Kommentar

Peinliche Desinformation des «Tages-Anzeigers»

Urs P. Gasche © Peter Mosimann

Urs P. Gasche /  «Tiefste Einkommen wachsen am schnellsten», verbreiteten Tamedia-Zeitungen. Selbst der Analyse-Chef fiel auf den Schwindel herein.

Die Botschaft sollte die Schwachverdienenden trösten: «Die Kluft zwischen den Einkommen wird kleiner.» Fabian Renz, Chef des Ressorts «Analyse» des «Tages-Anzeigers», nannte es eine «gute Nachricht». Eine «Datenanalyse dieser Redaktion» habe es jetzt aufgedeckt: «Jene mit tiefem Lohn konnten sich prozentual stärker steigern als Multimillionärinnen.»

Von seriöser Statistik haben Renz und seine vier Datenanalysten, welche die Zahlen und Grafiken aufbereiteten, offensichtlich wenig Ahnung.

Ihre «Beweisführung»: Die Spitzenverdiener hätten ihre Einkommen seit 1980 nur um 18 Prozent erhöhen können, die Geringverdienenden jedoch um 28 Prozent (siehe Infosperber von gestern).

Vergleiche zwischen Prozentzahlen (hier 28 Prozent gegenüber 18 Prozent) gelten in der Vermittlung von Statistiken als unseriös und irreführend – wenn nicht wenigstens gleichzeitig auch die absoluten Zahlen genannt werden: Wie viele Franken mehr verdienen die Spitzenverdienenden heute und wie viele Franken mehr die Geringverdienenden?

Wie irreführend der alleinige Vergleich von Prozentzahlen ist, zeigt ein einfaches Beispiel:

  • Wenn ein Einkommen von 1000 Franken um 100 Prozent steigt, dann steigt es auf 2000 Franken.
  • Wenn ein Einkommen von 100’000 Franken nur halb so stark steigt, nämlich um 50 Prozent, dann steigt es auf 150’000 Franken.

100 Prozent mehr Einkommen für den Niedrigverdiener, nur 50 Prozent mehr für den Spitzenverdiener – und doch wird niemand ernsthaft behaupten, die Kluft zwischen den beiden Einkommen sei kleiner geworden. 

Der Niedrigverdienende hat 1000 Franken mehr, der Spitzenverdiener 50’000 Franken mehr.

Neben dieser groben Irreführung mit der «kleineren Kluft» leisteten sich die Tamedia-Datenspezialisten noch weitere Peinlichkeiten. Zunächst erklärten sie, die Zahlen seien nominal – also ohne Berücksichtigung der Teuerung seit 1980. Doch die Teuerung beträgt seitdem 94 Prozent. Nach den Tamedia-Zahlen würden Arme und Reiche heute real viel weniger verdienen als damals. 

Auf die Frage, ob es sich bei ihren Zahlen um Brutto-, Netto- oder steuerbare Einkommen handle, blieben die Daten-Redaktoren eine Antwort schuldig: «Sollten Sie Fragen zu den Metadaten haben, kontaktieren Sie bitte Herrn Föllmi», beschied die Redaktion. Dieser erklärte im «Tages-Anzeiger», bei den benutzten Zahlen handle es sich «um die beste Annäherung für ein Gesamtbild der Schweizer Einkommensverteilung».

Infosperber fragte beim St. Galler Wirtschaftsprofessor Reto Föllmi nach. Doch auch er konnte die Fragen nicht beantworten. Trotzdem «resümierte» er im «Tages-Anzeier»: «Vom gestiegenen Lebensstandard in der Schweiz haben alle profitiert, niemand fühlt sich abgehängt im alltäglichen Leben.» 

Auf den statistischen Schwindel hatte Föllmi die «Tages-Anzeiger»-Redaktion nicht aufmerksam gemacht. Der St. Galler Professor ist Mitglied eines Bankrats, Verwaltungsratspräsident einer Immobilien AG und der Handelsgruppe Markant. Zudem ist er Vorsitzender der Programmkommission von Avenir Suisse. Dass er sich für die Einkommen von Niedrigverdienenden einsetzt, ist nicht bekannt.

Grosse Medien haben auf die gross aufgemachte Tamedia-Desinformation bisher nicht reagiert. Die Redaktionen der vier Deutschschweizer Grossverlage schauen sich kaum mehr gegenseitig auf die Finger. Innerhalb der grossen Medienhäuser funktioniert die Selbstkorrektur schon lange nicht mehr.

Ein Grund mehr, dass es ergänzende Medien wie den Infosperber braucht.


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