Kommentar

kontertext: Schweizer Antirassismus – eine Innenansicht

Felix Schneider © zvg

Felix Schneider /  Plötzlich wird auch bei uns gegen Rassismus demonstriert. Wie kommt’s? Zwei Aktivistinnen im Interview.

In den Medien hat das Thema Antirassismus gerade Konjunktur. Das eigentlich Bemerkenswerte und Neue aber, die Bewegung selbst, ist viel zu wenig Thema. Hier eine Innenansicht des Antirassismus in der Schweiz in Form eines Gesprächs mit zwei Aktivistinnen der Bewegung.

Rahel El-Maawi (REM) und Serena Dankwa (SD) sind beide Gründungsmitglieder des Netzwerkes Bla*Sh, einer Wortkombination aus black und she. Rahel El-Maawi ist Tänzerin, Forschende und Lehrende in Soziokultur und Bewegungsforschung, Dozentin an diversen Fachhochschulen, Trainerin in Diversity. Serena Dankwa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Nordwestschweiz und freischaffende Moderatorin. Sie publiziert in den Bereichen Gender, Sexualität und Postkolonialität und ist Mitherausgeberin des Sammelbandes Racial Profiling, struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand

Frau El-Maawi, Frau Dankwa, wie verstehen Sie sich, wenn Sie hier sprechen?

REM: Ich spreche für mich und als kritische Zeitgenossin. Es gibt keine einheitliche Bewegung, die von jemandem repräsentiert werden könnte. Auch in dem Netzwerk, in dem ich mich bewege, haben wir viele Stimmen. Mit Serena Dankwa und Jovita dos Santo Pinto gehöre ich zu den Mitbegründerinnen von Bla*Sh: Wir wollten uns zusammenschliessen, um etwas gegen die Vereinzelung als rassifizierte Person zu unternehmen und Schwarze Frauen sichtbar zu machen. Damit erreichten wir auch, dass Schwarze Frauen adressierbar wurden und wir nun immer wieder angefragt und um Expertise gebeten werden.

SD: Ich war da immer sehr vorsichtig und wollte nur für mich sprechen, weil ich selbst die unangenehme Erfahrung gemacht habe, dass andere für mich sprechen. In den letzten Wochen habe ich allerdings in unseren Bla*Sh-WhatsApp-Gruppen von Menschen, die sich weniger leicht artikulieren können als ich, viel Unterstützung, Ermutigung und Dankbarkeit erfahren, sodass ich merkte: Ich darf mich getrauen, mehr zu sagen. Deswegen rede auch ich tatsächlich ein Stück weit für Bla*Sh.

Bitte stellen Sie uns Bla*Sh vor!
SD: Wir haben Bla*Sh 2013 gegründet. Es ist ein Netzwerk von Schwarzen Frauen mit einer queer-feministischen und intersektionalen Perspektive. Zusammengekommen sind hier tendenziell relativ privilegierte und abgesicherte Schwarze Frauen, die eine westliche Sprache sprechen, Zugang zu Medien haben und eher jünger sind. Bla*Sh ist ein sehr informelles Netzwerk. Wir können also nicht einfach sagen: Jetzt unterschreiben wir diese oder jene Petition. Wir haben keine Geschäftsstelle, wir machen alles freiwillig. Wir müssen uns wahrscheinlich jetzt, wo wir als Bewegung wahrgenommen werden, fragen, in welchen Strukturen wir uns organisieren wollen, damit es nicht zu inneren Spaltungen und Hierarchien kommt. Bla*Sh ist auch ein utopischer Raum, wir brauchen Utopien, wir leben nicht von Brot allein.

Wie halten Sie diese Vielfalt zusammen?
REM: Wir sind in regem Austausch untereinander, unterstützen uns gegenseitig, weisen uns auf Aspekte hin, die Eine von uns vielleicht übersehen hat. Wer spricht, kann so eine Vielfalt abdecken, die sie alleine wohl nicht erreichen könnte. Und dann sind wir natürlich auch stark vernetzt mit vielen anderen Personen und Organisationen in der ganzen Schweiz: Organisationen, die antirassistische Arbeit leisten, Schwarze Organisationen, Antifa-Organisationen mit langen Traditionen, etc.

