Grafik Hitze schwangere Frau

Nach extremen Hitzetagen kommt es zu etwas mehr Frühgeburten. Aber nicht zu so vielen mehr, wie diverse Medien den Frauen weismachen wollten. © olesia / Depositphotos

Panikmeldung zum Hitzestress – und kein Medium verbessert sich

Martina Frei /  Fast jede zweite Schwangere habe ab 35 Grad Hitze eine Frühgeburt, hiess es. Weil die Medien einen wichtigen Unterschied übersahen.

Wenn es mit den zunehmenden Hitzetagen im Sommer so weitergehe wie bisher, dann wäre in zehn Jahren jedes sechste Kind in Deutschland ein Frühgeborenes – «doppelt so viele Frühgeburten wie heute». Das berichtet das ZDF seit dem 23. Juni 2023 auf seiner Website. «Ab 35 Grad ist beinahe jede zweite Schwangere betroffen.»

Der öffentlich-rechtliche Sender beruft sich dabei auf eine Studie von Hamburger Wissenschaftlerinnen, die im Fachblatt «eBioMedicine» erschien. Diese hatten untersucht, wie sich der Klimawandel – und speziell Hitzetage – auf Frühgeburten auswirken. 

«Bei andauernden Temperaturen von über 35 Grad steige das Risiko auf 45 Prozent», steht auf der Website des ZDF unter einem Videobeitrag zu lesen. Eine Falschmeldung.

«Die Hitze zu Kopf gestiegen»

Dem ZDF sei da wohl die Hitze zu Kopf gestiegen, bemerkte die Autorin der «Unstatistik des Monats Juni», Katharina Schüller. Sie wies schon vor Monaten darauf hin, dass das ZDF hier das relative und das absolute Risiko verwechselte.

«Die Anzahl der Frühgeburten stieg von einer Grundrate von etwa 8,5 Prozent auf 12,3 Prozent an. Also beträgt der absolute Anstieg 3,8 Prozentpunkte», legt Schüller dar. In absoluten Zahlen sei es in der Studie um 10 zusätzliche Frühgeburten infolge von Hitzetagen in 22 Jahren gegangen. 

In Tat und Wahrheit lasse sich darum aus der Studie ableiten, dass «nach den 1 Prozent extremsten Hitzetagen», also «nach extremen, seltenen Hitzeereignissen» von 100 Schwangeren 3 bis 4 mehr als sonst eine Frühgeburt haben. Nicht aber 45 Prozent mehr, wie das ZDF mit seiner Meldung noch immer auf seiner Website suggeriert.

Angstmachende Bilder

Illustriert ist der Bericht des ZDF mit «hoch emotionalen Bildern und Beispielgeschichten», wie Schüller anmerkte, die «Angst und Panik» schüren würden. In einer Grafik stellte Schüller dar, wie viele zusätzliche Frühgeburten laut der Studie dem Hitzestress geschuldet seien. Es handelt sich um den kleinen roten Punkt:

Grafik Frühgeburten bei Hitzestress
Die Länge der Balken widerspiegelt die Anzahl an Geburten. Hellblaue Balken=Geburten nach Tagen mit einer empfundenen Temperatur unter 35 Grad Celsius. Dunkelblau=Frühgeburten nach Tagen mit empfundener Temperatur unter 35 Grad. Rosa=Geburten nach Tagen mit gefühlt 35 oder mehr Grad. Orange=Erwartete Frühgeburten nach Tagen mit gefühlt mindestens 35 Grad. Rot=Zusätzliche Frühgeburten nach Tagen mit gefühlt mindestens 35 Grad Celsius.

Schätzung: Nicht mehr wie bisher 6 von 1000, sondern 12 von 1000

«Die grosse Mehrheit der Frühgeburten ereignet sich nicht an Extremtagen. Bloss die hitzebedingten Frühgeburten würden sich verdoppeln: Von einer solchen wären nicht mehr 6, sondern künftig 12 von 1000 Schwangerschaften betroffen. Das ist keine positive Nachricht – aber weit entfernt von einer schockierenden Meldung», legte Schüller im September 2023 in der «NZZ am Sonntag» nach.

Die Angaben zum relativen und dem absoluten Risiko hatten weder die «Wissenschaft news» der Schweizerischen Depeschenagentur, noch die Nachrichtenagentur AFP, noch die Wissenschaftsredaktion des «ORF», noch «20 Minuten», «watson.ch», «Blick.ch», «nau.ch», «bluewin.ch» und weitere Medien gemacht. Alle verbreiteten einzig die relative Risikoerhöhung.

