Knabe Übergewicht

Jedes fünfte Kind im Primarschulalter in den USA war vor der Pandemie übergewichtig. Die Lockdowns haben das Problem vergrössert. © londondeposit / Depositphotos

USA: Zehntausende Teenager bekommen «Fett weg»-Spritzen

Martina Frei /  Hersteller bewerben die Wirkstoffe mit hunderten Millionen Dollar. Auch für Medien sind diese Medikamente ein gutes Geschäft.

Fast 20 Prozent der Primarschülerinnen und -schüler in den USA waren schon vor der Pandemie stark übergewichtig. Sie wogen fast doppelt so viel oder noch mehr als für ihr Alter im Durchschnitt angemessen wäre.

Während der Pandemie verschärfte sich das Problem mit der Fettleibigkeit. Schwerer wurden vor allem die Kinder, die vorher schon zu dick waren, und Kinder aus armen Familien – wobei diese beiden Umstände oft miteinander verknüpft sind. Das Problem betrifft verschiedene Gesellschaftsgruppen unterschiedlich.

Bei etwa 20 Prozent der Heranwachsenden in den USA – vor allem bei den stark übergewichtigen – ist bereits der Blutzucker-Stoffwechsel gestört. Je nach angelegten Kriterien haben 4 bis 23 Prozent eine Vorstufe des Typ 2-Diabetes.

Ungesunder Zuckerkonsum, staatlich gefördert

Zum Übergewicht trägt unter anderem bei, dass in den USA quasi von Staats wegen der Kauf süsser Getränke gefördert wird. Rund 15 Prozent der Armen erhalten Lebensmittelgutscheine. Diese berechtigen auch zum Bezug von zuckerhaltigen Limonaden, Energy Drinks, Ice-Tea und Säften. 9,3 Prozent der Kosten für diese Essensmarken – rund 720 Millionen US-Dollar – flossen bereits 2011 in Süssgetränke. 

Anstatt nun den Hebel dort anzusetzen, wo das Problem beginnt – bei der Benachteiligung von Bevölkerungsgruppen, grossen sozialen Unterschieden plus einer ungesunden Lebensweise mit zu vielen Kalorien und zu wenig Bewegung – greifen andere Mechanismen. Das lässt sich am Beispiel der «Fett weg»-Spritzen aufzeigen.

Ärztliche Empfehlungen spielen eine grosse Rolle

Im Januar 2023 veröffentlichte die Vereinigung der US-Kinderärzte, die «American Academy of Pediatrics» (AAP), ihre Empfehlungen zur medikamentösen Behandlung von Kindern. Mangels besserer Methoden zum Abnehmen sind ihre Expertinnen und Experten der Ansicht, dass bereits 12-jährigen, stark übergewichtigen Kindern zum Beispiel «Fett weg»-Spritzen oder ähnliche Wirkstoffe angeboten werden können.

Laut der AAP dürften auch Kinder ab 8 Jahren medikamentös gegen ihr Übergewicht behandelt werden.

Zu diesen Behandlungen zählen Spritzen und Tabletten mit sogenannten GLP 1-Imitatoren wie zum Beispiel Semaglutid. Diese Wirkstoffe imitieren die Wirkung des Hormons GLP-1 und wurden ursprünglich gegen Diabetes entwickelt. Etwas höher dosiert, helfen sie aber auch beim Abnehmen. Diese Wirkung wird massiv beworben. 

Semaglutid ist in den USA ab 12 Jahren zugelassen (in der Schweiz ab 18 Jahren).

Massive Werbung

Laut «CNBC» gaben die Hersteller allein in den USA letztes Jahr über eine Milliarde US-Dollar aus, um Medikamente gegen Diabetes und Übergewicht in TV-Spots, Zeitungsinseraten, auf Websites, in Podcasts und auf Social Media zu bewerben. (In der Schweiz ist Werbung für rezeptpflichtige Medikamente nur in der Fachpresse erlaubt.)

Eine aktuelle Auswertung in der Medizinzeitschrift «Jama» zeigt nun einen Verkaufsanstieg um mehrere hundert Prozent von GLP 1-Imitatoren bei jungen Menschen: Im Jahr 2023 wurden monatlich mindestens 60’567 Jugendlichen und Erwachsenen bis 25 Jahre in den USA solche Wirkstoffe verordnet. Drei Jahre zuvor waren es 8722. Die Auswertung umfasste 94 Prozent aller in US-Apotheken eingelösten Rezepte.

