Humanitäres Völkerrecht

Die verschiedenen Rotkreuz-Gesellschaften sind darauf angewiesen, dass das humanitäre Völkerrecht eingehalten wird. © Deutsches Rotes Kreuz

Israel kann sich verteidigen und sich an seine Werte halten

Red. /  Die künftige Sicherheit Israels hängt auch davon ab, ob die Armee alles unternimmt, um die Zivilbevölkerung zu schonen.

upg. Hilflos verfolgen wir den eskalierenden Konflikt im Nahen Osten. Über das aktuelle Geschehen informieren die grossen Medien. Infosperber dokumentiert einordnende Stimmen. Zuerst vom Nahostexperten Erich Gysling, dann von israelischen und jüdischen Frauen. Heute veröffentlichen wir eine gemeinsame Stellungnahme des Editorial Board der «New York Times» vom 14. Oktober (Übersetzung und Zwischentitel von der Redaktion).

Israel steht kurz davor, in den Gazastreifen einzumarschieren, um auf die Terroranschläge der Hamas zu reagieren, die von vielen, auch von der israelischen Führung, mit 9/11 verglichen wurden – nicht nur wegen des Ausmasses und der Grausamkeit, sondern auch, weil die Terroristen versuchten, die Ruhe des täglichen Lebens zu zerstören. Sie töteten ganz Junge und ganz Alte, Schwache, Zivilisten und Soldaten. Sie nahmen etwa 150 Geiseln, darunter Kinder. Überlebende sagten, die Angreifer hätten Frauen vergewaltigt. Kein Israeli soll mehr sicher sein.

Israel ist seinen Bürgern gegenüber verpflichtet, die Urheber dieser Gewalttaten zur Rechenschaft zu ziehen. Doch, wie US-Aussenminister Antony Blinken sagte: «Es kommt darauf an, wie Israel dies tut.»

Israel kann diesen Krieg nicht gewinnen, indem es einfach alle Terroristen tötet. Es ist entschlossen, die Macht der Hamas zu brechen. Bei diesem Vorhaben verdient es die Unterstützung der USA und der übrigen Welt. Aber Israel kann nur erfolgreich sein, wenn es die Regeln und Verhaltensnormen einhält, welche die Hamas so mutwillig ignoriert. Israel kämpft für die Verteidigung einer Gesellschaft, die das menschliche Leben und die Rechtsstaatlichkeit schätzt. Entsprechend müssen die Mittel und Ziele seiner militärischen Reaktion sein.

Israels Ziel ist es, die Hamas zu zerstören. Es sollte dabei nicht seine Verpflichtung aus den Augen verlieren, diejenigen zu schützen, die nicht zu den Waffen gegriffen haben.

Das humanitäre Völkerrecht respektieren

Die israelische Armee bekennt sich zu ihrer Verpflichtung, keine Zivilisten zu militärischen Zwecken anzugreifen. Sie will Aktionen vermeiden, die Zivilisten unverhältnismässig grossen Schaden zufügen, wie beispielsweise die Zerstörung eines ganzen Stadtviertels, um Kämpfer in einem bestimmten Gebäude zu töten, das präziser anvisiert werden könnte. 

Dieser Krieg findet jedoch in einer Atmosphäre intensiver Emotionen statt, die sich insbesondere in den jüngsten Äusserungen des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant widerspiegelt, der sagte, Israel kämpfe gegen «menschliche Tiere».

Israel bereitet sich darauf vor, seine jungen Männer und Frauen in die Schlacht zu schicken, wo sie auf einen Feind treffen werden, der nicht dieselben Regeln der Kriegsführung respektiert, denen sie sich verpflichtet haben.

Die Hamas ist dafür bekannt, dass sie ihre Kämpfer unter der Zivilbevölkerung versteckt. Die Gleichgültigkeit gegenüber deren Leiden ist ein zentrales Element ihres Terrorismus. Die Hamas benutzt die Bevölkerung des Gazastreifens als menschliche Schutzschilde gegen die israelischen Bombenangriffe. Während die Bewohner des Gazastreifens zu fliehen versuchen, hält die Hamas die entführten Geiseln immer noch fest. Die Gruppe drohte, sie bei jedem Luftangriff, der die Bewohner des Gazastreifens in ihren Häusern trifft, einen nach dem anderen zu töten.

