einer der erfolgreichsten Lyriker seiner Zeit. Bei Gelegenheit trug er seine Gedichte auf Marktplätzen vor Tausenden vor.  Dass er nicht genannt wird, erinnert an den Vermerk «Dichter unbekannt», der in Nazi-Anthologien unter Heinrich Heines «Die Lorelei» gesetzt wurde, weil man das populäre Gedicht brauchte, den Namen des jüdischen Verfassers aber nicht nennen wollte.

Verdrängung und Verleugnung

Würde man Frieds Namen nennen, müsste man so einiges zugeben und differenzieren.

Fried war ein Jude, dem sein Judentum nicht gleichgültig war. Er schrieb: «Ich hoffe sogar, auch ohne jüdisches Volksbewusstsein oder israelisches Nationalgefühl, sozusagen nebenher, ein besserer Jude zu sein als jene Chauvinisten und Zionisten, die, was immer ihre Absicht sein mag, in Wirklichkeit ‘ihr Volk’ immer tiefer in eine Lage hineintreiben, die schliesslich zu einer Katastrophe für die Juden im heutigen Israel führen könnte.» Diese Katastrophe ist unterdessen eingetreten.

Erich Fried konfrontiert uns mit der Tatsache, dass die jüdische Geschichte mehr bereithält, als die heutige Diskussion wahrhaben will. Er war Marxist, Antizionist, nichtstalinistischer Sozialist, Sympathisant der Matzpen.  

Aufforderung zum genauen Lesen

Das in der NZZ nicht genannte Gedicht des nicht genannten Autors trägt den Titel: «Warum Palästinenser sich nicht fügen». Georg Humbels Vorwurf lautet, wie zitiert: «Darin werden die Palästinenser mit gequälten KZ-Häftlingen in Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs verglichen.» Dieser Vorwurf ist eine frei erfundene Unterstellung. Frieds Gedicht kritisiert «Israelische Sprecher», die von den Palästinensern verlangen, dass sie sich mit ihrem Schicksal, ihrer Ohnmacht abfinden. Fried erinnert daran, dass in den nationalsozialistischen Lagern Häftlinge, die am Ende ihrer Kräfte waren und sich aufgegeben hatten, «Muselmanen» genannt wurden. Er hegt den Verdacht, dass es wohl kein Zufall, sondern eher Ausdruck europäischer Überheblichkeit sei, dass die KZ-Häftlinge, die sich fatalistisch in alles fügten, ausgerechnet «Muselmanen» genannt wurden, und dass diese abwertenden Vorstellungen von Israelis im Konflikt mit den Arabern reaktiviert werden.

Im Vorwort zu der Gedichtsammlung, in der das inkriminierte Gedicht steht, schreibt Fried u.a.: «Ich kann auch verstehen, dass jeder Vergleich der Untaten des Zionismus mit denen des Nationalsozialismus Empörung auslösen wird. Auch in mir empört sich einiges, wenn ich solche Vergleiche ziehe. Israel hat keine Gaskammern gebaut; auch die Entstehung des Konflikts und die Zahl der bisherigen Opfer entziehen sich dem Vergleich. Aber weil viele Israelis, von einzelnen bis zu Regierungsstellen und militärischen Führungsgremien, deutliche Zeichen des Übernehmens und Weitergebens von Verhaltensmustern ihrer Todfeinde von gestern zeigen, drängt sich dieser hässliche Vergleich manchmal auf und kann auch in den Gedichten nicht ganz fehlen, gerade weil sie verhindern helfen wollen, dass er in der Wirklichkeit immer gültiger und zwingender wird.»

Doppelter Missbrauch

Die hier erwähnten Fried-Zitate und -Gedichte stammen alle aus einer Gedichtsammlung, die 1974 und in erweiterter Form 1983  erschienen ist.  Sie trägt den Titel «Höre, Israel!». Natürlich ist mit «Israel» sowohl der Staat als auch das Volk gemeint. Entscheidend aber ist: Alle Gedichte dieser Sammlung sind Gebete FÜR Israel. In Sorge um Israel, Staat und Volk, führt Fried einen zwar heftigen, aber internen Dialog. Im Namen universeller Prinzipien und um Israels Zukunft willen, tritt er für die Rechte der Palästinenser ein. Frieds Gedichte aus diesem Zusammenhang herauszureissen und für die Frontbildung im aktuellen Krieg einzusetzen, ist ein Missbrauch. Die militärisch dysfunktionale, sadistische Gewaltorgie der Hamas vom 7. Oktober war, wie Dan Diner in der FAZ vom 25.10. mit Recht gesagt hat, «genozidal», d.h. eine Todesdrohung an alle Juden. Organisationen wie die «Gesellschaft Schweiz Palästina», die diese konkrete Hamas-Aktion nicht verurteilen, sondern ausweichen in den Nebel der Allgemeinheit («beide Seiten haben Verbrechen begangen») haben kein Recht, sich auf Erich Fried zu berufen.

