matt-palmer-K5KmnZHv1Pg-unsplash-1

© Matt Palmer/Unsplash

Der Skandal um die Klima-Zertifikate

Daniela Gschweng /  Viele CO2-Zertifikate sind nicht mehr als heisse Luft, fand eine Recherche. Im Emissionsmarkt wird zu wenig geprüft.

Unternehmen weltweit kaufen Emissionsgutschriften, um ihre CO2-Bilanz zu verbessern. Ein Grossteil der Gutschriften des grössten Zertifizierers Verra deckt jedoch viel weniger Einsparungen ab als angegeben, fand die Recherche dreier Medienunternehmen. Ein veritabler Klima-Skandal.

Das Versprechen: Für jedes Zertifikat wird irgendwo in der Welt Wald aufgeforstet oder ein Windrad gebaut. Win-Win also, für die Unternehmen und das Klima.

Was, wenn der Zertifikats-Handel ausser Kontrolle gerät?

Das, zumindest, ist die Absicht. Doch dem Klima ist meistens nicht geholfen, haben Recherchen der «Zeit», des «Guardian» und des Recherchemediums «SourceMaterial» aufgedeckt.

Der grösste Teil der der überprüften Zertifikate kompensiere nichts, stellt die Recherche fest. Sie machen die Klimakrise sogar schlimmer. Markt, Macht, Geld und fehlende Aufsicht führen zu einem ausser Kontrolle geratenen Markt.

Infosperber berichtete bereits mehrmals, wie mit CO2-Zertifikaten Schindluder getrieben wird:

«Ölkonzern vertreibt Bauern für CO2-Gutschriften»
«Wie sich Unternehmen Klimaneutralität zusammenkaufen»
«CO2-Zertifikate sind für Zwischenhändler eine Goldgrube»

Die Recherchepartner nahmen dabei mit wissenschaftlicher Unterstützung Kompensationsprojekte des Unternehmens Verra unter die Lupe. Verra ist der derzeit führende Carbon-Credit-Händler. Das Unternehmen verkauft CO2-Credits aus Projekten, die es nach eigenen Richtlinien prüft. Vor allem Waldschutzprojekte haben in den letzten Jahren stark zugenommen.

Abenteuer Waldkompensation

Da, so die «Zeit», liege einer der Fehler im System: Wald ist ein unsicheres Kompensationsobjekt. Bis Bäume der Umwelt wesentliche Mengen CO2 entziehen können, dauert es unter Umständen Jahrzehnte. Inzwischen kann der Wald wachsen oder auch nicht, Waldbränden und Stürmen zum Opfer fallen oder sogar abgeholzt werden. Die Kompensation ist spekulativ und findet, wenn überhaupt, in der Zukunft statt. Das allein ist schon eine Menge «hätte», «könnte» und «wäre».

Verra-Waldschutzzertifikate_1-1
Emissionsgutschriften für Waldschutz werden immer mehr – damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit für Irrtümer und Betrug.

Wirklich abenteuerlich: Waldschutzprojekte können auch Zertifikate ausgeben für Wald, der vermutlich abgeholzt worden wäre, hätte das Kompensationsprojekt nicht eingegriffen. Etwa 30 Prozent der weltweit verkauften Emissionsgutschriften seien solche verhinderten Entwaldungen, schätzt «SourceMaterial». Ohne Kontrollen könnte so theoretisch die gesamte stehende Waldfläche der Welt als CO2-Gutschrift verkauft werden.

Die Organisationen, die hinter den Projekten stehen, schätzen die CO2-Ersparnis zunächst selbst ein. Dazu legen sie die Standards eines Zertifizierers wie Verra an, der die Schätzungen nach dem eigenen Verified Carbon Standard (VCS) überprüft.

Der Markt begünstigt den Zertifikat-Schwindel

Um «echte» von «falschen» Kompensationen zu trennen, bedürfte es akribischer Arbeit, sagt Elias Ayrey, den «Die Zeit» befragt hat. Der US-Ökologe berichtet, wie er für ein US-Start-Up die Kompensationstauglichkeit von Waldschutzprojekten bewertete. Er sichtete Satellitendaten und berechnete aufwendige CO2-Bilanzen. Dabei stiess er auf etliche Projekte, bei denen die Kompensation viel zu hoch angesetzt war, und sogar solche, bei denen der Wald trotzdem zerstört wurde. Das Unternehmen habe unter Druck gestanden, «gute» Zertifikate zu finden, die es verkaufen könne, sagt er.

