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Teures Papier: der Schweizer Pass © WOMM

Vom Leben mit dem falschen Pass (II/II)

Christof Moser /  Wir ziehen Grenzen, an denen weder Kinder noch die Liebe etwas ändern können, sondern nur das Geld. Eine Reise in die Schattenwelt.

(Lesen Sie hier Teil eins des Zweiteilers «Vom Leben mit dem falschen Pass»)

Für den Traum eines Europas ohne Grenzen, den die Wirtschaft mit ihrem Hunger nach billigen Arbeitskräften möglich gemacht hat, bezahlen diejenigen, die nicht Teil dieses Traums werden dürfen, einen hohen Preis. Sie werden ausgesperrt, abgewehrt, weggedrängt, ertrinken vor Lampedusa, kommen an europäischen Grenzzäunen um, werden aufgegriffen, abgewiesen, abgeschoben. Entweder sie sterben oder leben im Schatten der Illegalität.

Der paradoxe Kampf gegen Migration

Im 19. Jahrhundert waren Aus- und Einwandernde ganz selbstverständlich Arbeitsmigrantinnen und -Migranten – das, was man heute Wirtschaftsflüchtlinge nennt. Die ersten Flüchtlinge der europäischen Geschichte, die als solche wahrgenommen wurden, waren ab 1880 Ostjuden, die auf der Flucht vor Pogromen in Russland nach Westeuropa emigrierten und von Westjuden als minderwertig betrachtet wurden. Die Nazi-Ideologie hat später daraus die Minderwertigkeit aller Juden und Jüdinnen gesponnen. Aber bereits nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, nachdem das österreichisch-ungarische, das osmanische und russische Reich dahingefegt worden waren und an ihre Stelle die Nationalstaaten traten, wurde Migration zum Schicksal der Massen.

Seither tobt in Europa ein Wettbewerb der Regierungen um immer noch strengere, noch verworrenere und willkürlichere Regelwerke, um die Migration zu steuern, wenn nicht gar zu stoppen. In ihrem Kern sind die Migrationsgesetze geprägt vom nationalstaatlichen Denken der 1920er-Jahre. Nach innen gilt mit den richtigen Papieren Personenfreizügigkeit und Polizeistaat mit den falschen Papieren. Nach aussen wird dicht gemacht. Die Situation ist ähnlich wie bei den Drogen: Je mehr die Behörden dagegen halten, desto stärker wächst das illegale Geschäft. Es ist das Paradox an der aktuellen Migrationspolitik: Sie soll bekämpfen, wofür sie die Bedingungen schafft – moderne Sklaverei.

Als chinesischer Tourist in Bern gelandet

Yazhen* besitzt einen bordeauxfarbenen EU-Pass, ausgestellt im Jahr 2007, und lebt in der grauen Zwischenwelt der Schwarzarbeiter: Er ist nicht geduldet, aber auch nicht unerwünscht. Laut seines Passes kommt er aus Macao, tatsächlich aber aus Fujian, einer Provinz im Südosten Chinas. Er spricht kein einziges Wort Portugiesisch, er war noch nie in Portugal, auch noch nie in Macao. Die Angaben in seinem Pass gehören einer Person, die in China lebt. Und Yazhen lebt ihr Leben in Europa. Einem Reporter von «Swissinfo» hat er erzählt, wie er in die Schweiz gekommen ist: 2009 mit einem Touristenvisum via Ungarn in Europa eingereist, dort erfahren, dass es in der Schweiz Arbeit gibt, als Tourist mit einem Schengenvisum in Bern gelandet.

Als das Visum auslief, brauchte Yazhen neue Dokumente. Unter den chinesischen Schwarzarbeitern kursieren Telefonnummern, die für solche Probleme hilfreich sind. Nach einigen Anrufen und 3000 Franken Gebühr hält er drei Monate später seinen neuen Pass in den Händen, auf dem in goldenen Buchstaben steht: «União Europeia – Portugal».