Wie kam die Bewegung der letzten Wochen zustande?
SD: Nochmal: Für mich gibt es noch nicht DIE Bewegung. Es gibt viele – überraschend viele! – kleine Initiativen, und viele Zusammenhänge.

REM: Bla*Sh alleine hat keine Demo organisiert. Diese grossen Demonstrationen – in Zürich spricht man von 15’000 Leuten an der dritten Demo – gehen auf ganz kleine Netzwerke zurück, die den Mut hatten, zu einer Demo aufzurufen. Zu den ersten Mahnwachen in Bern haben ganz wenig Leute aufgerufen: Lasst uns zusammenkommen, lasst uns trauern, lasst uns sagen, dass Rassismus ein Thema ist – auch in der Schweiz.

SD: Was jetzt geschieht: Viele verschiedene Initiativen, nicht nur Schwarze Menschen, kommen zusammen. Eine neue Kraft entsteht. Und das hat damit zu tun, dass vorgängig viel politische Bildung stattgefunden hat. Frauen, die sich kaum auf die Strasse getraut hatten, die in Vereinzelung gelebt haben, sind zusammengekommen. Gerade bei Frauen ist das ja nicht so einfach. Der Rassismus, den wir erleben, hat immer auch eine sexualisierte Dimension. Um das benennen zu können, muss man in den Austausch gehen. Um überhaupt das Wort zu ergreifen, mussten wir erst mal einen Raum schaffen, in dem wir Gehör finden. Was jetzt sichtbar wird, hat damit zu tun, dass in den letzten Jahren immer mehr solche Räume entstanden sind. Nur schon das Wissen, dass solche Räume existieren, gibt Kraft, auch für Menschen, die nicht zu unseren Treffen kommen. Das kann mobilisierend wirken, auch wenn dann noch so ein Anlass dazukommt wie die vorletzte «Arena» im Schweizer Fernsehen.

REM: Es ist aber nicht das erste Mal, dass wir auf die Strassen gehen. In den letzten Jahren haben sich immer wieder Menschen versammelt – sei es zur Unterstützung bei Gerichtsprozessen gegen Racial Profiling oder nach den gewaltsamen Toden Schwarzer Menschen durch Polizeigewalt. Und auch schon bei der Abstimmung zur Einführung des Antirassismusartikels in der Bundesverfassung 1994 war ich als Jugendliche in meiner Heimatgemeinde an einer Demo. Den antirassistischen Widerstand gibt es schon länger, jetzt wurde er – endlich – grösser und unübersehbar.

Ich habe die Basler Antirassismus-Demo erlebt. Fünftausend Leute, die ruhig und konzentriert den Reden zugehört haben und ausgesprochen friedlich waren. Kein schwarzer Block, kein Putz, keine K-Gruppen. Der Demo-Zug ging an Strassenbahnzügen vorbei, ohne die verführerischen grünen Flächen auch nur mit einem einzigen Graffito zu besprayen. Wie war das möglich?
REM: Die ersten öffentlichen Veranstaltungen widmeten sich dem Gedenken und Trauern. Das war keine aggressive Stimmung. In den sozialen Medien war sehr klar aufgefordert worden: Lasst die Schwarzen Personen sprechen! Weisse Leute, unterstützt die Demo, aber tretet zurück. In Zürich gab es ja dann am Rande der dritten Demo Menschen, die noch andere Ideen hatten, aber angesichts von 15’000 Teilnehmenden blieb das marginal.

SD: Es mag auch eine Rolle spielen, dass viele Schwarze Menschen in der Schweiz so sozialisiert wurden, dass sie möglichst nicht auffallen und besonders friedfertig wirken müssen. Zudem hatte ich gerade in Basel einen Eindruck, der auch von der Hauptrede (die ja auch in Bern zu hören war) explizit bestärkt wurde: Es ging um die Verschränkung verschiedener Formen der Diskriminierung. Mitgedacht wurden Frauen, Transpersonen, non binäre Personen. Es ging auch um Behinderung und Armut. Ein Raum, in dem sich möglichst viele verschiedene Menschen of Colour willkommen und sicher fühlen sollen, kann nicht auf Konfrontation und Gewalt angelegt sein.

