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Abschussbasis des Nato-Raketenabwehrsystems in Deveselu © U.S. Army/flickr/CC BY 2.0

Kontraproduktive Nato-Raketenabwehr in Europa

Jürg Müller-Muralt /  Eine deutsche Studie zeigt, wie tief Deutschland punkto Nato-Raketenabwehr in Europa im Dilemma steckt.

Deveselu und Redzikowo sind keine weltpolitischen Brennpunkte. Die beiden Ortschaften sind auch nicht aus anderen Gründen im Bewusstsein der Massen eingebrannt. Und doch sind es militärstrategische Hotspots erster Güte: Im rumänischen Deveselu wurde im Mai 2016 unter Federführung der USA die erste grosse Abschussbasis des Nato-Raketenabwehrsystems eröffnet. Im gleichen Monat begannen die Arbeiten an der zweiten Abschussstation im nordpolnischen Redzikowo, nicht weit weg von der russischen Exklave Kaliningrad; 2018 soll sie einsatzbereit sein. Zum ganzen System gehören zudem vier in Südspanien stationierte und mit Abwehrraketen bestückte US-Kriegsschiffe und eine Radaranlage in der Türkei. Die Kommandozentrale befindet sich in Deutschland, genauer auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein im Bundesland Rheinland-Pfalz.

Von Reagans Krieg der Sterne zu Bush

Derzeit gibt die Raketenabwehr in Europa allerdings kaum Schlagzeilen her; das Thema schwelt in der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Russland und dem Westen weitgehend unter dem Radar der öffentlichen Debatte weiter. Dabei ist die Frage seit über zehn Jahren Gegenstand eines teilweise heftigen Streits zwischen Ost und West. Die Ursprünge reichen bis zu US-Präsident Ronald Reagan zurück, der mit seiner «Strategic Defense Initiative» (SDI) – populär auch als «Krieg der Sterne» bezeichnet – in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts international für Wirbel sorgte. Nach dem Ende des Kalten Krieges rückte das Thema Raketenabwehr etwas in den Hintergrund und wurde erst unter Präsident George W. Bush wieder aktiviert.

Moskaus Bedenken nie ausgeräumt

Der russische Präsident Wladimir Putin machte bereits 2007 klar, dass seiner Ansicht nach das geplante Abwehrsystem die strategische Stabilität zwischen Russland und der Nato gefährde. Er stellte gar das Abkommen über nukleare Mittelstreckensysteme in Frage, den 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen INF-Vertrag. Dieser sieht vor, die Kurz- und Mittelstreckenraketen zu vernichten und den Bau neuer Raketen zu verbieten. In der Tat wurden in der Folge sehr viele dieser Waffen beseitigt, doch seit einiger Zeit wackelt dieses Abkommen, das als eines der wichtigsten Abrüstungsvereinbarungen überhaupt gilt. Derzeit werfen sich beide Seiten vor, den Vertrag zu verletzen.

Zwar gab es verschiedene Versuche, in der Raketenabwehr zusammenzuarbeiten. Sowohl die USA und die Nato als auch Russland machten Kooperationsvorschläge. Doch 2013 sistierte Russland die Gespräche im Nato-Russland-Rat, als Reaktion auf die Annexion der Krim brach 2014 auch die Nato die Kontakte ab. Trotzdem läuft das Projekt weiter – und damit wächst auch das Konfliktpotenzial. Der springende Punkt dabei: Die Nato konnte Moskau nie richtig davon überzeugen, dass ihre Raketenabwehr nicht gegen Russland, sondern vorab gegen Iran und Nordkorea gerichtet sei.

Macht die Nato den grössten Fehler ihrer Geschichte?

Schon vor rund einem Jahr, als die Abschussrampe von Deveselu in Dienst ging, konnte man in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit lesen: «Die Nato ist womöglich dabei, einen der grössten Fehler ihrer Geschichte zu begehen.» Die Begründung: «Die Nato schützt sich gerade gegen ein minimales Risiko aus Iran und Nordkorea, indem sie das maximale Risiko einer neuen nuklearen Aufrüstung Russlands eingeht. Sie sollte das lassen. (…) Denn im Ergebnis liefert der INF-Vertrag Europa mehr Sicherheit als zwei technisch fragwürdige Abwehrstationen. Noch jedenfalls.»

Deutschland vor schwierigen Entscheidungen

Nicht ganz so deutlich sagt es die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin in ihrer jüngsten Studie vom Juli 2017 zu diesem Thema. Ihre Warnung formuliert sie in gewohnt vorsichtig-diplomatischem Ton, denn Europas grösste Denkfabrik berät unter anderem den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung. Und sie bemüht sich um eine mögliche deutsche Position in diesem Konfliktthema. Das ist auch dringend nötig, denn immerhin befindet sich mit der Kommandozentrale sozusagen der Kopf des Raketenabwehrsystems in Deutschland.