50’000 Euro Schleppergebühr – pro Person

Chinesen mit einem portugiesischen Pass sind unauffällig, Macao ist eine frühere portugiesische Kolonie. Yazhen arbeitet seither schwarz in der Schweiz, ohne Arbeitsvertrag und ohne Sozialversicherungen. 70 Franken erhält er für einen Acht-Stunden-Tag in einem chinesischen Restaurant in der Region Bern. Im Monat sind das 1500 Franken. 300 Franken davon zahlt er für die kleine Wohnung, die er mit einem chinesischen Schwarzarbeiter teilt. Yazhen findet sein Salär in Ordnung, er kennt Chinesen in der Schweiz, die gar kein Geld verdienen für ihre Arbeit. Eine Belastung ist für Yazhen die ständige Furcht vor der Polizei. «Wenn sie mich erwischen, werde ich nach China zurückgeschickt. Dabei will ich doch nur Geld verdienen und keine Probleme machen», sagt der knapp 30jährige. «Ich bin nur illegal hier, weil es einfach nicht anders geht.»

Ungefähr 1000 Chinesinnen und Chinesen arbeiten wie Yazhen schwarz in der Schweiz, wie die Koordinationsstelle «Menschenhandel und Menschenschmuggel» (KSMM) der Schweizerischen Bundespolizei Fedpol schätzt. Mit gross angelegten Razzien werden immer wieder Schleppernetzwerke ausgehoben. Anfang 2013 fand eine landesweite Polizeiaktion gegen illegale Migrantinnen und Migranten aus China statt. Beteiligt waren die Strafverfolgungsbehörden der Kantone Aargau, Basel-Landschaft, Bern, Freiburg, Luzern, Neuenburg, Waadt, Zug und Zürich. 349 Verdächtigte wurden angehalten und überprüft, 57 Personen festgenommen. In Spanien und Frankreich sind zuvor Schlepperringe ausgehoben worden, die bis zu 50’000 Euro pro Person verlangten, um Chinesinnen und Chinesen nach Europa zu schleusen.

Unsere Freiheit und die Unfreiheit der anderen

Reden wir Europäerinnen und Europäer von Freiheit, meinen wir unsere Freiheit. Unsere Werte. Unsere Massstäbe. Und vergessen die Unfreiheit der anderen. Eine Ungerechtigkeit, die auch für uns je länger je mehr zum Gefängnis wird.

Die Unfreiheit der anderen frisst sich in unsere Freiheit, macht sie brüchig, löst sie auf. Die Anti-Terrorgesetze nach 9/11 waren der Auftakt zum globalen Sicherheitsstaat. An der EU-Aussengrenze wird Kriegstechnik gegen Migrantinnen und Migranten eingesetzt. Sollten wir jemals wirklich an die Werte geglaubt haben, die wir so gerne als unsere ureigensten bezeichnen, verraten wir sie gerade im grossen Stil und verdrängen dabei, wie schnell dieser Verrat auf uns zurückfallen kann. Noch sind wir als Reisende zwar verdächtig, aber geduldet, weil erwünscht. Wir werden auf Reisen zwar beobachtet, durchleuchtet und erfasst, jedoch in aller Freiheit. Was aber, wenn wir plötzlich für die Sicherheit der Welt und die Stabilität der Weltwirtschaft zur Gefahr werden sollten?

Die Grenzen, die wir ziehen, sind weder durch Freundschaft noch Liebe zu überwinden, Kinder helfen ebenso wenig wie das angeblich Wichtigste einer Gesellschaft: die Familie. Die Welt ist geordnet in Innen und Aussen, in Schengen und Nicht-Schengen, positive Drittstaaten (ohne Visum) und negative Drittstaaten (mit Visum). Nur die Unordnung der Welt im Leben der Menschen hält sich nicht daran.

