Arena SRF 10.6.2022

Arena-Leiter Sandro Brotz erteilt das Wort an sieben Männer und eine Frau © srf

Die Gesundheits-Arena blickte nicht über den Tellerrand

Urs P. Gasche /  Über Reformen, welche Kosten wirklich senken, wird nicht geredet, weil sie im Parlament keine Chance haben. Prämien steigen weiter.

«Woran krankt unser Gesundheitswesen?» Auf diese Frage sollte die 80-minütige Arena-Sendung vom 10. Juni Antworten geben. Mitnichten.

Moderator Sandro Brotz stellte als «wichtigste Akteure» sieben Männer und eine Frau vor. Aufhänger war eine Prognose des Kassenverbandes Santésuisse, wonach die Prämien nächstes Jahr um mehr als zehn Prozent steigen würden. «Die Prämien steigen automatisch, wenn die Kosten steigen», stellte Thomas Christen vom BAG fest.

Und die Kosten steigen weiter, weil es «zu viele falsche (finanzielle) Anreize gibt», so dass «niemand ein Interesse hat zu sparen». Diese Feststellung stammte von SVP-Nationalrat Albert Rösti. 

Die Profiteure von den 34,5 Milliarden Ausgaben für die Grundversicherung wissen selber am besten, welche finanziellen Anreize man wie ändern muss und welche anderen Massnahmen die wirksamsten sind, um Kosten tatsächlich zu senken. Doch Exponenten der Ärzte, Spitäler, Apotheken und der Pharma reden fast nie über Sparmöglichkeiten ihrer eigenen Zunft. Dafür reden sie umso lieber darüber, wo und wie die Anderen Kosten sparen könnten.

In dieser Arena-Runde gab es unter den angeblich «wichtigsten Akteuren» ohnehin zwei grosse Abwesende:

Erstens die Pharmakonzerne, obwohl die Krankenkassen 25 Prozent ihrer Prämieneinnahmen für Medikamente ausgeben müssen (die Spitalmedikamente eingeschlossen). Das ist ein europäischer Rekord. 

Zweitens die Spitäler, obwohl die Krankenkassen 30 Prozent ihrer Prämieneinnahmen für Spitalkosten ausgeben müssen (ohne Spitalmedikamente).

Unter den «wichtigsten Akteuren» war von den Grossverdienern an der Grundversicherung lediglich die Ärzteschaft mit FMH-Vorstandsmitglied und Chirurg Urs Stoffel vertreten. Doch wie zu erwarten brillierte er nicht mit Sparvorschlägen aus seinem eigenen Fachgebiet, der Ärzteschaft. SVP-Nationalrat Rösti erinnerte das Publikum daran, dass es eine Kernaufgabe eines Berufsverbandes wie der FMH sei, seinen Mitgliedern ein möglichst hohes Einkommen zu sichern.

So überhörte Stoffel geflissentlich die Zwischenbemerkung von SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen, wonach in ihrem Kanton Bern Operationen der Wirbelsäule zwanzigmal häufiger durchgeführt würden als im Kanton Obwalden (im Verhältnis der Zahl der Bevölkerung natürlich). Krankt hier das Gesundheitswesen?

Umso länger liess Sandro Brotz die Männer der Krankenkassenverbände Santésuisse und Curafutura und des BAG darüber diskutieren, weshalb man sich noch immer nicht auf das neue Tarifsystem mit dem Namen «Tardoc» geeinigt habe. Einig waren sich alle, dass das heute geltende Abrechnungssystem «Tarmed» veraltet sei, weil es viele Einzeltarife enthalte, die nicht mehr den Kosten entsprechen. Die Tarife seien deshalb falsche Anreize für Ärzte, lukrative Behandlungen häufiger durchzuführen. Eigentlich erstaunlich, dass FMH-Stoffel nicht protestierte. Denn die Ärzteschaft behauptet meistens, dass sie nur das Wohl der Patientinnen und Patienten im Auge habe und nicht darauf schauen würde, mit welchen Massnahmen sie mehr verdienen.

Weil Kosten und steigende Prämien das Thema waren, entstand der Eindruck, mit «Tardoc» entstünden weniger Kosten. Erstaunt vernahm man, dass der Bundesrat den neusten Vorschlag ablehnte, weil «Tardoc» zu noch höheren Kosten führen würde als «Tarmed». Curafutura-Direktor Pius Zängerle, der den «Tardoc» jahrelang zusammen mit der FMH ausgearbeitet hat, meinte optimistisch, das neue Tarifsystem könne 300 Millionen Franken pro Jahr sparen. Das wäre nicht einmal ein Hundertstel der 34,5 Milliarden Kosten der Grundversicherung.