REM: Es haben auch nicht die üblichen politischen Veranstalter*innen aufgerufen. Da werden andere Communities angesprochen.

Sie scheinen eine Vorstellung von einer sehr breiten Bewegung zu haben. Denken sie da auch die Migrant*innen und ihre Nachkommen mit?
REM: Ja, wir müssen zusammen an diesem Thema arbeiten. Schwarze Menschen und People of Color sind direkt betroffen und verletzt, aber wenn wir eine antirassistische Praxis einüben wollen, dann sind auch die weissen Menschen gefragt. Rassismus nur auf antischwarzen Rassismus zu reduzieren, ist zu wenig. Es ist wichtig, dass auch muslimische Menschen dabei sind, dass Sinti und Roma erwähnt werden, dass auch jüdische Menschen berücksichtigt sind. Rassismus ist ein sehr breites Phänomen, das sich immer wieder aktualisiert durch Griffe nach und Übergriffe auf Schwarze und anders rassifizierte Körper.

SD: Ich hab auch ein sehr breites Verständnis von «of colour»-Sein, aber man muss auch präzisieren können. In einer Welt, die so stark visuell geprägt ist wie die unsere, spielt die Farbfrage eine Riesenrolle. Und dass das Schwarze in der europäischen Imagination das Böse symbolisiert, ist historisch anders zu verorten und kolonial-rassistisch geprägt. Mein Vater zum Beispiel ist in den 60er Jahren hierhergekommen, hat Italienisch gelernt und hat sich ein Stück weit mit der italienischen Bevölkerung in der Schweiz identifiziert. Mittlerweile ist die italienische Bevölkerung Teil der Schweiz, mein Vater aber ist immer noch Schwarz. Das zeigt auch, dass «race» und «Migration» verschränkt sind und zugleich unterschiedliche Dimensionen darstellen.

Das ist interessant. Sie verstehen die antirassistischen Bewegungen hierzulande also nicht nur als «Nachahmung» von Bewegungen in den USA – so wird das hierzulande ja oft diskutiert – sondern als Initialzündung, die historisch und psychologisch viel tieferliegende Energien zum Ausbruch bringt.
SD: Es gibt viele Schwarze Schweizer*innen und Schwarze Europäer*innen, die nach USA und UK auswandern, obwohl diese Länder ja angeblich rassistischer sind als wir hier, weil sie dort eine Schwarze Community finden. Ich war zwei Jahre in England und zwei Jahre in den USA, wo ich als Afro-Schweizerin wahrgenommen wurde.

Gibt es den Ausdruck Afroschweizer*in?
REM: Er war mal in Gebrauch. Heute sprechen wir eher von Schwarzen Schweizer*innen oder Schwarzen Menschen in der Schweiz.

SD: Es gibt viele Menschen hier, die nicht Schweizer*innen sind, aber zur Schwarzen Schweiz gehören. Ich pusche dieses Wort nicht mehr. Auch die Ausdrucksweise «Menschen mit Migrationshintergrund» – nichts dagegen, aber ich hab keinen. Meine Mutter ist in der Schweiz geboren. Die Definition von Migrationshintergrund des Bundesamts für Statistik – da bin ich einfach nicht dabei. Wenn Leute von mir als Migrantin reden, geht’s nur um eins: um die Hautfarbe.

REM: Ich brauche den Begriff von «Schwarzen Citoyennes» für alle Leute, die hier leben und verwurzelt sind durch Arbeit, Wohnen, Lieben, Familie, unabhängig vom Pass und von der Migrationsdynamik, die sie hierhergebracht hat.

Welches Verhältnis haben Sie zu den Parteien und der Schweizer Demokratie?
SD: Ich habe mich immer schwer getan, mich mit nationalen Institutionen inklusive Parteien zu identifizieren. Das ist ein Stück weit auch strukturell bedingt, weil ich erlebt habe, wie mein Vater von diversen Institutionen und Behörden diskriminiert wurde. Ich wollte immer Kunst machen, wollte weg in eine andere, utopischere Welt und habe mich nur teilweise mit der Welt der Politik identifiziert. Noch heute sehe ich die Grenzen der Parteipolitik.