Auf Leben und Tod

Petra, 35, Lehrerin aus Zürich, hat vor vier Jahren in Südafrika den Vater ihrer heute 14 Monate alten Tochter kennengelernt. Daniel stammt ursprünglich aus Angola, er hat eine Aufenthaltsbewilligung für Südafrika und einen Job dort. Seine Tochter in der Schweiz kann John nicht besuchen, die Schweizer Botschaft in Südafrika hat das Visumsgesuch abgelehnt. Als zu gross wird von den Behörden die Gefahr eingeschätzt, dass er nicht wieder zurückreisen wird. 30’000 Franken müssten auf dem Konto von Petra oder Daniel liegen, um seinen Aufenthalt in der Schweiz abzusichern. Petra lebt als alleinerziehende Mutter von 2800 Franken Kleinkinderbetreuungsbeiträgen, nur mit Arbeitslosengeld käme sie auf die monatlich 4000 Franken Einkommen, die für einen Besuch des ausländischen Vaters ihrer Tochter vorgeschrieben sind. «Wenn ich beim RAV angemeldet sei, sagte man mir, könne ich es eh vergessen», erzählt Petra. Was bleibt an Optionen? «Nur noch das Heiraten. Das wollte ich aber nie als Mittel zum Zweck».

Auch wenn es um Leben und Tod geht, bleibt die Bürokratie unerbittlich – und der Mensch grundsätzlich verdächtig. Nina, 33, Angestellte aus Zürich mit Wurzeln in Ägypten, in der Schweiz geboren, aufgewachsen und mit Schweizer Pass, erzählt eine ähnliche und doch ganz andere Geschichte: «Ich versuchte, ein Visum für meinen Cousin in Kairo zu bekommen. Mein Vater war schwer krank, und ich war mit der Unterstützung an seinem Spitalbett allein überfordert», erzählt sie. Nina schickte der Botschaft wie verlangt eine schriftliche Einladung an den Cousin mit der Zusicherung, diesen nach Ablauf des Visums wieder an den Flughafen zu bringen. Sie schickte ausserdem die drei verlangten Lohnabrechnungen als Beweis, dass sie für allfällige Kosten des Besuchs aufkommen kann. Sie bestätigte schriftlich, dass sie alle Versicherungskosten übernehmen würde. Und sie legte eine Bestätigung des Spitals über den gesundheitlichen Zustand ihres Vaters bei, der zu dieser Zeit künstlich beatmet wurde. Doch das Visumsgesuch, für das sie 150 Franken bezahlt hatte, wurde abgelehnt. Begründung: nicht vertrauenswürdige Dokumente. «Vor Wut hätte ich den Migrationsbehörden gerne die Spitalfotos meines Vaters geschickt und gefragt, ob wenigstens die 39 Kilo Restmensch vertrauenswürdig genug sind», sagt sie.

«Nicht erschöpfende Liste von Belegen»

Es sind Geschichten, die das Leben schreibt. Von Menschen, die zu Risiken werden, sobald sie als Visumsantrag auf dem Pult der Migrationsbehörden landen. Der Visakodex der EU, an den über das Schengen-Abkommen auch die Schweiz gebunden ist, enthält laut einer Sprecherin des Bundesamts für Migration (BFM) «eine nicht erschöpfende Liste von Belegen», die vom Antragssteller verlangt werden können. Und je nach «sozioökonomischer Situation» im Herkunftsland werden noch mehr Papiere, Unterlagen und Belege verlangt, um «eventuelle Migrationsrisiken» abzuschätzen. «In Einzelfällen», die für ihre Integrität und Zuverlässigkeit bekannt seien, könnten die Behörden von der «Vorlage eines oder mehrerer der jeweils aufgeführten Belege» absehen – sprich: ein Auge zudrücken. In «berechtigten Fällen» könne das Amt jedoch zusätzliche Unterlagen anfordern.

