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Betet freie Schweizer, betet ... und wieder zelebrieren wir einen 1. August. © Crackers93/flickr/cc

Was Bundespräsidenten zur Feier des Tages sagen

Jürg Lehmann /  Am 1. August spricht der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin. Worüber? Und worüber nicht? Eine Analyse der Reden seit 2000.

Klar ist: Bundespräsidiale Reden zum Bundesfeiertag pendeln zwischen Tradition und Aufbruch. Es sind keine politischen Visionen, die hier verkündet werden, sondern pragmatische Beschreibungen und Erwartungen, so wie sie dem Charakter des Volkes, zumindest in der deutschen Schweiz, nachgesagt werden. Das wird auch bei der diesjährigen Ansprache von Eveline Widmer-Schlumpf an TV und Radio kaum anders sein.

»Heimat» ist in allen Variationen präsidialer Wörtersammlungen der meistgebrauchte Begriff. «Meine Heimat ist die Schweiz » (Adolf Ogi, 2000). » Wichtig ist, dass jeder hier eine Heimat haben kann. Auch solche, die Minderheiten sind» (Moritz Leuenberger, 2001).»Was jeder in seinem Inneren für seine Heimat empfindet, ist entscheidend» (Joseph Deiss, 2004).

Der präsidiale Stolz auf das Erreichte

Aber Bundespräsidenten empfinden auch Stolz auf das Land, das sie mitregieren: «Wir dürfen zu Recht stolz sein auf unser Land und seine Institutionen» (Pascal Couchepin, 2008). «Wir sind stolz auf unser Land» (Hans-Rudolf Merz, 2009). «Auf das Erreichte dürfen wir stolz sein» (Doris Leuthard, 2010). «Auf diese Schweiz können wir stolz sein» (Micheline Calmy-Rey, 2011). «Es lebe die Schweiz!» (Calmy-Rey, 2011)

Und im Vergleich zum Ausland, so reden sie dem Volk ins Gewissen, dürften wir uns wahrlich nicht beklagen. Wir müssten vielmehr dankbar sein für das Erreichte und beharrlich weitergehen. «Der Schweiz geht es gut (Ogi, 2000). «Der Schweiz geht es sehr gut» (Kaspar Villiger, 2002). «Der Schweiz geht es gut» (Samuel Schmid, 2005).

Aktuelle Problemlagen werden thematisiert

Auf dieser Grundlage reflektieren die bundespräsidialen Ansprachen selbstverständlich jeweils auch aktuelle Problemlagen: Der respektlose Umgang der SVP mit politischen Gegnern (Leuenberger, 2001) wird zum Thema, die Kluft zwischen hohen und tiefen Einkommen (Calmy-Rey, 2007, 2011), die Wirtschaftslage (Villiger, 2002; Couchepin, 2008; Merz 2009), Fukushima, Eurokrise, Klimaerwärmung (Calmy-Rey, 2011).

Und wie ein roter Faden ziehen sich durch die Reden das Verhältnis der Schweiz zu Europa, ihren Standort in der Welt und die direkte Demokratie. «Abstimmungen zeigen, dass die direkte Demokratie in unserem Land bestens funktioniert.» (Couchepin, 2003). Seit ein paar Jahren werden auch gerne die internationalen Taten der Schweizer Fussballnationalmannschaft bemüht, um Zuversicht und Zusammenhalt zu beschwören.

So entdeckte Moritz Leuenberger im Schweizer Nationalteam an der WM 2006 einen «fröhlichen Patriotismus», Pascal Couchepin schilderte die EURO 2008 in der Schweiz im Rückblick aks «phantastisches Ereignis», an das wir uns noch lange zurückerinnern würden. Und von den Fussballern der U-21, die an der EM Silber holten, schwärmte Micheline Calmy-Rey 2011 gar: «Diese jungen Spieler sind optimistisch, selbstbewusst und kämpferisch. Sie haben keine Angst, sich der Konkurrenz zu stellen.» Das würde sie nach den Vorgängen am Olympia-Fussballturnier in London so wohl kaum mehr sagen.

Wie häufig Begriffe vorkommen: die Rangliste

Aber gehen wir noch etwas näher heran. Infosperber wählte 70 Begriffe aus, die in den präsidialen Reden seit dem Jahr 2000 verwendet wurden, zählte nach, wie viele Male sie verwendet wurden, und brachte sie in eine grobe Rangliste. Sie soll klar machen, mit welchem Vokabular sich die präsidialen Rednerinnen und Redner am Bundesfeiertag an ihr Volk wenden. Wir unterscheiden dabei folgende Kategorien:

Spitzengruppe (10 und mehr Nennungen pro Begriff/e zwischen Strichpunkten): Heimat; Frieden, friedlich; Freiheit, freiheitlich; global, Globalisierung, globaler Konkurrenzkampf; weltoffen, Welt; direkte Demokratie, Demokratie, demokratisch; Zukunft, zukunftsfähig; Europa, Europäische Union, Bilaterale, bilateral; Stolz, stolz; gemeinsam, Gemeinsamkeit, Gemeinschaft, Gemeinwesen.