Andererseits: Der groteske Versuch, Erich Fried mit der Antisemitismuskeule zu erschlagen, ist eine Folge des dummen und gefährlichen Versuchs, hierzulande klare Fronten zwischen «den» Israelis und «den» Palästinensern herzustellen. Ein bedeutender Sieg der Hamas besteht darin, dass mittlerweile im politischen wie im publizistischen Diskurs «Pro-Palästina» in eins gesetzt wird mit «Pro-Hamas». Es wäre an der Zeit, dass sich die Israel- ebenso wie die Palästina-Bejubler fragen, was sie dazu beigetragen haben, «ihr Volk» immer tiefer in eine Lage hineinzutreiben, die in die derzeitige Katastrophe geführt hat.


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4 Meinungen

  • am 3.12.2023 um 13:13 Uhr
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    Die aktuelle israelische Regierung ist eine einzige Katastrophe. Vor dem 7. Oktober gab es erstmals Massendemonstrationen gegen diese Regierung. Ein durch ein israelisches Gericht verurteilter Innenminister hat kürzlich öffentlich erklärt, dass Gaza definitiv von Israel besetzt werden sollte. Wie konnte sich eine solche Regierung installieren? Haben etwa die in den Grenzen des Staates Israel lebenden Israeli mit Wahlabstinenz geglänzt? Trotz Krieg sollten in Israel unbedingt Neuwahlen durchgeführt werden, was hoffentlich die Hass-Spirale zwischen Israeli und Palästinensern dämpfen könnte.

  • am 3.12.2023 um 19:15 Uhr
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    Aus Angst anzuecken werden in den deutschsprachigen Medien kaum Opferzahlen genannt. Um dies zu rechtfertigen, werden die Zahlen angezweifelt, obwohl die UNO die Opferzahlen als realistisch ansieht. In den ARD-Tagesthemen vom 01.12.23 wurde James Elder von der UNICEF vor Ort interviewt. Nachdem er die dramatischen Lebensumstände geschildert hatte, die schreckliche Notlage der Kinder, die mehr als 100 Toten UN-Mitarbeiter, fragte die Moderatorin: „Was brauchen die Kinder im Gazastreifen“? Hilf- und herzloser geht es nimmer. Wer wissen möchte, wie es wirklich aussieht, sehe sich Al Jazeera News an, mit Berichten aus dem Gazastreifen und aus Israel. Es gibt täglich aktualisierte Zahlen, Berichte und Interviews zu beiden Seiten. Die Zeitung Haaretz berichtet ebenfalls umfänglich und regelmässig insbesondere in Bezug auf die innenpolitische Situation in Israel.

    • am 4.12.2023 um 09:54 Uhr
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      Die Zahlen der UNO werden sehr genau dargestellt, unterschiedlich nach Gebiet und Zugehörigkeit, und zwar von der OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs). Dabei wird unterschieden zwischen beglaubigten Zahlen und solchen vom gegenwärtigen Krieg, die von den Behörden in Gaza und in Israel gemeldet werden.

  • am 4.12.2023 um 16:55 Uhr
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    Ich vermisse seit Beginn dieses Krieges eine neutrale und informative Berichterstattung in den deutschen Medien ARD und ZDF.
    Nachrichten, die mit immer wiederkehrenden parteiischen Adjektiven gesendet werden, entspricht dies einem faktenbasiertem Journalismus?
    Die aktuelle seit 2 Monaten andauernde Kriegsführung Israels aus unserer geschichtlichen Verantwortung einfach so hinzunehmen ,so wie sie ist, und mit dem Recht auf Selbstverteidigung zu rechtfertigen, da vermisse ich Menschlichkeit und das Verstehen, das ein begangener Horror nicht mit einem weiteren Horror rechtfertigt.
    Es wird noch stärkerer Hass gezüchtet und die Kinder/Jugendliche, welche diesen Horror in Gaza miterleben müssen, werden die nächsten Hamaskämpfer….
    Jedes Opfer aus Hass auf beiden Seiten ist zu viel.

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