Insgesamt erhielten im Jahr 2023 etwa 34’000 Teenager zwischen 12 und 17 Jahren mindestens ein Rezept für einen GLP 1-Imitator. Bei den jungen Erwachsenen lösten rund 162’000 ein solches Rezept ein. 

Grafik eingelöste Rezepte GLP 1-Imitatoren
Starker Anstieg: Viele Jugendliche (links) und junge Erwachsene bis 25 Jahre (rechts) in den USA lösten Rezepte für GLP 1-Imitatoren ein (orange Kurven = Mädchen / Frauen, blaue Kurven = Knaben / Männer).

In der Zulassungsstudie erzielten viele eine merkliche Gewichtsreduktion

In der Zulassungsstudie wurde Semaglutid 68 Wochen lang an 134 Heranwachsenden getestet. Nebst der medikamentösen Behandlung sollten sich die Studienteilnehmenden täglich 60 Minuten moderat bis intensiv bewegen. Anfangs wurden sie alle zwei Wochen, später alle vier Wochen in punkto Diät, gesunder Ernährung und Sport gecoacht.

Rund 10 Prozent der Teilnehmenden verloren auf diese Weise sowohl mit Semaglutid als auch mit Placebo fünf bis neun Prozent ihres Körpergewichts, bei einem durchschnittlichen Ausgangsgewicht von über 100 Kilo. 37 Prozent der mit Semaglutid Behandelten reduzierten ihr Ausgangsgewicht in den 68 Wochen um mindestens 20 Prozent. Mit Placebo-Spritzen und den weiteren Massnahmen gelang dies nur 3 Prozent.

In der siebenwöchigen Nachbeobachtungszeit ohne das Medikament zeigte sich jedoch, dass das Gewicht wieder anstieg.

Unbekannte Risiken der langfristigen Einnahme

Der US-Medizinprofessor Vinay Prasad hinterfragte die Empfehlung der Kinderärzte-Vereinigung auf der Website «Sensible Medicine»: «Was passiert, wenn sie [die damit Behandelten] 22 Jahre alt werden? 32? Nehmen sie es dann jahrzehntelang ein? Wenn sie aufhören und an Gewicht zunehmen, können sie wieder damit anfangen.» Das Sicherheitsprofil dieser Medikamente sei zwar gut bekannt – aber man wisse nicht, was nach zwei Jahrzehnten der Einnahme passiere, wandte Prasad ein. 

Basierend auf der Dauer der klinischen Studien hätten sich die GLP 1-Imitatoren als sicher und wirksam bei der Gewichtsabnahme erwiesen, «aber die Wirksamkeit bleibt nicht erhalten, wenn die Patienten die Einnahme beenden. Wenn man davon ausgeht, dass die Menschen diese Medikamente auf unbestimmte Zeit einnehmen müssen, müssen wir noch deren langfristige Nebenwirkungen verstehen», schreibt die Kinderheilkunde-Professorin Joyce Lee von der Universität Michigan auf Anfrage. Zusammen mit mehreren Kolleginnen und Kollegen hat sie die «Jama»-Studie verfasst.

Man müsse auch über zusätzliche Risiken für jüngere Menschen nachdenken, da sie im fortpflanzungsfähigen Alter seien, so Lee. «Bei Frauen sollten die GLP 1-Imitatoren nicht während der Schwangerschaft oder der Stillzeit eingenommen werden. Ärzte sollten ihre Patientinnen auch darüber aufklären, dass die Medikamente die Wirksamkeit der Antibabypille beeinträchtigen könnten.»

Das Arzneimittelkompendium in der Schweiz rät, Semaglutid mindestens zwei Monate vor einer geplanten Schwangerschaft sicherheitshalber abzusetzen. In Tierversuchen wirkte es frucht­schädigen­d.

«Jojo»-Effekt nach dem Absetzen

Nach bisherigen Erfahrungen mit Semaglutid steigt das Gewicht wieder, sobald das Medikament abgesetzt wird. Der Effekt sei «nicht nachhaltig», schrieb der «Pharma-Brief». So habe eine Studie an Erwachsenen gezeigt, «dass ein Jahr nach Absetzen bei den Betroffenen nur noch ein Drittel des ursprünglich erzielten Gewichtsverlusts erhalten blieb.» 

