Ben-Gvir in Jerusalem.medialine

Itamar Ben-Gvir, Minister für die nationale Sicherheit Israels, mit ultranationalistischen männlichen Anhängern: «Die Palästinenser können nach Saudi-Arabien oder an andere Orte wie den Irak oder den Iran auswandern.» © medialine

Israel will die Palästinenser aus Gaza vertreiben

Urs P. Gasche /  Vieles deutet darauf hin: Das Kriegsziel der Regierung Netanyahu ist ein Israel vom Jordan bis zum Mittelmeer.

Der «totale Sieg» in Gaza, den Netanyahu nach eigenen Worten anstrebt, bedeutet für die Ultrakonservativen in Israel nicht bloss die Entmachtung der Hamas, sondern die Vertreibung der Palästinenser und die Annexion des Gazastreifens.  

Viele Palästinenser befürchten seit Kriegsbeginn, dass Israel sie vertreiben wolle auf die ägyptische Halbinsel Sinai. «Genährt wird diese Furcht durch Äusserungen israelischer Politiker und Kommentatoren, die eine neue Nakba fordern oder androhen.» Das schrieb die «NZZ» am 15. November.

Netanyahus ultranationalistischer Minister für Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, hatte erklärt, dass der Gazastreifen «uns» gehören sollte und dass «die Palästinenser nach Saudi-Arabien oder an andere Orte wie den Irak oder den Iran auswandern können». 

Anfang November berichtete der Jerusalem-Korrespondent der «New York Times», Israel habe bei den USA, Grossbritannien und anderen Verbündeten vertraulich um Unterstützung dafür ersucht, eine grosse Zahl von Gaza-Bewohnern nach Ägypten umzusiedeln. 

Israelische Politiker und Diplomaten hätten diesen Vorschlag mehreren ausländischen Regierungen unterbreitet und ihn als humanitäre Initiative dargestellt, die es den Zivilisten ermöglichen würde, «vorübergehend» den Gefahren des Gazastreifens zu entfliehen und in Flüchtlingslager in der Wüste Sinai zu ziehen, gleich hinter der Grenze im benachbarten Ägypten. Doch die meisten von Israels Verbündeten hätten den Vorschlag abgelehnt, weil sie befürchteten, dass eine solche Entwicklung Ägypten destabilisieren und eine beträchtliche Zahl von Palästinensern aus ihrer Heimat endgültig vertreiben könnte.

Das betroffene Land Ägypten lehnt eine vorübergehende, geschweige denn eine dauerhafte Umsiedlung ebenfalls ab. Bereits in einer Rede im Oktober hatte sich der ägyptische Präsidenten Abdel Fattah el-Sisi deutlich gegen eine Aufnahme von Gaza-Bewohnern ausgesprochen:

«Ägypten lehnt die Zwangsumsiedlung von Palästinensern und einen Exodus auf ägyptisches Land im Sinai vollständig ab, da dies nichts anderes als eine endgültige Liquidierung der palästinensischen Sache ist.» 

Die ägyptische Regierung will nicht zur De-facto-Verwalterin der Einwohner des Gazastreifens werden. Nach mehr als einem Jahrzehnt interner Unruhen, die durch den Aufstand des Arabischen Frühlings ausgelöst wurden, steckt das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise und befürchtet, ein grosser Zustrom von Palästinensern könnte das Land noch mehr destabilisieren.

Zudem könnte die plötzliche Umsiedlung von Palästinensern den nördlichen Sinai in Aufruhr versetzen. Dort hat das ägyptische Militär schon heute Schwierigkeiten, islamistische Aufständische unter Kontrolle zu bringen. Auch könnten einige Palästinenser vom Sinai aus Angriffe auf Israel verüben, was Ägypten in einen Konflikt mit Israel hineinziehen würde.

Bereits Vorschläge zur Verteilung des Landes

Israels Vorschlag für eine temporäre Evakuierung von Gaza-Bewohnern schürte laut NYT unter den Einwohnern von Gaza «ein wachsendes Gefühl der Unsicherheit darüber, was mit ihnen passiert, wenn Israel am Ende seiner Militäroperationen die Kontrolle über Teile oder den gesamten Gazastreifen übernimmt, und sei es nur vorübergehend».