Unter bestimmten Bedingungen, so heisst es in der Studie, «müsste Deutschland einige Annahmen revidieren, aufgrund derer es am Nato-Raketenabwehrprojekt teilnimmt, oder es müsste gar seine Entscheidung für die Teilnahme widerrufen.» Das sei allerdings schwierig, eben nicht zuletzt deshalb, weil die Kommandozentrale in Deutschland steht. Die deutsche Regierung sollte allerdings «deutlich machen, dass sie nicht damit einverstanden ist, wenn die USA ihre Nato-Raketenabwehr-bezogenen Entscheidungen im Alleingang fällen, statt die europäischen Verbündeten in die vorausgehenden Diskussionen einzubinden.» Deutschland solle zudem daran erinnern, «dass der Raketenabwehr-Konsens in der Nato nur deshalb zustande kam, weil sich das System ausdrücklich nicht gegen Russland richten sollte.» Genau das fürchtet die SWP: Sollte sich die Konfrontation verstärken, «könnte sich die Nato – auch gegen den Willen Deutschlands – dazu entschliessen, ihr Raketenabwehrsystem gegen Russland zu richten.»

Empfehlung bleibt wohl frommer Wunsch

In der SWP-Studie heisst es zudem, dass die USA «zu keinem Zeitpunkt» ein gemeinsames Raketenabwehrsystem mit Russland anstrebten. Washington habe unter Kooperation höchstens vertrauensbildende und für Transparenz sorgende Massnahmen verstanden, um russische Sorgen auszuräumen. Die deutsche Regierung habe jedoch in einer Antwort auf eine Anfrage aus dem Parlament betont, eine wesentliche Voraussetzung für die deutsche Teilnahme am Projekt sei gewesen, dass es «unter Einbeziehung Russlands» verfolgt werde und seine Umsetzung folglich keinen Anlass für eine Konfrontation mit Moskau gebe.

Die Stiftung Wissenschaft und Politik findet denn auch, dass ein neuer Anlauf zur Zusammenarbeit mit Russland «sinnvoll» wäre. So fundiert und kenntnisreich die von Katarzyna Kubiak verfasste SWP-Studie auch ist, diese Empfehlung dürfte angesichts der geschaffenen Raketen-Fakten und der aktuellen konfrontativen Grosswetterlage nicht mehr als ein frommer Wunsch bleiben.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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3 Meinungen

  • am 3.08.2017 um 12:44 Uhr
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    Guter Artikel nur, wichtig für’s Gesammtbild:
    – ABM-Vertrag
    2002 trat die USA einseitig vom ABM-Vertrag zurück. (Verbot eines landesweiten Abwehrsystem, inkl Radaranlagen. Weitergabe solcher Technik an Drittstaaten.) Durch eigene Verwundbarkeit konnte mit diesem wichtigen Vertrag mögliche Aggressionen verhindert werden.
    – Koorperation Nato/RUS
    Mir sind reale/handfeste KoorperationsVorschläge von Seiten RUS bekannt. (zB Gemeinsame Nutzung/Einbindung der RUS Radaranlage) Jedoch keine von Seiten Nato/USA?
    – Nato/Russland Rat
    2013 von RUS sistiert? Mir ist eher bekannt, dass der Rat jeweils von Seiten Nato ausgesetzt wurde. (Genau dann wenn er notwenig wäre.) So geschehen nach der Reaktion in Georgien 2008/9 und Ukraine 2014.
    Experten sagen gar; dieser Rat exisierte gar nie wirklich, da die R.Chef’s & Minister sich dort nicht treffen. (Wenn dann fand Dialog auf Untern Ebenen statt)
    – Kommandostand der Abwehr:
    Ja, ein Standort ist proforma unter NatoKommando auf dem US-Stützpunkt Ramstein. Aber eine 2. scheint an nem andern US-Standort in D zu sein (siehe Norbert Fleischer).
    – «Abwehr"Raketen:
    Die Umrüstung von Abwehrwaffen auf AngriffWaffen (CruiseMissile) ist blos eine Frage von Software update und Einsetzen anderer RaketenTypen in selber Abschussanlage.
    Daher muss RUS faktisch mit kaum Vorwarnzeit auf Gefahren reagieren, was äusserst gefährlich ist, für beide Seiten.
    (Zur Erinnerung; der nuklearen Winter war im KaltenKrieg mehrfach sehr nah, wegen Fehleinschätzungen!)

  • am 4.08.2017 um 15:09 Uhr
    Permalink

    Dieses sogenannte Abwehr-Schild ist — da sind sich alle Expert*innen einig — eine Erstschlag-Waffe.
    Mit Erstschlag ist nicht lediglich ein Angriff mit Atomwaffen gemeint, sondern die Möglichkeit, mit diesen Angriff einen Zweitschlag, i.e. die Antwort des Gegners, auszuschalten. Genau diese Zweitschlags-Kapazität führte zum «atomaren Gleichgewicht» der Supermächte während des Kalten Krieges.
    Mit dem neuen Abwehrschild ist jedoch dieses Gleichgewicht gestört, da die USA nach einem Erstschlag gegen Russland den Zweitschlag massiv reduzieren könnten.
    So führt dieser Schritt der NATO — angeblich defensiv gegen den Iran — zu einem neuen Aufrüsten auf Seiten Russlands und zu einer wesentlich angespannteren Lage. Denn eine Antwort auf die Erstschlagfähigkeit eines anderen Landes ist der «präventive Angriff» (preventive strike), i.e. sollte Russland das Gefühl haben, es könnte in den nächsten 10 Minuten angegriffen werden, müsste es präventiv vorgreifen.
    Es könnte sich somit nicht nur für die NATO um «einen der grössten Fehler ihrer Geschichte» handeln, sondern ganz generell um einen der grössten Fehler in der Geschichte der Menschheit …

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