Kommentar

Peter Studer bekam beim Tages-Anzeiger einen Scheuermann

Erich Schmid © zvg

Erich Schmid /  Über das dialektische Verhältnis mit meinem ehemaligen Chefredaktor und über die Abhängigkeit der Medien von der Wirtschaft.

mdb. Erich Schmid ist Filmemacher und Autor. Er arbeitete beinahe ein Jahrzehnt beim Tages-Anzeiger und später beim Fernsehen SRF unter Peter Studer. Hier gibt er seine persönliche Sicht wieder – ergänzend zum Nachruf von Bruno Glaus.

Peter Studer war nicht nur Chefredaktor, Leiter des Presserats und Verfasser juristischer Werke zur Medienwelt, sondern auch Oberst und in leitender Position bei der ehemaligen Abteilung Presse und Funkspruch (APF) der Schweizer Armee. Er war also eine Instanz. Wer sich dazu berufen lässt, ist an seiner Funktion zu messen, auch in einem Nachruf.

Ich habe Peter Studer knapp zehn Jahre lang als Journalist beim Tages-Anzeiger erlebt, bis er mir bei der Veröffentlichung meines Buches «Verhör und Tod in Winterthur» mitteilte, dass ich mich in einer «kontroversen Angelegenheit einseitig positioniert» hätte und dies mit dem Redaktionsstatut nicht vereinbar sei.

Ich habe ihm dies nicht nachgetragen, weil mir bewusst war, dass es noch Jahre dauern würde, bis die Winterthurer Ereignisse aufgearbeitet sein würden (der Anschlag auf Bundesrat Friedrichs Haus, die Flächenverhaftungen von Jugendlichen, der Tod von Gabi S. im Gefängnis und der Suizid des leitenden Bundespolizisten Hans Vogt).

Schwieriger war das Verhältnis während der Zürcher Jugendunruhen von 1980. Ich darf für mich in Anspruch nehmen, dass ich der einzige Tagi-Journalist war, der diese ganze Zeit als Ressort-Reporter mit einer Akkreditierung bei der Polizei und den Gerichten überlebte, bis sie mir nach einem Artikel über Dani und Michi entzogen wurde. Der Grund war, dass ich aus den Akten über die tödlich endende Verfolgungsjagd einen Passus zitierte, wonach der Beifahrer des Streifenwagens, als er auf gleicher Höhe wie die Töfflifahrer war, seine Pistole aus dem offenen Fenster auf die beiden Buben richtete. Studer und ich mussten bei den Polizeikommandanten von Stadt und Kanton antraben. Mit der Polizei einigte sich Studer, dass ich die Akkreditierung verliere. Beim Tagi stellte er für den Part meiner Polizeiberichterstattung Eva Wyss ein, mit der ich dann mein Büro beim Tages-Anzeiger teilte. Es machte mir nicht sehr viel aus, weil ich Eva mochte und als alleinstehender Vater nurmehr halbtags arbeiten musste.

Aber problematisch war die von Chefredaktor Studer akzeptierte Begründung: Der Streifenpolizist habe ja nicht gewusst, ob die jugendlichen Töfflifahrer Schwerverbrecher seien. Deshalb habe er vorsorglich die Pistole in die Hand genommen. Gleichzeitig habe er den beiden Zeichen zum Anhalten geben müssen, und da sei es ja logisch, dass die Pistole in der Schusshand mitkomme. Abgesehen davon, dass die beiden Töfflifahrer dies anders eingeschätzt haben dürften und kurz danach zu Tode stürzten, lag in der Akzeptanz Studers ein tiefschürfenderes Problem.

Die Polizei hatte in den 80er-Jahren einen ungeahnten Machtzuwachs bekommen, der mit unserem Wirtschaftssystem zusammenhängt. Dies hatte zu einer journalistischen Bruchstelle geführt, der Chefredaktor Peter Studer auch nicht mehr gewachsen war; sie war grösser und mächtiger als seine Instanz.

Der Hintergrund waren die 80er-Unruhen, in deren Verlauf 4000 Jugendliche verhaftet worden waren. Es gab 30 verletzte Polizisten und bei den Demonstrant:innen 500 Knochenbrüche, etliche nach den Festnahmen. In der Stadt Zürich klirrte das Glas hunderter Schaufenster von kleinen Läden wie von grossen Warenhäusern. Alle waren überfordert: die Stadtregierung, die Polizei, die Medien und die Firma Glas-Müller.