REM: Diese Grenzen seh ich allerdings auch. Und wie! Ich habe das Verständnis, dass wir alle als Teile der Zivilgesellschaft Politik machen können und dass das Private politisch ist. Wir müssen unsere Anliegen raustragen auf die Strasse und reintragen in die Institutionen, um Veränderungen anzustossen. Ich selbst habe versucht, punktuell mit Parteien zusammenzuarbeiten, ohne regelmässig dabei zu sein. Ich war eine Zeit lang bei den Juso, jetzt bin ich bei der AL und kandidierte auch schon für einen Sitz im Parlament. Ich arbeite jedoch vor allem im vorpolitischen, zivilgesellschaftlichen Raum, hier sehe ich die Hauptkraft für Veränderungen. Ich bin aber auch gewillt, innerhalb des institutionellen Politiksystems etwas beizutragen.

Finden Sie, dass man in diesen Bewegungen politische Forderungen vertreten sollte? Es wäre ja denkbar, dass man an solchen Demonstrationen sagt: Die Konzernverantwortungsinitiative hat eine antirassistische Stossrichtung, weil das internationale Wirtschaftssystem eben rassistisch ist. Kommunales Stimm- und Wahlrecht hätte eine antirassistische Dimension. Diversity in den Medien wäre ein antirassistischer Fortschritt. Das ist aber alles nicht gesagt worden.
REM: Doch, zum Teil wurde es gesagt. Aber im Moment ist der grosse gemeinsame Nenner die antirassistische Arbeit und eine breite gesellschaftliche Anerkennung der rassistischen Strukturen, die auch die Schweiz prägen. Es wird sich dann schon noch ausdifferenzieren. Ich spreche oft über die Konzernverantwortungsinitiative. Das internationale Wirtschaftssystem ist eine nachkoloniale Machtbeziehung, an der auch Schweizer Konzerne beteiligt sind.

SD: Auch das Migrationsregime ist durch und durch rassistisch geprägt, von der Unterscheidung zwischen Drittstaaten und europäischen Staaten, über die Illegalisierung von Geflüchteten bis zu den Gewaltverhältnissen an den Grenzen und in den Abschiebezentren. Und das will man hierzulande noch kaum wahrnehmen.

REM: Ich finde solch weiterführende Forderungen essentiell, sie sind aber nicht der grosse verbindende Nenner, im Moment. Im Moment ist der tolle, grosse Nenner: Wir möchten Gleichheit für alle und nicht für wenige.

Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Felix Schneider, geboren 1948 in Basel. Studium (Deutsch, Französisch, Geschichte). Von Beruf Lehrer im Zweiten Bildungsweg und Journalist, zuletzt Redaktor bei SRF 2 Kultur. Hat die längste Zeit in Frankfurt am Main gelebt, ist ein halber «Schwob».

    • Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe Autorinnen und Autoren über Medien und Politik. Sie greift Beiträge aus Medien auf und widerspricht aus politischen, journalistischen, inhaltlichen oder sprachlichen Gründen. Zur Gruppe gehören u.a. Bernhard Bonjour, Rudolf Bussmann (Redaktion, Koordination), Silvia Henke, Mathias Knauer, Guy Krneta, Alfred Schlienger, Felix Schneider, Linda Stibler, Martina Süess, Ariane Tanner, Rudolf Walther, Christoph Wegmann, Matthias Zehnder.

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Eine Meinung zu

  • am 28.06.2020 um 12:14 Uhr
    Permalink

    Ich äußere mich hierzu jetzt als ‹NICHT-Farbiger› bzw. als ‹SO-AUSSEHENDER, wie die in der Welt FÜHRENDEN›.
    ALLE MENSCHEN mit abweichenden Hautfarben und sonstigen äußerlich-wahrnehmbaren ‹Kriterien› sind ‹betroffen› …
    Gegenwärtig – wg. ‹Corona› – verstärkt auch Asiaten, insbesondere Chinesen …
    Diese ERGÄNZUNG bitte NICHT als ‹Relativierung› o.Ä. verstehen …

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