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René Scheu: Chef Feuilleton der NZZ © nzz

Samstägliche Scheuklappen im Leitartikel der NZZ

Urs P. Gasche /  Ungleichheit habe Vorteile, verkündet René Scheu auf der NZZ-Frontseite – und blamiert sich mit ökonomischer Stümperei.

upg. Mit dem Titel über diesen Artikel habe ich gezögert, weil er auf die Person zielt. Doch obwohl es sich um den gross aufgemachten Samstags-Leitartikel handelt, möchte ich nicht die ganze NZZ-Redaktion in Sippenhaft nehmen.


«Die Schere zwischen ‹den› Reichen und ‹den› Armen öffnet sich immer weiter.» Diesem «Mantra» würden «viele Politiker und Intellektuelle» auch in der Schweiz anhängen. Doch dies sei «zu kurz gedacht», schreibt René Scheu in der NZZ vom Samstag 24. August im Leitartikel auf Seite 1. Denn «In der Ungleichheit liegt viel Kraft – in der Verknöcherung und eindimensionalen Gleichheitsfixierung unserer saturierten Gesellschaft aber liegt die grösste Gefahr für die Zukunft und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.»

Wer die Kluft zwischen Reichen und Armen kritisiert, verbreite ein «schiefes Bild», schreibt Scheu weiter, und müsse sich einen «Populismus nicht nur der Angst, sondern auch des Neids» vorwerfen lassen.

In diesem Leitartikel polemisiert Feuilleton-Redaktor Scheu nicht nur mit dem Begriff «Neid», der jede Debatte zur Verteilungsfrage abklemmt. Gleichzeitig dilettiert er auch bei der Interpretation wirtschaftlicher Daten. Man könne diese «im Netz leicht abrufen» und erkennen, dass «gerade die Armen die grössten Nutzniesser der Globalisierung sind». Die Armut «auf absolutem Niveau … schwindet auf dem Globus ebenso rasant wie die Ungleichheit». Vor allem in China und Indien sei eine urbane Mittelschicht entstanden, deren Einkünfte sich vervielfacht haben.
In den Industriestaaten gebe es zwar eine Kluft, räumt Scheu ein, doch seien die Leute mit niedrigen Einkommen nicht etwa ärmer geworden, sondern die Gutverdiener hätten überproportional zugelegt – in der Schweiz indessen wegen der «ziemlich brutalen Steuerprogression» etwas weniger.

Die grossen Scheuklappen

Der Feuilleton-Chef der NZZ übersieht bei seiner Google-Suche im Netz, dass sich viele Menschen mit ihrem «gestiegenen» Einkommen heute kaum mehr kaufen können als früher, oft sogar weniger. In den USA zum Beispiel waren die Reallöhne (Kaufkraft unter Berücksichtigung der Inflation) der Arbeiter im Jahr 2019 lediglich 12 Prozent höher als vor über fünfzig Jahren im Jahr 1964. (Quelle: Professor Robert Reich, US-Arbeitsminister unter Präsident Bill Clinton, aufgrund von Zahlen des Pew Research Center. Siehe auch Grafik unten mit Zahlen des U.S. Bureau of Labor Statistics).

Seine durch Scheuklappen eingeschränkte ökonomische Sicht beweist der studierte Philosoph aber vor allem dadurch, dass er sich undifferenziert auf Einkommensdaten stützt und damit die Vermögen vernachlässigt. Das ist deshalb von Belang, weil sich Arme und Reiche in erster Linie durch das verfügbare Vermögen unterscheiden. Denn Arme besitzen kein oder fast kein Vermögen, Reiche dagegen verfügen über Ländereien, Immobilien, Aktien, Jachten und Privatflugzeuge. Doch diese Vermögen klammert Scheu vollständig aus und berücksichtigt in seinem ganzen Artikel nur die Einkünfte.
Dabei zitiert René Scheu eingangs ausgerechnet den Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, der von einer «grossen Kluft» spreche, «die eine Gesellschaft zerrüttet». Scheu zählt Stiglitz zur «ganzen Industrie der Ungleichheitsbewirtschaftung». Es gehe «um die Ungleichverteilung der Einkünfte in unserer Welt».
Offensichtlich hat sich Scheu «im Netz» verheddert – und Stiglitz nicht selber gelesen. Denn dem Nobelpreisträger geht es in erster Linie um die krass einseitig verteilten Vermögen und weniger um die Einkommen. In seinem Buch «Der Preis der Ungleichheit» prangert Stiglitz an, dass ein einziges Prozent der Bevölkerung in den USA fast die Hälfte des gesamten privaten Vermögens besitzt – und die restlichen 99 Prozent müssen den Rest unter sich aufteilen. Die Zahl der vermögenslosen Armen steige und die Mittelschicht rutsche ab.