Eine bessere Umschreibung für staatliche Willkür muss man erst finden.

*Alle Namen im Artikel zum Schutz der Personen geändert.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine. Der Artikel erschien zuerst in einer gekürzten Fassung im Strassenmagazin «Surprise».

Zum Infosperber-Dossier:

Afghanischer_Flchtling_Reuters

Migrantinnen, Migranten, Asylsuchende

Der Ausländeranteil ist in der Schweiz gross: Die Politik streitet über Asyl, Immigration und Ausschaffung.

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3 Meinungen

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 12.12.2014 um 12:49 Uhr
    Permalink

    Die Beispiele änderen nichts daran, dass wir in der migrationsoffensten Gesellschaft aller Zeiten leben, dass also ungefähr pro Jahr mehr Leute einreisen als zur Zeit der Völkerwanderung in 100 Jahren und dass der Schweizer Staat pro Jahr für das Asylwesen mehr ausgibt, auch teuerungsbereinigt, al,s 1870/72 , 1914 – 1918 und 1939 – 1945 zusammen. Also im Prinzip ein Fass ohne Boden. Wer von einem Kampf gegen die Migration spricht, scheint unter einer Wahrnehmungsstörung zu leiden.

  • am 12.12.2014 um 16:26 Uhr
    Permalink

    All diese Einzel Schicksaale wollen Eindruck machen und sollen unser Herz erweichen.
    Die meisten Wirtschafts-Migranten wollen nur (wir Schweizer sind ihnen egal), die grosszügige Leistungen unserer Sozialsysteme (die von uns, zu unserem Schutz aufgebaut wurden und nicht um auswärtige anzuziehen), ausnutzen und führen sich auf als wären sie „schlecht-behandelte-Opfer“.
    Die Tatsache ist dass sich immer mehr Fremde Menschen vordrängen mit allerhand von Ansprüche.

    OK, harte Worte, ich kann es durchaus verstehen wenn bei manchen Goldgräber Stimmung aufkommt wenn sie von bekannten hören wie es hier (auch !) fürs nichts-tun gutes Geld gibt, ich würde mich auch auf die Reise machen.
    Wir haben diese Systeme zu wenig abgegrenzt. Nun ist es schwierig den Honigtopf denen vor der Nase wieder wegzuziehen. Sofort kommen die Menschenrechte ins Spiel … wie wenn es ein ungeschriebenes Recht wäre auf Kosten anderen zu leben.
    Überlegen sie sich diese Leute nicht dass „andere“ für sie arbeiten müssen ?

    Ok, es stimmt für die oben beschriebene Beispiele nicht unbedingt überein, aber wenn wir allen Geschichten zu grunde gehen kommen nicht nur edle Gedanken zum Vorschein, sondern irgendeiner hat den Chinese hierher gelockt. Nicht rein zufällig geht jemand so weit weg und dorthin wo er weder sprache noch Land & Leute kennt, also warum kam der ausgerechnet hierher ?

    Und, wer so was schreibt muss etwas davon haben, ist im Sozialbereich tätig oder sonst wie involviert …oder nur aufwühlen ?…

  • am 14.12.2014 um 17:33 Uhr
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    Mich bedrückt die Situation: Die beschriebenen Beispiele und viele andere, die ich kenne, zeugen von einer unmenschlichen Situation. ABER: WIE ES BESSER MACHEN???
    Es ist wohl wirklich nicht realistisch, dass wir die Grenzen einfach offen machen. Der Druck würde nur zurück gehen, wenn all die Leute von China bis Afrika ähnlich gute Lebensbedingungen hätten wie wir – oder wir die gleich schlechten. Zu ersterem kann ich kaum etwas beitragen und die zweite Variante würde niemandem etwas nützen.
    Sie, die Sie solche Aufsätze publizieren: Sehen Sie eine realistische Möglichkeit um die Situation entscheidend zu verbessern?

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