Die israelischen Soldaten werden sich bei ihren Handlungen und Entscheidungen auf dem Schlachtfeld von ihren Vorgesetzten leiten lassen, um sicherzustellen, dass sie im Gegensatz zur Hamas zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheiden.

Ein militärischer Sieg beseitigt nicht einfach den Extremismus

Der Schutz der Zivilbevölkerung ist der vernünftigste Weg nach vorn. Die Beendigung der Kontrolle der Hamas über den Gazastreifen ist ein wichtiger Schritt. Nur wird ein militärischer Sieg nicht viel bedeuten, wenn sich junge Menschen aus dem Gazastreifen unter einer anderen extremistischen Fahne neu formieren. 

Israel und seine Verbündeten – und die Palästinenser und ihre Verbündeten – haben ein gemeinsames Interesse, den Gazastreifen auf den Weg in eine andere Zukunft zu führen. Um dies zu erreichen, müssen die Palästinenser zunächst sehen, dass Israel bei seiner Kriegsführung auf ihr Leben und ihre Sicherheit Rücksicht nimmt.

Letzten Donnerstag verkündete Israel, dass mehr als eine Million Palästinenser 24 Stunden Zeit hätten, den nördlichen Gazastreifen zu verlassen. Das löste Panik, Verwirrung und sofortige Einwände seitens der Vereinten Nationen aus, welche die israelische Regierung aufforderten, die Anordnung zurückzunehmen. Wie Generalsekretär António Guterres feststellte, gilt die Anordnung «für ein Gebiet, das bereits belagert wird, unter Luftangriffen leidet und ohne Treibstoff, Strom, Wasser und Lebensmittel dasteht».

Die Anweisung an die Zivilbevölkerung, die Zielgebiete zu verlassen, ist ein wertvolles Mittel, um die Zahl der Opfer zu minimieren. Aber sie funktioniert nur, wenn die zur Evakuierung Aufgeforderten über einen sicheren Weg und über die nötigen Mittel verfügen, um dorthin zu gelangen. Sie müssen für ihre Reise genügend Zeit haben. Das israelische Militär weitete dieses 24-Stunden-Fenster aus und stellte klar, dass die Bewohner des Gazastreifens am Samstag Zeit haben würden, sich «ohne Gefahr» nach Süden zu bewegen. Aussenminister Blinken sagte am Freitag, dass die USA mit dem IKRK zusammenarbeiten, um sichere Zonen zu schaffen, die dazu beitragen könnten, die Zahl der zivilen Opfer zu begrenzen.

Die Hamas nutzt die Kriegsregeln seit langem für ihre eigenen Zwecke aus. Wahrscheinlich wird sie auch jetzt alle Vereinbarungen wie diejenige zum Schutz der Zivilbevölkerung ausnutzen. 

Das entbindet Israel jedoch nicht von der Verantwortung, zu versuchen, sich ans Kriegsrecht zu halten.

Die Rolle von Journalistinnen und Journalisten

Israel sollte zudem Massnahmen ergreifen, um die Sicherheit von Journalisten und humanitären Helfern in der Konfliktzone zu gewährleisten. Sie spielen in Kriegszeiten eine entscheidende Rolle, indem sie das Geschehen dokumentieren. Diese Dokumentation ermöglicht es, dass alle Konfliktbeteiligten für ihr Verhalten zur Rechenschaft gezogen werden, sowohl von den Bürgern ihrer eigenen Länder als auch vom Rest der Welt, wie in der Ukraine, wo Journalisten Beweise für Kriegsverbrechen in Butcha dokumentiert haben. Wo Journalisten und Hilfsorganisationen nicht in der Lage sind, Zeugnis abzulegen, gibt es keine Rechenschaftspflicht.

Lehren aus der jüngsten Geschichte der USA

Die USA haben Israel in der Stunde des Leidens feste Unterstützung angeboten. Aber Freundschaft erfordert auch das Aussprechen harter Wahrheiten. Aussenminister Blinken und Präsident Biden haben in allgemeiner Form darüber gesprochen, wie die Opfer unter der Zivilbevölkerung minimiert werden können. Sie sollten Israel gegenüber deutlich machen, dass die Beziehung zwischen den beiden Nationen in der Verpflichtung zu Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit verwurzelt ist.