Ein Advocatus Diaboli oder Spielverderber, der die «wichigsten Akteure» gezwungen hätte, auch einmal über den Tellerrand zu schauen, fehlte in der Arena. Er hätte darauf aufmerksam gemacht, dass das Schweizer System der Honorierung jeder Einzelleistung für Spezialärzte per se falsche finanzielle Anreize setzt: Mit jeder Einzelleistung erhöhen Ärzte ihr Einkommen – je mehr und länger die Patienten krank sind und sich behandeln lassen, desto mehr verdienen Arztpraxen. Ein Urologe, Pneumologe oder Dermatologe, dem es gelingt, seine Patienten schneller gesund zu bekommen als andere, wird mit einem geringeren Einkommen bestraft. 

In Holland und den meisten andern Ländern Europas sind die Ärzte im Monatslohn angestellt oder pro Kopf der behandelten Patientinnen und Patienten pauschal bezahlt. Sie können ihr Einkommen nicht mit Überbehandlungen aufbessern. 

Auch Spitäler verdienen mehr, wenn sie unzweckmässige Operationen – welche Chirurgen an ihren Verwandten und Freunden nie durchführen würden –, unnötige Untersuchungen mit Herzkathetern, Röntgenbildern, Computertomographien, Blutentnahmen und so fort durchführen. 

Mit anderen Anreizen und Entschädigungsformen könnten die kantonalen und eidgenössischen Behörden dafür sorgen, dass die Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr häufiger und länger im Spital liegen müssen als die Holländer, Norwegerinnen oder Schweden. 

Falsche Anreize auch bei den Medikamenten: Apotheken und selbstdispensierende Ärzte kassieren eine höhere absolute Marge und verdienen mehr, wenn sie unter gleichwertigen oder sogar identischen Medikamenten jeweils die teureren verkaufen.

Doch in der Arena wäre gar keine Zeit geblieben, um über falsche Anreize konkret zu diskutieren. Denn Sandro Brotz liess auch noch über die Volksinitiativen der Mitte und der SP diskutieren. 

Mitte-Nationalrat Christian Lohr verteidigte seine «Kostenbremse-Initiative». Der neue Verfassungsartikel soll angeblich zu 6 Milliarden Franken Einsparungen pro Jahr führen. Doch ein Artikel in der Bundesverfassung bleibt toter Buchstabe, wenn ihm keine Gesetze folgen. Die Frage, wie es denn zu diesen 6 Milliarden Einsparungen kommen soll, beantwortete Lohr nicht. Er beruhigte nur, dass es «keine Rationierungen» geben soll. «Die Partner» müssten dann einfach «das Problem angehen».

SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen verteidigte die SP-Initiative, wonach niemand mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für die Prämien ausgeben muss. Im Kanton Bern liege der Durchschnitt bei 19 Prozent. Die Frage, was diese zusätzliche Kostenumlagerung von Prämien- auf Steuerzahlende mit einer Kostensenkung im Gesundheitswesen zu tun hat, beantwortete Wasserfallen nicht.

SVP-Nationalrat Albert Rösti plädierte für «mehr Wettbewerb» verbunden mit einer teilweisen Lockerung des Vertragszwang, dem die Kassen unterliegen. Die Kassen sollten mit einzelnen Spitäler bessere Preise aushandeln können, wobei drei Viertel der Einsparungen den Mitgliedern zugute kämen und die Kassen als Anreiz zum guten Verhandeln ein Viertel als Gewinn behalten dürften.

Doch ein Wettbewerb um die günstigsten Leistungen kann nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten sein. Ein Wettbewerb müsste sich um die besten Behandlungsresultate drehen. Diese aber müssten zuerst erfasst werden. Und daran krankt unser Gesundheitswesen am meisten. Die Niederlande und andere vergleichbare Länder erfassen und kontrollieren die Behandlungsresultate bereits deutlich besser. 

Fazit: Die Prämienzahlenden müssen sich weiterhin auf überdurchschnittlich steigende Prämien gefasst machen. Über den Tellerrand wird nicht geschaut, weil entsprechende Vorschläge nicht mehrheitsfähig wären. Die mächtigen Lobbys von Pharma, Ärzten und Krankenkassen haben das Parlament schon lange in Geiselhaft genommen. 