Für Aufregung hatte ein Parlamentarier der rechtsnationalen Likud-Partei gesorgt: Ariel Kallner forderte eine weitere Nakba, welche die ursprüngliche Massenvertreibung von 1948 in den Schatten stellen werde. «Im Moment gibt es nur ein Ziel: Nakba!», erklärte Kallner am 8. Oktober. Mit dieser Forderung ist Kallner nicht allein. Laut NYT fordern einige Mitglieder von Netanjahus Koalition, wie beispielsweise Sicherheitsminister Ben-Gvir, sowie Beamte seiner Regierung ausdrücklich die dauerhafte Vertreibung oder Umsiedlung der Palästinenser aus dem Gazastreifen.

Schliesslich wurde am 13. Oktober in Israel ein Bericht des israelischen Geheimdienstministeriums publik, der «die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus dem Gazastreifen in den Sinai» empfiehlt. Das Büro des Premierministers bestätigte die Echtheit des Dokuments, erklärte aber, es handle sich nur um ein «vorläufiges Papier» und eine «hypothetische Übung». Doch die Regierung erklärte bei dieser Gelegenheit nicht, dass eine Umsiedlung nicht in Frage komme.

Im Gegenteil: Amichay Eliyahu, rechtsextremer Minister für Heimaterbe im Kabinett Netanyahu, spekulierte am 1. November darüber, wem das neu gewonnene Land in Gaza zugeteilt werden könnte: Man solle es an ehemalige israelische Soldaten vergeben, die im Gazastreifen kämpften, oder an ehemalige israelische Siedler, die in der Enklave lebten, bevor Israel sich 2005 aus dem Gebiet zurückzog, schlug Eliyahu vor. Das Schweizer Fernsehen interviewte eine dieser jetzt in Israel lebenden ehemaligen Siedlerfamilien. Der Vater zeigte den sorgsam aufbewahrten Schlüssel ihres damaligen Hauses in Gaza. Er sei bereit für eine mögliche Rückkehr.

Zur Zukunft des Gazastreifens stellte die «NZZ» am 10. November fünf Szenarien vor. Eines davon war die «Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung»:

«Israel könnte auch darauf setzen, grosse Teile der palästinensischen Bevölkerung aus dem Gazastreifen zu vertreiben. Rechte Politiker und Kommentatoren fordern seit Wochen ganz offen eine zweite Nakba – also die massenhafte Vertreibung der Palästinenser. Bereits jetzt sind im zerbombten Küstengebiet laut den Vereinten Nationen rund 1,5 der 2,3 Millionen Einwohner intern vertrieben worden. ‹Für sie gibt es keinerlei wirtschaftliche Perspektiven. Da entsteht ein enormer Druck. Irgendwann werden diese Menschen – egal, wie – versuchen zu fliehen›, sagt Nahostexperte und Historiker René Wildangel.»

Israel betreibt eine Politik der vollendeten Tatsachen 

Schon seit vielen Jahren unternehmen israelische Regierungen vieles, um eine Zweistaatenlösung zu verhindern. Im Westjordanland sind die Siedler strategisch an so vielen Orten verteilt, dass dort ein unabhängiger Staat Palästina kaum mehr realisierbar ist. Die USA, welche Israel mit den mordernsten Waffen versorgen und das Land mit Milliarden unterstützen, kritisierten die völkerrechtswidrige Siedlerpolitik jeweils nur mit Worten, tolerierten sie aber.

Israel seinerseits unternahm nichts gegen die terroristische Hamas in Gaza und deren arabischen Geldgeber, weil die Existenz der Hamas eine Garantie dafür war, dass es zu keinen Verhandlungen für eine Zweistaatenlösung kommt (siehe: «Netanyahu hat die Hamas für seine Strategie missbraucht»).

Niemand will den zerbombten Gazastreifen verwalten

Gegenwärtig zerbombt Israel die bereits vorher prekäre Lebensgrundlage der 2,3 Millionen Palästinenser im Gazastreifen. Israel weiss, dass weder die Autonomiebehörde im Westjordanland noch arabische Golfstaaten noch die UNO noch europäische Länder im zerstörten Gazastreifen die Gewaltaufsicht, die Verantwortung für die Zivilbevölkerung und den Wiederaufbau übernehmen wollen. Der Ball bleibt bei Israel.