Wenn die USA zur Zurückhaltung raten, können sie auf die Lehren aus ihrer eigenen jüngsten Geschichte verweisen. Zwei Jahrzehnte lang haben die USA einen weltweiten Feldzug gegen den Terrorismus geführt. Allzu oft haben sie dabei das Völkerrecht ignoriert, wenn es als unbequem erschien. Damit schwächten die USA das Engagement der Welt für diese Regeln und trugen dazu bei, dass eine neue Generation von Extremisten gestärkt wurde.

Israel befindet sich wegen der Verdorbenheit der Hamas im Krieg. Ein weiteres Blutvergiessen scheint unvermeidlich, aber die Art und Weise, wie Israel kämpft, wird bestimmen, was als nächstes geschieht: Die Hamas zu besiegen, wird Israel sicherer machen. Israel wird jedoch nicht sicherer, wenn die Armee die Tötung von Zivilisten gleichgültig hinnimmt. 


«Kriegsverbrechen nicht mit weiteren Kriegsverbrechen rächen»

Red. Zitate des NYT-Editorialisten Nicholas Kristof vom 14. Oktober

Hamas-Kämpfer sind keine Freiheitskämpfer, sondern frauenfeindliche Unterdrücker ihres eigenen Volkes. Sie begehen Gräueltaten gegen Israelis, die zu Gegenschlägen führen, bei denen Zivilisten getötet werden. 

Doch auch das muss gesagt sein: Ein weiterer Grund für den Hass ist die unendliche Erniedrigung im Gazastreifen, verursacht durch Israels regelmässige Bombardierungen und seine Wirtschaftsblockade.

Nach den Zusammenstössen im Jahr 2021, die zu israelischen Bombenangriffen führten, stieg die Popularität der Hamas bei den Palästinensern in die Höhe. Denn wenn die Menschen sehen, wie ihre Freunde sterben, treibt ihre Wut sie manchmal dazu, jeden zu unterstützen, der scheinbar für sie kämpft. 

Ich vermute, dass selbst wenn die Hamas als Organisation ausgeschaltet würde, der Extremismus zunähme und neue radikale Gruppen entstünden. Die Hamas, die vom Elend genährt wird, ist eine Hydra: Wenn ein Kopf abgeschlagen wird, wachsen zwei weitere nach.

Kriegsverbrechen sollten nicht durch weitere Kriegsverbrechen gerächt werden. Viele Israelis sind nicht in der Stimmung, das zu hören. Sie haben einen vernichtenden Schlag erlitten, der zu den schlimmsten Massakern an Juden seit dem Holocaust gehört. Aus Israel kommt ein verärgerter Refrain: «Aber was erwarten Sie von uns?»

Das ist richtig. Jeder erwartet von Israel, dass es zurückschlägt. Die praktische Frage ist, wie weit man gehen soll: Wie viele tote Kinder aus dem Gazastreifen werden für Israel zu viel?


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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2 Meinungen

  • am 18.10.2023 um 13:43 Uhr
    Permalink

    Ironie der Geschichte, soweit man von Ironie sprechen kann, ist, dass der Hamas von Israel als ein Mittel zur Verhinderung der Zweistaatenlösung betrachtet und gefördert wurde, siehe z.B.
    https://responsiblestatecraft.org/benjamin-netanyahu-israel/

    Zu Israels Politik überhaupt scheint mir sehenswert (und deprimierend), was Gabor Maté, Psychiater und Holocaust-Überlebender, dazu zu sagen hat
    https://www.youtube.com/watch?v=6n6xvFw7r9Y

  • am 18.10.2023 um 19:43 Uhr
    Permalink

    Wenn sich Israel in den letzten Jahrzehnten an «seine Werte» gehalten hätten, würden die Palästinenser nicht so aussichtslos den so massiv überlegenen angreifen und Menschenrechtsverletzungen begehen!
    Was sind eigentlich diese «Werte Israels»? Der Siedlungsbau, die Annexion von Land, die Behandlung der Palästinenser als Menschen 2. Klasse?

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