  • Die Kosten der Grundversicherung werden in der Schweiz auf absehbare Zeit die höchsten Europas bleiben. 
  • Die Bewohner der Schweiz werden weiterhin mehr Medikamente schlucken, häufiger operiert werden und länger in Spitälern liegen als in vergleichbaren Ländern. 

Ob dies eher zum Wohle oder zum Schaden gereicht, wollen Ärzte, Spitäler und Politiker lieber nicht herausfinden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Weiterführende Informationen

Zum Infosperber-Dossier:

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8 Meinungen

  • am 11.06.2022 um 11:35 Uhr
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    Die Gesundheitsarena ist nicht autonom. Magst ruhig sein, lieb Vaterland. Halbwahrheiten in einem Land der Geradedenker und Querdenker, beides extreme jenseits von Eigenverantwortung und Ethik. Neue Denker braucht das Land, und handlungsfähig Politiker, sowie eine Gewaltentrennung von Politik, Wirtschaft, Medien und Bildung. Der sinkende Bildungsstand zugunsten des reinen Funktionalismus, durch ungleiche Bildungschancen, zementiert noch die Regentschaft derjenigen, welche den Mammon anbeten. Sie Befehlen, im Health-Care nennt man dass das Geschäft mit der Angst. Als ich mit einer offenen Unterkieferschlagader den OP vollspritzte, und der taffe Chirurg das rettende gentechnische Medikament verlangte, hörte ich die Assistentin sagen: Er ist nur Grundversichert. Er sprach: Wollen sie ihn verbluten lassen? Sie: Ich muss das sagen. Ich musste, wie schon andere sagten, Befehl von Oben.

  • am 11.06.2022 um 13:41 Uhr
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    Eine Rechnung weist immer zwei Seiten auf – da sind einmal die Ausgaben, über welche immer engagiert diskutiert wird. Dann sind da noch die Einnahmen; darüber wird kaum gesprochen und vor allem konnte mir noch niemand erklären, weshalb in der guten Eidgenossenschaft bei den Prämien immer noch das Kopfsystem Mode ist, eine ziemliche Exklusivität. 2011 hat der Bundesrat in Beantwortung einer parlamentarischen Motion gemeint, die Prämien der obligatorischen Krankenpflegeversicherung würden durch die individuelle Prämienverbilligung wirksam reduziert. Wozu braucht es diesen komplizierten Mechanismus denn, wenn die AHV nach dem Solidaritätsprinzip finanziert wird und es dort funktioniert. Ist es ganz einfach die immer weitergehend Entsolidarisierung unserer Gesellschaft, die eine längst überfällige Umstellung verhindert…..

  • am 11.06.2022 um 14:01 Uhr
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    Liebe Leser und liebe Entscheidungsträger
    Mir fehlt in der Kostenfrage ein wichtiger Aspekt, nämlich die Anspruchshaltung der «Klienten» des Gesundheitssystems. Immer wieder hört man, was die «Patienten» über sich ergehen lassen. Es ist heute leichter denn je, sich das Wissen zu holen, um beurteilen zu können, ob eine Behandlung im Sinne des «Kranken» ist. Mit Jahrgang 1948 fühle ich mich gesund und bin seit jeher medikamentenfrei (ausser vorübergehend in eindeutigen medizinischen Notfällen, wofür die diversen Medikamente ja entwickelt wurden!). Das grosse, tägliche «Pillenfressen» wird aber meist empfohlen aufgrund von Studien, die von den Pharmariesen finanziert werden. Eine Behandlung wird immer weniger bestimmt in gegenseitiger Abwägung zwischen Arzt und Patient, sondern nach irgendwelchen Laborwerten oder bildgebenden Diagnosen. Die «weissen Götter»und ihre medtechnischen Helfer gelten immer noch als unfehlbar und kritische Klienten werden zum nächsten Spezialisten «abgeschoben».

  • am 11.06.2022 um 18:22 Uhr
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    Das ist eben die freie Marktwirtschaft. In Indien sind die Kühe heilig. In der Schweiz der Profit. Auch im Gesundheitswesen, obwohl das alles andere als frei ist.