Die wissenschaftliche Überprüfung gibt ihm Recht. Forschende, die zwei Drittel der von Verra genehmigten aktiven Projekte untersuchten, fanden, dass nur 8 von 29 Projekten nachweislich dazu beitrugen, Entwaldung zu verringern. 94 Prozent der ausgestellten Carbon Credits hätten nicht genehmigt werden dürfen, schliessen sie. Entweder hatten sie gar keine positive Wirkung auf das Klima oder die Wirkung war übertrieben. Die prognostizierte CO2-Kompensation war bis zu viermal so hoch wie eine realistische Schätzung, fand eine Analyse der University of Cambridge.

«Es ist wie beim Doping. Drei Leute dopen, deshalb müssen alle dopen. Und jeder weiss Bescheid.»

Elias Ayrey, Ökologe

Ayrey hält das System von Verra für eines, in dem systematisch manipuliert wird. Er vergleicht das mit Doping – mache es einer, müssten es alle tun und jeder wisste Bescheid. Das ist nicht mehr nur spekulativ, sondern so ähnlich wie Falschgeld.

Es ist die Geschichte einer Organisation, die Gutes gewollt, aber womöglich nichts Gutes geschaffen hat. 89 Millionen Tonnen CO2 seien als «Geister-Zertifikate» auf dem Kompensationsmarkt gelandet, schreibt «Die Zeit». Das entspreche den jährlichen Emissionen von Griechenland und der Schweiz zusammen.

In der neunmonatigen Recherche sprach das Recherchekollektiv mit etlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die am Kompensations-Modell zweifeln. Unter ihnen ist die Klimaberaterin und Professorin Charlotte Streck, die im Vorstand von Verra sass, und der Ökologe Lucio Pedroni, der Verra berät.

Insider zweifeln, Verra dementiert

Pedroni hält das System für grundsätzlich gut, es sei aber von einigen missbraucht worden. Streck sieht die Verantwortung bei Verra. Ihre Beratungsfirma Climate Focus habe für die Mitarbeit am Regelwerk VM0007 im vergangenen Jahr wohl an die zwei Millionen Dollar Lizenzgebühren von Verra erhalten, schätzt «Die Zeit». Verra ist als Nonprofit-Organisation registriert, bezahlt keine Steuern und machte 2022 einen Umsatz von 40 Millionen Dollar.

David Antonioli, der Geschäftsführer von Verra, verwickelt sich beim Gespräch mit der «Zeit» in Widersprüche. Man sei nicht perfekt und überarbeite derzeit die Regelwerke, sagt er. Über- und unterbewertete Projekte glichen sich aus, sagt er auch. Einen Beleg dafür präsentiert er nicht. In einer Stellungnahme auf seiner Website dementiert Verra die Existenz von Phantom-Zertifikaten und kritisiert die von den Forschenden verwendeten Methoden.

Zertifikathandel ist ein Millionengeschäft

Ums Klima geht es beinahe nur noch am Rande, hauptsächlich geht es um Millionen. Sehr viele Millionen, Tendenz: steigend. Bisher kaufen vor allem Unternehmen Carbon Credits, um ihren Fussabdruck zu reduzieren. Die Recherche beleuchtet Unternehmen wie Disney, Easyjet, Shell und Gucci und ihr Kompensationsverhalten.

Die Kunden kommen aus allen Branchen. Auch Unternehmen wie Nestlé, Air France, Gazprom und EY sind dabei. In der Praxis, so der Eindruck, werden Zertifikate oft als Freifahrschein verwendet, damit sich Unternehmen aufwendige Restrukturierungen sparen können.

Auch Staaten können Emissionsgutschriften kaufen. Bisher akzeptiere nur Kolumbien Verra-Zertifikate, ab 2014 komme Singapur dazu, hat «Die Zeit» recherchiert. Weitere Länder könnten folgen. Für Händler wie Verra, der bisher etwa drei Viertel des Handels mit freiwilligen Kompensationen abdeckt, winken dabei Macht und Geld. Um gross einzusteigen, brauchen die Carbon-Credit-Händler dann nur noch genügend gültige Kompensations-Zertifikate.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

3719017725_8c14405266

Die Klimapolitik kritisch hinterfragt

Die Menschen beschleunigen die Erwärmung der Erde. Doch kurzfristige Interessen verhindern griffige Massnahmen.