Die Geschädigten, Globus, andere Warenhäuser und die Vereinigungen der Verkaufsgeschäfte, drohten dem Tages-Anzeiger, die Inserate zu entziehen, falls die Polizei, die ihre Scheiben schützen sollte, durch unsere kritischen Berichte geschwächt werden sollte. Peter Studer stand unter Druck der Geschäftsleitung, die den Verlust von Inserateeinnahmen befürchtete, und bekam deswegen nicht nur einen Scheuermann, wie er einmal sagte, sondern führte für die Berichterstattung über die Unruhen das sogenannte «Textmanagement» ein.

Das war sein Kind. Jeder Bericht von der Front musste der Polizei zur Stellungnahme vorgelegt werden. Diese Stellungnahmen schusterten die Polizeipressestellen fernab des Geschehens so zusammen, dass unsere Berichte von der Strasse unglaubwürdig klangen und eine gezielte Verwirrung schufen, sodass die Lesenden am Ende nicht mehr einschätzen konnten, wem sie glauben sollten.

Peter Studer wusste, dass bei einer Kontroverse zwischen der Polizei und einem journalistischen «Fusssoldaten», wie er mich einmal nannte, die grosse Mehrheit der Leser und Leserinnen den Behörden glaubte (ganz einfach weil sie eine unglaubwürdige Polizei nicht wahrhaben wollte). Und damit wusste er auch, dass sein «Textmanagement» eine eigentliche Zensur im Interesse des Zeitungsunternehmens kaschierte. Es war eine journalistische Bankrotterklärung, für die Peter Studer verantwortlich war. Aber noch mehr waren die Verhältnisse verantwortlich, die Abhängigkeit des Tages-Anzeigers, der zu etwa 80 Prozent von den Inseraten lebte.

Später traf ich beim Schweizer Fernsehen, das glücklicherweise weniger stark von der Werbung abhängig war, auf einen ganz anderen Peter Studer. Er stand weniger stark unter Druck oder zumindest weniger direkt. Zwar schaute er mir als gelegentlichem Fernsehjournalisten immer noch auf die Finger, setzte sich aber immer wieder für meine späteren Kino-Dokumentarfilme ein.

Er sorgte dafür, dass sie – damals noch – am Sonntagabend ausgestrahlt wurden, und zwar zur Primetime wie die Spielfilme: der erste, «Er nannte sich Surava», im Jahr 1996 mit einem anschliessenden Filmgespräch; der zweite, «Meier 19», im Jahr 2001.

Nach dem Weggang Studers änderte sich der Umgang mit meinen Filmen. «Max Bill – das absolute Augenmass» (2008) wurde nur noch normal am Abend ausgestrahlt,  «Staatenlos – Klaus Ròzsa, Fotograf» (2016) noch um 00.05 Uhr und «Adolf Muschg – der Andere» am 26. November 2023 um 00.10 Uhr, als niemand mehr fernsehschaute.

Peter Studer hat mich für meine Filme jeweils juristisch beraten, und immer wieder kam er zu uns ins Wohn- und Atelierhaus von Max Bill. Den Weg nach Zumikon kannte er schon wegen seiner Freundschaft mit der Familie Kopp. Er war kunstinteressiert, und einmal lachte er zurückblickend und sagte: «Wir hatten ja einmal ein etwas dialektisches Verhältnis…», worauf meine Frau fragte: «In welchem Dialekt?» – Es waren die dialektischen Verhältnisse, in denen sich die Schweizer Medien heute noch befinden.

Weiterführende Informationen


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4 Meinungen

  • am 7.12.2023 um 16:05 Uhr
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    Erhellendes zu vergangenen sehr bewegten Zeiten!

  • am 7.12.2023 um 18:55 Uhr
    Permalink

    Danke für diesen einleuchtenden Rückblick. Wie schätzen sie den heutigen prozentualen Wert der Anzeigen im Budget des Tagi?

  • am 8.12.2023 um 08:24 Uhr
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    Nach meinem Dafürhalten funktioniert TA-Media mit allen seinen Presseprodukten heute nach dem genau gleichen Schema. Die Inserenten und die Generierung von emotional gesteuerten Aufmerksamkeit beim Leser bestimmen, was geschrieben wird. Deshalb abonniere ich keine kommerziellen Medien mehr. Das Diktat des Kommerzes führt eindeutig zu Zensur, auch bei den Leserbriefen.

  • am 8.12.2023 um 09:38 Uhr
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    Danke für die Auffrischung vergangener Zeiten. Als ehemaliger «Fusssoldat» erinnere ich mich mit Schwermut an Meienbergs «Kriegsgurgeln» der 80er und 90er Jahren…und Freude herrscht heute, wenn man selbst in der traditionsreichen NZZ auf der Titelseite lesen darf: «Zeitenwende und Armeeausgaben: Die Schweizer sind ein Heer friedliebender Heuchler» oder besser gesagt ein Heer überforderter APF-Veteranen ;-))

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