  • am 12.06.2022 um 10:48 Uhr
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    Sandro Broz weiss wohl viel über Gesprächsführung, so weit so gut. Und es wäre zu hoffen, er hätte im Hintergrund genügend journalistisch recherchierendes Potential. Doch dem ist leider nicht so. Wie Urs Gasche darlegt, werden die wichtigsten Probleme im Gesundheitswesen, Kantönligeist bei den Spitälern, Schweizer Eigenbrötlerei bei den Medikamentenüberprüfung und das Pro-Kopf-Konstrukt der Krankenkassenprämien weder diskutiert noch angegangen. Die Volksvertreter wollen vor allem wieder gewählt werden und lehnen sich hier nicht zum Fenster hinaus. Das Bund will sich über das BAG nicht klärend einmischen, weil das Amt schon bei Corona überfordert ist, und ja, die Medien scheuen die Aufarbeitung der Probleme, weil es keinen süffigen Stoff bietet und halt recht komplex ist. Darum stolpern wir von einer Baustelle in die andere.

  • am 12.06.2022 um 13:40 Uhr
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    Erlebte Beispiele, für ein bewusstes und zielgerichtetes Management, das auf Profit und nicht auf therapeutische Ergebnisse als solches oder auf ein ausgewogenes Gleichgewichts zwischen therapeutischer Wirkung und verursachten Kosten ausgerichtet ist.
    Bereits im Aufnahmegespräch wurde gezielt für die Möglichkeit einer Verlängerung des Klinikaufenthaltes geworben.
    Die therapeutische Verordnung war offensichtlich auf die optimale Auslastung der Einrichtung ausgerichtet und nicht auf die Bedürfnisse des Patienten. In meinem Fall (pneumologische Reha) wurden Therapien verschrieben, die keinerlei Bezug zu meiner Symptomatik aufwiesen. Die Argumentation: man müsse die Aufenthaltskosten für den Versicherer in irgendeiner Weise rechtfertigen!
    Meine Frau fühlte sich in der neurologischen Reha regelrecht gedrängt einer medikamentöser „off Label“ Behandlung zu Studienzwecke einzuwilligen. Dies mit zunehmendem Druck bis hin zu ethisch nicht vertretbaren, angstmachenden Einschüchterungspraktiken.

  • am 13.06.2022 um 14:38 Uhr
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    Ich denke, alle Akteure müssen sich Gedanken über die Kosten machen und vor allem auch darüber, was wirklich Lebensqualität und nicht einfach «Lebensverlängerung» in irgendeinem Zustand ist. Wir sind nicht nur aufgefordert, zu entscheiden, ob wir allenfalls Organe spenden wollen oder nicht, sondern auch was für uns persönlich ein lebenwertes Leben ausmacht. Es wäre wünschenswert, wenn Aerzte den Tod nicht mehr mehrheitlich als Versagen verstehen, sondern als logische Folge des Lebens. Dementsprechend würde hoffentlich auch besser über mögliche Konsequenzen einer Behandlung/Nichtbehandlung informiert. Mehr Medizin bedeutet ja nicht bessere Lebensqualität. Für eine vertiefte Auseinandersetzung ist z.B. das Buch «Ueber selbstbestimmtes Sterben» sehr zu empfehlen. Ich habe darin einige Erkenntnisse gewonnen.

  • am 14.06.2022 um 09:47 Uhr
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    Bei der jährlich wiederkehrenden Diskussion über die KK-Prämien kommen immer wieder Vorschläge, die als reine Pflästerlipolitik daher kommen. Das gilt auch für die beiden Initiativen, die keinen Franken Einsparung bringen werden. Nur 10% des Einkommens als Prämie? Und wer zahlt den Rest? Wir, die Steuerzahler.
    Echte Einsparungen brächte die grundlegende Ueberarbeitung des Leistungskataloges. Das haben mir mehrere Ärzte sofort und zustimmend bestätigt. «Was da alles in diesem immer grösseren Katalog aufgeführt und somit bezahlt wird, geht auf keine Kuhhaut mehr!» sagte mir ein Arzt. Aber da wagt sich niemand daran. «Zu heikel, zuviel Arbeit…und endlose Diskussionen» die Aussage eines Fachmanns.
    Zurück zum Anfang: die Grundversicherung deckt eine gute (nicht sehr, sehr gute!) medizinische Grundversorgung. Wer mehr will, macht das mit einer privaten Zusatzversicherung. Grundversicherung macht der Staat (SUVA machts vor), Zusatzversicherungen die Krankenkassen. Et voilà!

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