  • Israel wird im Gazastreifen keine Verbündeten finden, denen es die Macht übergeben kann.
  • Eine längere militärische Besatzung kommt für Israel nach eigenen Angaben aus Sicherheitsgründen auch nicht in Frage. Tausende Soldaten sähen sich einem feindlichen Umfeld gegenüber und müssten einen Guerillakrieg mit Islamisten führen. Als Besatzungsmacht wäre Israel zudem für den Gazastreifen völkerrechtlich verantwortlich und müsste für die Versorgung der notleidenden palästinensischen Zivilbevölkerung sorgen.

Manche Kommentatoren kritisieren, dass Israel für die Zeit nach Kriegsende keine Strategie habe oder bekanntgebe. Falls jedoch das Ziel von Israels Regierung darin besteht, die Palästinenser umzusiedeln und das Land für Israelis freizumachen, dann wird Netanyahu zu diesem Ziel nicht öffentlich stehen. Die Regierung wird vielmehr versuchen, mit vordergründig anderen Motiven Tatsachen zu schaffen, um dieses Ziel zu erreichen.

Die «geschaffenen Tatsachen» sind dann folgende: Hunderttausende Frauen, Kinder und Jugendliche, die verdursten, verhungern und von Seuchen heimgesucht werden; viele Schwerverletzte und Kranke, die keine Hilfe mehr erhalten: Eine seit langem nicht mehr dagewesene humanitäre Katastrophe vor den Augen der Weltöffentlichkeit. 

Der Druck wird enorm zunehmen, dass Ägypten und andere arabische Staaten die Gaza-Einwohner bei sich aufnehmen. Eine Milliarden-Entschädigung für Ägypten könnte dazu beitragen, dass Israel dem Ziel der Ultrakonservativen näherkommt: Ein Israel vom Mittelmeer bis zum Jordan.


Aus dem Koalitionsvertrag der israelischen Regierung: Anspruch auf das Westjordanland

Im Koalitions­rahmenvertrag heisst es bereits im ersten Satz: «Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräusserliches Recht auf alle Teile des Landes Israel – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.» Judäa und Samaria ist die israelische Bezeichnung für das Westjordanland. Im Koalitionsvertrag (§118) mit dem Reli­giösen Zionismus steht, dass der Premier eine Politik für die Übertragung der «Souveränität» (sprich Annexion) des Westjordanlands konzipieren soll.

Darauf hatte die «Stiftung Wissenschaft und Politik» SWP im Januar 2023 hingewiesen und schrieb:

«Likud-Politiker Levin formulierte an welcher Strategie sich die Koalition hier orientieren sollte, wenn nicht offiziell annektiert wird: Die Regierung müsse versuchen, ‹ein Maxi­mum an Territo­rium zu halten und die Souveränität über ein Maximum an Terri­torium auszuüben, während die arabische Bevölkerung in diesem Gebiet auf ein Mini­mum beschränkt wird.› Damit beschrieb Levin einen Prozess, den man als De-facto-Annexion bezeichnen kann, nämlich die rechtliche Integration von Siedlungen und Siedlern in das israelische Rechtssystem, obwohl im Westjordanland Besatzungsrecht herrscht und somit der Oberbefehlshaber der zuständigen Militäreinheit dort auch völkerrechtlich der Souverän ist […]
Der hat Likud bereits angekündigt, dass die neue Regie­rung eine Reform zur ‹staatsbürgerlichen Gleichstellung der Siedler› durchführen werde, ohne aber den legalen Status der Territorien zu verändern.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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7 Meinungen

  • am 11.12.2023 um 15:04 Uhr
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    Was Israel macht ist m.E. ein (provozierter?) Notwehrexzess, vgl. al-Aqsa-Konfrontationen 2023. Der Staat nimmt einfach den alten Plan der ethnischen Säuberung des Gazastreifens aus der Schublade und setzt den um. «… mehr als eine Million Palästinenser haben 24 Stunden Zeit , den nördlichen Gazastreifen zu verlassen.»
    Dieselben Friedensgegner der Ukraine sind auch hier gegen den Frieden in Israel.
    Diese ‹als Schutz der Zivilbevölkerung› verkaufte ethnischen Säuberung Israels wurde von den Regime-Medien als ‹humanitäter Ak’t propagiert, ‹Das humanitäre Völkerrecht würde (angeblich) von Israel respektiert. Die israelische Armee bekenne sich zu ihrer Verpflichtung, keine Zivilisten zu militärischen Zwecken anzugreifen. Die Anweisung an die Zivilbevölkerung, die Zielgebiete zu verlassen, sei ein wertvolles Mittel, um die Zahl der Opfer zu minimieren.›

    Wie immer ist das erste Opfer des Krieges die Wahrheit.