Ähnliches ist vom chemisch verwandten, täglich zu spritzenden Wirkstoff Liraglutid bekannt: Rund zwei Jahre nach dem Absetzen war das Gewicht bei Heranwachsenden zwar niedriger als bei denen, die Placebo-Spritzen erhalten hatten – aber es war trotzdem höher als vor der Behandlung, wie eine Studie im «New England Journal of Medicine» zeigte. Das Medikament verhinderte den Gewichtsanstieg nur so lange es angewendet wurde. 

Liraglutid bei Adoleszenten
Die Heranwachsenden verloren im Verlauf der 56-wöchigen Behandlung mit Liraglutid (blaue Kurve) durchschnittlich rund 4,5 Kilo ihres Anfangsgewichts. Kaum war die Behandlung beendet, stieg das Gewicht wieder. Diejenigen, die Placebo-Spritzen erhielten (graue Kurve), nahmen anfangs ganz wenig ab und danach noch stärker zu.

Interessenkonflikte der Ärzte …

Spitzenreiter bei den von Heranwachsenden eingelösten Rezepten war gemäss Lees Studie mit Abstand der Wirkstoff Semaglutid. Der Hersteller Novo Nordisk verkauft ihn in drei Darreichungsformen: Als «Ozempic»-Spritze oder als «Rybelsus»-Tablette zur Behandlung von Typ 2-Diabetes (wobei insbesondere «Ozempic» auch «off-label» gegen Übergewicht eingesetzt wird) sowie als «Fett weg»-Spritze «Wegovy» gegen Übergewicht.

Wenn mehr Personen Medikamente schlucken, spült das auch mehr Geld in die Kassen der Pharmahersteller, der behandelnden Ärzte und der Medien. Ausgestellt hatten die Rezepte bei den Jugendlichen meist Hormonspezialisten oder Nurse practitioners, also speziell ausgebildete Pflegekräfte. Den jungen Erwachsenen in den USA verordneten vor allem Nurse practitioners oder Hausärzte diese Wirkstoffe. Die Kosten (rund 20’000 US-Dollar für eine Jahresbehandlung) übernahmen in mehr als die Hälfte der Fälle die staatliche Medicaid- bzw. Medicare-Versicherung. 

Der Hersteller von «Ozempic», «Wegovy» und «Rybelsus», Novo Nordisk, investierte vorletztes* Jahr elf Millionen Dollar, nur um US-Ärztinnen und -Ärzte zu bewirten und an Fortbildungen zu den Abnehmmedikamenten reisen zu lassen. Fast 12’000 Medizinerinnen und Mediziner wurden laut «Stat News» über ein Dutzend Mal eingeladen. 

… und der Medien

Novo Nordisk wendete letztes Jahr 263 Millionen US-Dollar auf, um in den USA die «Fett weg»-Spritze «Wegovy» zu bewerben, plus 208 Millionen Dollar für «Ozempic»- und «Rybelsus»-Werbung. Das berichtete «CNBC».

Insgesamt hätten die Pharmafirmen im Jahr 2023 fast 790 Millionen Dollar für Diabetes-Medikamenten-Werbung an US-Medien überwiesen. Weitere 264 Millionen Dollar steckten sie in Werbung für Medikamente zur Gewichtsreduktion. Das kann zu Interessenkonflikten bei der Berichterstattung führen. 

Bei stark übergewichtigen Erwachsenen können die GLP 1-Imitatoren das Risiko für langfristige Folgeschäden des Übergewichts senken. Dazu zählen Herzinfarkte und Schlaganfälle. Um eine solche Erkrankung zu verhindern, fallen in Deutschland 863’600 € an Behandlungskosten für Semaglutid an, hat das «arznei-telegramm» ausgerechnet. Ob dieses Behandlungsziel auch bei jungen, übergewichtigen Menschen erreicht wird und zu welchem Preis, ist offen.

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*in einer früheren Fassung stand hier fälschlicherweise «letztes Jahr». Die Autorin entschuldigt sich für den Fehler.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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Eine Meinung zu

  • am 28.05.2024 um 08:04 Uhr
    Permalink

    Bisher keine Kommentare zu diesem ausgezeichneten Artikel. Ich denke die Leute sind einfach sprachlos ob dieser haarsträubenden Entwicklung…

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