All diesen Meldungen lag letztlich eine Pressemitteilung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) zugrunde. Dort wurde die Studie durchgeführt. «Leider ist das UKE an dieser dramatisierenden Berichterstattung nicht ganz unschuldig», kritisierte Schüller. Denn in der Pressemitteilung sei der Effekt der Hitze nur als relative Zahl (45 Prozent mehr) und nicht als absoluter Anstieg (3 bis 4 von je 100 Frauen mehr) angegeben worden. «Relative Risiken sind grosse Zahlen und machen unnötige Angst, absolute Risiken sind kleine Zahlen und helfen, das tatsächliche Risiko zu verstehen», erläuterte Schüller. Inzwischen ist immerhin diese UKE-Pressemitteilung mit dem Hinweis versehen worden, dass es sich um das relative Risiko handelt. 

Auch der Berufsverband der Frauenärzte verbreitete irreführende Zahlen

Der Check nun zeigt aber: Keine der oben genannten Redaktionen schob – wenigstens im Nachhinein – noch die absoluten Zahlen nach und ordnete das Frühgeburts-Risiko ein. Stattdessen wird weiterhin mit falschen Zahlen jongliert und/oder das Risiko nur relativ dargestellt.

Selbst die Website «Frauenärzte im Netz» des Bundesverbands deutscher Frauenärzte gibt nur die relativen Angaben wieder und verbreitet die Prognose: «2033 könnte aufgrund steigender Temperaturen annähernd jedes sechste Kind, rund 15 Prozent, zu früh geboren werden – doppelt so viele wie heute.»

«Relative Risiken sind Nebelkerzen; sie dienen in den meisten Fällen vor allem der Sensationslust.»

Katharina Schüller, Unstatistik des Monats Juni

«Wir haben schon vielfach darauf hingewiesen, dass absolute Risiken helfen können, das wirkliche Ausmass einer Gefahr zu verstehen. Relative Risiken hingegen sind Nebelkerzen; sie dienen in den meisten Fällen vor allem der Sensationslust. Es ist sicher richtig, Schwangere darauf hinzuweisen, dass sie sich bei Hitze schonen sollten. Aber es ist manipulativ und verantwortungslos, dies mit derart falscher Dramatik zu tun», schloss Schüller in der «Unstatistik des Monats». 

Unterschiedliche Skalen erwecken falschen Eindruck

«eBioMedicine», wo die Frühgeborenen-Studie erschien, gehört zur «Lancet»-Zeitschriftengruppe. Den Vorwurf der Manipulation könnte man auch der Redaktion des Schwesterblatts «The Lancet» machen. Denn in einer anderen, im März 2023 dort veröffentlichten Studie versuchte ein internationales Team von Wissenschaftlern – mit Beteiligung der Universität Bern – zu ermitteln, wie viele zusätzliche Todesfälle in städtischen Gebieten Europas der Kälte und der Hitze anzulasten sind. Eine dort abgebildete Grafik zeigt links die geschätzte Anzahl der Kältetoten und rechts jene der Hitzetoten, aufgeschlüsselt nach dem Alter: 

Lancet Grafik Hitze- und Kältetodesfälle
Zusätzliche Todesfälle, die in verschiedenen städtischen Gebieten Europas der Kälte (blaue Balken) und der Hitze (rote Balken) geschuldet sind. Die unterschiedlichen Farbschattierungen widerspiegeln die Schätzungen für verschiedene Altersgruppen.

Die Grafik erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass Hitze ähnlich gefährlich sei wie Kälte. Doch wer die Skala unten anschaut, erkennt, dass links und rechts andere Werte gelten. In der kalten Jahreszeit sind laut dieser Schätzung die zusätzlich zu erwartenden Todesfälle in europäischen Städten rund zehnmal so hoch wie bei Hitze – doch die Balken suggerieren etwas anderes.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Unstatistik_Mit_Hintergr

Fragwürdige Statistiken aus Medien

Mit Statistiken und Grafiken sollten Medien besonders sorgfältig umgehen. Beispiele von Unstatistiken.

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Eine Meinung zu

  • am 24.11.2023 um 12:10 Uhr
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    Schon komisch, dass wir nicht ausgestorben sind. War es doch in der «Wiege der Menschheit» in Zentralafrika, im «Fruchtbaren Halbmond» Mesopotamiens, im antiken Ägypten (eigentlich das Überschwemmungsgebiet eines Flusses mit ein bißchen Wüste dran), im kargen unfruchtbaren Iran viel, viel heißer als im heimeligen Mitteleuropa. Dürre und Wassermangel sind der rote Faden in der Bibel. Wie haben die das damals ohne Inkubator und Klimaanlage bloß gemacht? Wie überleben heute Völker wie die Tuareg, ohne sich vor Klimapanik in die Hosen zu machen? Der Artikel ist sehr aufschlußreich; besonders die letzte Grafik mit den zwei unterschiedlichen Skalen ganz unten hat es mir angetan. Das ist ein sehr hohes Täuschungsniveau. 90% der Leser werden es nicht bemerkt haben.

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