  • am 11.12.2023 um 18:44 Uhr
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    Uuups – Dieser Artikel dürfte nicht allen gefallen, aber er kommt wahrscheinlich der Wahrheit sehr nah. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht. Die humanitäre Katastrophe ist längst eingetroffen und es ist erstaunlich wie die reflexartigen Antworten darüber ausfallen und wie die Zerstörung des Gazastreifens gerechtfertigt wird. Das bedeutet doch nicht, dass man das Massaker der Hamas gutheisst – im Gegenteil auch das ist barbarisch genauso wie jetzt in noch viel grösserem Masse die Leute im Gazastreifen leiden. Ob mit dieser Politik noch weitere Geiseln freikommen, ist mehr als fraglich.

  • am 11.12.2023 um 20:29 Uhr
    Permalink

    Israel tut also im Westjordanland und im Gazastreifen das, was Russland im Donbass und mit der Krim tut. Ach so, ist ja nicht vergleichbar, weil erstens Russland eine böse Diktatur unter dem faschistischen Putin ist und ausserdem die Bevölkerung in den besetzten ukrainischen Gebieten gegen die «Annexion» ist, die Palästinenser aber mehrheitlich für die «Integration» ihres Territoriums in das demokratische Israel sind? Oder wie war das jetzt? Bringe ich da etwas durcheinander?

  • am 12.12.2023 um 01:24 Uhr
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    Tasächlich, die Taten bestätigen den Plan, es ist offensichtlich. Die nächste Frage, die sich stellt: Weshalb haben alle Alarm- und Abwehrsysteme Israels am 7. Oktober versagt? Die NewYorkTimes liefert Beweise dafür, dass sowohl die Armee wie die Regierung wussten, was geschehen werde und liessen es geschehen. In andern Worten, man darf vermuten, dass die zionistische Regierung den Hamas missbraucht hat, um endlich den Gazastreifen räumen zu können. La fin justifie les moyens…

  • am 12.12.2023 um 08:38 Uhr
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    Ob dies tatsächlich das offizielle Ziel von Israel ist, weiss ich nicht, aber es gibt schon Anzeichen dafür, dass dem so ist. Die Frage ist die, wie löst man diesen Konflikt. Wenn man die Existenz Israel als Tatsache akzeptiert, diese langfristig absichern will und sich der Realität der arabischen Mentalität bezüglich Israel vor Augen führt, bleibt eigentlich nur diese Variante für Israel. Alle anderen führen mittel bis langfristig zu dessen Zerstörung.
    Aus Sicht der Palästinenser ist dies natürlich tragisch. Die Alternative ist allerdings eine Perpetuierung des Konfliktes und noch mehr Opfer und Leiden auf beiden Seiten. Mit einem Staat Palästina, bestehend aus Westbank und Gaza, würden sie auch nicht glücklich. Der Mikrostaat böte nämlich keine Lebensgrundlage und Zukunft, der Groll gegen Israel würde noch grösser und nicht verschwinden bis zu dessen Vernichtung.
    Die arabische/islamische Welt wird eine solche Lösung kaum aufwühlen, solange der Zugang zu Al-Aksa gewährleistet bleibt.

  • am 12.12.2023 um 17:36 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für Ihren mutigen Artikel, Herr Gasche. Ich finde es nicht richtig, den Gaza-Krieg mit dem Ukraine-Krieg zu vergleichen, wie das hier in Kommentaren geschieht.

  • am 13.12.2023 um 21:11 Uhr
    Permalink

    Das der allwissende Mossad und demzufolge die derzeitige israelische Scharfmacher Regierung nichts von einem bevorstehenden Angriff der Hamas wusste, sollte man so langsam aber sicher vergessen. Die Hamas machten mit ihrem Angriff auf Israel dessen Militär einen grossen Gefallen,
    um endlich Gaza mit voller Kraft anzugreifen und nieder zu machen, was sie auch immer wieder verkündeten. Unabhängig der grossen Kollateralschäden auf beiden Seiten, die man grosszügig in Kauf nahm. Und der Grossteil der westlichen Regierungen hütet sich offiziell ihre Meinungen zu sagen.

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