oberes Mittelfeld (7-9 Nennungen): Solidarität, solidarisch; Verantwortung; Herausforderungen; humanitäre Tradition, Traditionen; Träume; verschiedene Kulturen, vier Kulturen, politische Kultur, kulturelle Vielfalt; selbstbewusst, Selbstvertrauen; Werte, unsere Werte; Minderheiten.

unteres Mittelfeld (5-6 Nennungen): Ausländer, Integration; Erinnerung; Kinder, Kindheit; Glück, glücklich; Wohlstand; Chancen, Chancengleichheit; Dankbarkeit, dankbar; verschiedene Sprachen, mehrsprachig; Mut, mutig, Mut zu Neuem.

letztes Viertel (3-4 Nennungen): Familie; Freunde; Wohlgefühl, wohlfühlen; mitreden, mitbestimmen, mitentscheiden; Auseinandersetzungen; Stabilität; Bewegung, bewegen; tolerant, Toleranz; Wille, Willen; Gemeinwohl, Wohl des Ganzen; Erfolgsgeschichte; Debatte; Identität; Wurzeln, verwurzelt; Alltagssorgen, Sorgen; Krise.

Schlusslichter (1-2 Nennungen): Jugendzeit, junge Menschen; offene Schweiz, Offenheit; verändern, Veränderung; Terror; Insel; Umweltkatastrophen, Konflikte; sicher, Sicherheit; Patriot, Patriotismus; bewahren, Bewahrung; Föderalismus; Respekt; Neutralität; Zuversicht; Entwicklung; überzeugt, Überzeugung; zuhören; Ängste; Unsicherheiten; Eurokrise; Fukushima; Klimaerwärmung; Umwelt; Vertrauen; Fleiss; Zuverlässigkeit.

Im Jahre 2000 träumte Adolf Ogi noch von einer Schweiz, «die nicht überall abseits steht». Keine zwei Jahre später, am 3. März 2002, trat sie der UNO bei. Diesen Traum mindestens musste Ogi nicht mehr träumen. Samuel Schmid wiederum sagte am 1. August 2005: «Ich freue mich auf das nächste Kapitel der Erfolgsgeschichte Schweiz! Schreiben wir es gemeinsam!» Seine persönliche Erfolgsgeschichte wurde es nicht: Schmid trat Ende 2008 von politischen Attacken ermattet und nach der Affäre um den persönlich offenbar unstabilen Armeegeneral Roland Nef ernüchtert zurück.

Villigers Satz fällt auf ihn zurück

Fast als prophetisch erweist sich dagegen im Rückblick der Satz, den der damalige Bundespräsident Kaspar Villiger 2002 sprach, als er sagte: «Wir hören und lesen von habgierigen Managern, die Bilanzen schönen und das Mass verlieren.» Welche Ironie: Keine sieben Jahre später wurde Villiger UBS-Präsident und rechtfertige die Masslosigkeit von Bankmanagern, die er als Politiker noch kritisiert hatte.

Überhaupt Villiger: Als Bundespräsident schwärmte er 2002 von der «politischen Kultur der direkten Demokratie, der gelebten Solidarität, dem Respekt gegenüber Minderheiten, der Achtung unserer vier Kulturen und Sprachen, dem lebendigen Föderalismus». Tempi passati. In einem Referat vor der Zürcher Volkswirtschaftlichen Gesellschaft wetterte er am 19. März 2012 gegen die EU («ein von Eliten geschaffenes und gesteuertes Gemeinwesen»), kritisierte Politiker («es ist völlig verfehlt, wegen missliebiger Einzelfälle sofort die Regulierungsmaschine anzuwerfen») und fuhr dem Bundesrat in die Parade («wenig durchdachte Energiepolitik»).

Ein einziges Mal Banken erwähnt

So ändern sich die Zeiten. Und Banken? Finden sie in den bundespräsidialen Reden zum 1. August explizit statt? Immerhin haben Bund und Nationalbank die UBS 2008 gerettet. Wir haben eine Stelle gefunden. «Aber wir müssen wissen», lesen wir da, «dass unsere weltweiten, wirtschaftlichen Verflechtungen auch ihre Kehrseite haben. Einmal sind wir für vieles mitverantwortlich geworden, was in den Ländern geschieht, mit denen wir Handel treiben, Bankgeschäfte abschliessen und an denen wir Geld verdienen. Und wir können uns dieser Verantwortung nicht entziehen.»

Das sind Sätze aus der 1. August-Ansprache von Willi Ritschard. Der legendäre Politiker aus dem Kanton Solothurn war 1978 Bundespräsident. Er starb am 16. Oktober 1983.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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