War dieser Artikel nützlich?
Ja:
Nein:


Infosperber gibt es nur dank unbezahlter Arbeit und Spenden.
Spenden kann man bei den Steuern in Abzug bringen.

Direkt mit Twint oder Bank-App



Spenden


Die Redaktion schliesst den Meinungsaustausch automatisch nach drei Tagen oder hat ihn für diesen Artikel gar nicht ermöglicht.

5 Meinungen

  • am 5.02.2023 um 09:26 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für die interessanten Informationen.
    Es ist alles so eingetroffen, wie es kritische Geister vorausgesehen haben.
    In was für einer Welt leben wir eigentlich?
    Wie lange geht es auf diese Art und Weise weiter?

  • am 5.02.2023 um 11:41 Uhr
    Permalink

    Das beste für Mensch und Umwelt, wäre von vorherein die Umweltbelastung zu reduzieren, zum Beispiel mit nachhaltigen Produkten, oder in dem die Reparaturen für diese Produkte auch wirklich mindestens 10 Jahre zu vernünftigen Preisen garantiert werden. Gerade bei letzterem Punkt könnte man sehr viel tun, den die Ersatzteile müssten 10 Jahre nach Verkaufsende verfügbar sein, sind es aber oftmals nicht, oder zumindest nicht in jedem Land. Eine weitere Masche um den Verkauf von neuen Produkten anzukurbeln ist die, Reparaturen wenn überhaupt, dann zu überteuerten Preisen anzubieten. Diese Praktiken fallen unter unlauterem Wettbewerb oder gar unter Betrug, aber es gibt keine Kontrolle und somit sind alle Garantieversprechungen nur warme Luft.
    Es fehlt am politischem Willen, denn diese Massnahmen liessen relativ einfach umsetzen und vor allem prüfen, aber der Handel wäre nicht darüber glücklich.

  • am 6.02.2023 um 12:30 Uhr
    Permalink

    Wenn ich die Profite des Rohstoffhandels betrachte weiss ich: Die sind dermassen potent dass diese Unternehmen sich ein ganzes Heer von Bestochenen leisten kann. Der weltweite Einfluss und Macht ist deshalb kaum zu durchbrechen. Dazu ist es viel zu spät.

  • am 6.02.2023 um 13:19 Uhr
    Permalink

    Diese Zertifikate sind für mich das moderne Äquivalent zum Ablasshandel. Sie erfüllen auch so ziemlich dieselbe Funktion: Jemand braucht Geld, ein anderer ein ruhiges Gewissen ohne etwas dafür an sich ändern zu müssen.
    Es zeigt uns immerhin, dass in der Wahrnehmung der Leute, die sich dieses Instituts bedienen, der Klimawandel kein existentielles oder dringendes Problem ist. Man kann sich aus den Verpflichtungen etwas zu tun, herausschwindeln und erhält dafür ein wertloses Zertifikat, dass man allfälligen Kritikern zeigen kann, als hätte man dafür was geleistet.

  • am 6.02.2023 um 14:46 Uhr
    Permalink

    Als Martin Luther am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Kirchenpforte von Wittenberg nagelte, war dies nicht nur eine detaillierte Kritik an der bigotten katholischen Kirche des Hochmittelalters, sondern vor allem der Anfang vom Ende eines blühenden Geschäftsmodells: der Ablasshandel. Gnade für die Sünden gegen Geld … um nachher wieder weiter zu machen, wie zuvor und sich dann durch einen erneuten Ablasszettel die Umgehung des Fegefeuers zu ersparen oder den Aufenthalt darin doch zumindest zu verkürzen. Das Prinzip des Emissionshandels ist exakt dasselbe. Statt, wie es im 16. Jahrhundert der Fall war, u.a. den Petersdom in Rom zu finanzieren, verdienen sich jedoch heute die Ablasshändler selber eine goldene Nase. Fragt sich nur, ob heute ein Martin Luther überhaupt noch zu finden wäre. Und wenn, ob die Zeit für eine Reformation noch reicht. Wenn nicht, können wir uns den Weg ins Fegefeuer sowieso sparen, denn dann fahren wir alle direkt zur Hölle. Mit oder ohne Ablasszettel.

Comments are closed.

Ihre Meinung

Lade Eingabefeld...