Eine andere Quelle ist der «Global Wealth Report» der Credit Suisse. Daraus geht hervor: Von der weltweiten Zunahme der Vermögen haben in erster Linie die Reichsten in den reichsten Ländern profitiert. Das bedeutet, «dass die Ungleichheit weiter zugenommen hat». Und dies auch in der Schweiz: Das reichste ein Prozent der Bevölkerung besitzt 30 Prozent aller Vermögen.
Allein durch Vererbung und Schenkungen zu Lebzeiten – und nicht etwa durch Leistung, die Scheu ins Feld führt – verschieben sich jedes Jahr rund 80 Milliarden Franken von Superreichen zu meist ebenfalls bereits Reichen (Quelle: Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien Bass).
Ebenfalls ohne Leistung steigern sich die Vermögen der Reichen, weil deren Land-, Immobilien- und Aktienbesitze – dank Nullzinspolitik, Geldpolitik der Notenbanken und der zunehmenden Bevölkerung – im Wert enorm zugelegt haben. Wer keine Aktien, Ländereien und Immobilien besitzt, bleibt jedoch ein Habenichts.
Die Kluft zwischen Armen und Reichen hat sich in den letzten Jahren weiter aufgetan. Und dies nicht etwa wegen «Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft … Können, Fleiss und Glück», wie es René Scheu glauben macht, sondern durch einen simplen Mechanismus: Wer hat, dem wird gegeben.
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Trotz eines rasanten Wachstums der Wirtschaft haben sich die realen, inflationsbereinigten Stundenlöhne der Arbeiter und Angestellten in den USA seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts nur ganz wenig erhöht (grüne Linie). Quelle: U.S. Bureau of Labor Statistics. Grössere Auflösung der Grafik hier.
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Möglichkeit zur Stellungnahme
upg. Infosperber hat René Scheu Gelegenheit gegeben, zu folgenden beiden Kritikpunkten Stellung zu nehmen:

    1) Bei der Kluft zwischen Armen und Reichen vernachlässigen Sie die Verteilung der Vermögen.
    2) Bei der Einkommensentwicklung der Menschen mit niedrigen Einkommen gibt es durchaus Industriestaaten, in denen die realen Einkommen heute tiefer sind als vor zwanzig oder dreissig Jahren. Zum Beispiel die Arbeitereinkommen in den USA.

Bis zum Redaktionsschluss hat Scheu nicht reagiert. Falls er dies noch tut, werden wir an dieser Stelle darüber informieren.

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Zum NZZ-Leitartikel von René Scheu hier.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

Zum Infosperber-Dossier:

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Kritik von Zeitungsartikeln

Printmedien üben sich kaum mehr in gegenseitiger Blattkritik. Infosperber holt dies ab und zu nach.

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Reich, arm, ungleich

Grösser werdende soziale Kluften gefährden demokratische Rechtsstaaten.

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8 Meinungen

  • am 26.08.2019 um 11:56 Uhr
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    René Scheu schafft es wie andere Kolumnisten des wöchentlichen Leiters in der Samstagsausgabe der NZZ, sein Süppchen nach eigenem Gusto zu köcheln. Ich würde vorschlagen, diesen Spielplatz von helvetischem Ausmass auszuräumen. Denn er hat sich zum Tummelplatz von ohnehin Privilegierten entwickelt. Danke für die Antwort, Urs Gasche, die du hier gewagt hast!

  • am 26.08.2019 um 11:59 Uhr
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    Dass Urs P. Gasche zögert, «auf den Mann zu spielen», ehrt ihn ja – und würde ihn, sollte er dies wollen, als NZZ-Mitarbeiter disqualifizieren. Diese Vorgabe, immer mehr eine conditio sine qua non nämlich kommt vom Chefredaktor jenes Blattes, das Häme sät und schwindende Beachtung erntet, der etliche dort Schreibende verkrampft und eifrig nachleben. So auch in den deutschen Medien wahrgenommen nach den Ausfälligkeiten des Chefredaktors gegen Anchorman Armin Wolf von ORF2, der im gesamten deutschen Sprachraum einen hervorragenden Ruf hat und für seinen ebensolchen Journalismus mehrfach ausgezeichnet wurde. Dass unerschrockene, kritische, qualifizierte Recherche ergibt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnet, dass kompetenter Journalismus mit Auszeichnungen honoriert wird – das kann der NZZ ja einfach nicht ins Konzept passen. Ob Wädlibiisser vielleicht ein Understatement ist?

  • Portrait_Christoph_Pfluger_18
    am 26.08.2019 um 12:43 Uhr
    Permalink

    Ungleichheit schaukelt sich ständig auf – wer hat, dem wird gegeben. Dies führt seit Urzeiten immer wieder zu Krieg, Rebellion und Staatsversagen, wie der Historiker Walter Scheidet in seinem opus magnum «Nach dem Krieg sind alle gleich – eine Geschichte der Ungleichheit» mit bedrückender Konsistenz zeigt (übrigens im NZZ-Feuilleton rezensiert). Der einzige Weg, mit dem sich diese Ungleichheit friedlich lösen lässt, ist der Schuldenerlass – in Babylon noch regelmässig praktiziert, aber heute nicht einmal in der Diskussion. Zum letzten Mal praktiziert wurde der Schuldenerlasse mit der Währungsreform in Deutschland 1948. Das Resultat war das Wirtschaftswunder. Ein solches Wunder brauchen wir heute nicht mehr, aber umso mehr einen Schuldenerlass. Expliziten Weltschulden von 244 Bio. Dollar steht eine Geldmenge M1 von 36 Bio. Dollar gegenüber. Kein Mensch hat eine Idee, wie mit diesem Bisschen Geld der riesige Schuldenberg abzutragen ist. Ewige Schulden wirken wie eine Erbsünde, nur dass man sich davon nicht wegtaufen lassen kann. «Es ist leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.» (Frederic James, 1994)

  • am 26.08.2019 um 14:34 Uhr
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    Nicht Arbeit und Reichtum, sondern Luxuskonsum höher besteuern!

    Reich wird man in der Regel nicht durch Arbeit, sondern durch Realkapitalbesitz (Aktien, Immobilien, Rohstoffe) oder durch Erbschaft. Volkswirtschaftlich schädlich wird Reichtum erst, wenn er mit Luxusgütern verprasst wird, sonst bleibt er ja – vielfach als risikotragendes Kapital – der Wirtschaft und damit auch den Arbeitnehmenden – erhalten. Daher sollten nicht primär Löhne oder Vermögen höher besteuert werden, sondern deren Verwendung für Luxusgüter und –dienstleistungen via eine progressive Konsumsteuer.

  • am 26.08.2019 um 14:34 Uhr
    Permalink

    Nicht Arbeit und Reichtum, sondern Luxuskonsum höher besteuern!

    Reich wird man in der Regel nicht durch Arbeit, sondern durch Realkapitalbesitz (Aktien, Immobilien, Rohstoffe) oder durch Erbschaft. Volkswirtschaftlich schädlich wird Reichtum erst, wenn er mit Luxusgütern verprasst wird, sonst bleibt er ja – vielfach als risikotragendes Kapital – der Wirtschaft und damit auch den Arbeitnehmenden – erhalten. Daher sollten nicht primär Löhne oder Vermögen höher besteuert werden, sondern deren Verwendung für Luxusgüter und –dienstleistungen via eine progressive Konsumsteuer.

  • am 26.08.2019 um 15:31 Uhr
    Permalink

    Die NZZ ist auf dem absteigenden Ast. Für solchen Schmarren sollten Sie nicht auch noch Werbung machen. Die Zukunft gehört Anderen.

  • am 29.08.2019 um 13:07 Uhr
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    Das Problem liegt primär an der Verschwendung von Ressourcen zu lasten unser Lebengrundlagen. Das Problem könnte gelöst werden z.B. durch Ressorcen-Lenkungsabagben und deren Rückerstattung pro Kopf. Damit würde ein nachhaltiger Lebnesstil belohnt. Es geht längst nicht mehr nur um Reichtum sondern um das Überleben von uns allen. https://www.overshootday.org/newsroom/infographics/

  • am 7.02.2020 um 00:41 Uhr
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    René Scheu versteht auch von Kultur nichts. Die professionelle Kulturberichterstattung wurde weitgehend durch ideologisches Gejammer ersetzt. Dass er – und mit ihm der ganze Klüngel vom rechtskonservativen Schweizer Monat – in die NZZ hineingelassen wurde, kann ich mir nur durch die rechten Seilschaften erklären, die lieber politische Meinungsmache betreiben, als die Leser*innen sachlich und fachlich zu informieren. Dann lässt Scheu auch noch einen Tag, nachdem die Todesanzeige eines ehemaligen Kulturjournalisten erschienen ist, ebendiesen mit einem bestellten Artikel verunglimpfen (siehe Sarah Pines: «Wie ist es, wenn die Sirenen schweigen? Capri ist die Essenz dessen, was es nie war»). Vielleicht ist derjenige, der andere als intellektuelle Idioten beschimpft, selber einer.

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