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Gleiche Schlagzeile im «Tages-Anzeiger», in «Der Bund, in der «Berner Zeitung», im Langenthaler Tagblatt», im «Zürcher Unterländer» und weiteren Tamedia-Zeitungen. © tamedia

Wertlose Schlagzeilen von der Süddeutschen über Zürich bis Bern

Urs P. Gasche /  Wieder wird die Öffentlichkeit mit der Angabe eines «relativen» Risikos in die Irre geführt. Die Autorin zeigt sich unbeeindruckt.

Die Redaktion des Tamedia-Konzern übernahm einen Artikel der «Süddeutschen Zeitung» (SZ) und verbreitete ihn in der halben Deutschschweiz. Es ging um einen angeblich ausserordentlich grossen Nutzen der Covid-Impfung: Zwei Impfdosen würden das Risiko von Langzeitfolgen einer Corona-Infektion «um etwa 40 Prozent reduzieren».

Irreführende und wertlose Information

Diese Information ist krass irreführend, weil praktisch alle Leserinnen und Leser die Schlagzeile so verstehen, dass sie ihr persönliches Risiko, an Long-Covid zu erkranken, mit zwei Impfdosen um 40 Prozent verringern können. Das wäre die absolute Reduktion des Risikos: Dank der Impfung erkranken von 10’000 Geimpften 4000 nicht an Long-Covid. Die Impfung wäre enorm nützlich und enorm wirksam.

Doch mit den «40 Prozent» ist etwas ganz anderes gemeint, nämlich nur der «relative» Nutzen von zwei Impfdosen. Wenn man die absoluten Zahlen verschweigt, ist die Information «reduziert das Risiko um 40 Prozent» wertlos. Zwar können die relativen 40 Prozent tatsächlich einen grossen Nutzen bedeuten, aber auch nur einen verschwindend kleinen. Es sei an zwei Beispielen erläutert:

  • Leiden von 10’000 Personen dank der doppelten Impfdosis nur 600 an Long-Covid anstatt 1’000 ohne Impfung, dann erkranken dank der Impfung 40 Prozent weniger Menschen an Long-Covid. Verständlich mit absoluten Zahlen ausgedrückt: Es müssen sich 25 Personen impfen lassen, damit eine Person weniger an Long-Covid erkrankt (10’000/400). Man nennt dies die Number Needed to Vaccinate NNV). Oder anders, ebenfalls verständlich ausgedrückt: Die Impfung reduziert das persönliche Risiko, an Long-Covid zu erkranken, um 4 Prozent (1/25).
  • Erkranken von 10’000 Personen dank der doppelten Impfdosis nur 6 an Long-Covid anstatt 10 ohne Impfung, dann erkranken dank der Impfung ebenfalls 40 Prozent weniger Menschen an Long-Covid. Verständlich mit absoluten Zahlen ausgedrückt: Es müssen sich 2500 Personen impfen lassen, damit eine Person weniger an Long-Covid erkrankt (Number needed to vaccinate). Oder anders, ebenfalls verständlich ausgedrückt: Die Impfung reduziert das persönliche Risiko, an Long-Covid zu erkranken, um 0,04 Prozent (1/2500).

Es muss deshalb einleuchten, dass die alleinige Angabe der relativen Risikoreduktion («reduziert das Risiko um 40 Prozent») eine wertlose und irreführende Information ist.

Um den Wert und die Glaubwürdigkeit der Schlagzeile «Impfung reduziert das Risiko um 40 Prozent» zu erhöhen, schrieb die Autorin, es handle sich um eine Metaanalyse britischer Forscher, die «41 Studien aus verschiedenen Ländern mit insgesamt 860’000 Patienten ausgewertet» hätten. Das stimmt nicht. Um den Nutzen der Impfung zu bewerten, um den es im SZ- und Tamedia-Artikel ging, haben die Forscher von den 41 durchgesehenen Studien lediglich vier brauchbare ausgewertet.

Die Redaktorin zitierte die Autoren, dass die berücksichtigten Studien «nicht alle von sehr hoher Qualität» seien und «nicht sicher sei, ob tatsächlich alle eingeschlossenen Patienten an Post-Covid litten». Sie verschwieg allerdings, dass die absoluten Zahlen des Nutzens nicht offengelegt wurden. Um die «40 Prozent» relativen Nutzen auszurechnen, müssen die Autoren absolute Zahlen zur Verfügung gehabt haben.

Wenn eine Studie ausschliesslich den relativen Nutzen angibt, sollten seriöse Medien diese Studie gar nicht zitieren. 

In der Risikokommunikation gilt schon lange der Grundsatz, das relative Risiko oder den relativen Nutzen nur dann anzugeben, wenn gleichzeitig mit absoluten Zahlen informiert wird. 

Auf Anfrage von Infosperber schrieb Studien-Autor Vassilios S. Vassiliou, dass sich nur zwei Personen impfen lassen müssen, damit eine von ihnen nicht an Long-Covid erkrankt. Die absoluten Zahlen dazu lieferte er nicht. Diese Antwort ist schlicht falsch. Die auf Evidenced Based Medicine spezialisierte Professorin Ingrid Mühlhauser hält eine solche Aussage des Studien-Autors für «bedenklich».

Fragen an die Redaktorin

Die Autorin aller dieser Artikel, welche die «Süddeutsche Zeitung» in Deutschland und Tamedia in der halben Deutschschweiz verbreiteten, war die SZ-Wissens-Redaktorin Berit Uhlmann. Infosperber fragte sie unter anderem:

Wie sehen die absoluten Zahlen aus? Wie die Number Needed to Treat?

Uhlmann beantwortete diese Fragen nicht, sondern verwies auf die Metastudie: «Damit sollte sich Ihre Frage klären lassen.» Das tat die Studie jedoch nicht. Offensichtlich kannte und kennt die Autorin die absoluten Zahlen nicht. Sie konnte sie gar nicht kennen. Deshalb die Nachfragen:

1) Warum verwiesen Sie auf die Studie, aus der die Antworten auf die gestellten Fragen gar nicht ersichtlich sind? 

2) Warum informieren Sie die Leserschaft über einen relativen Nutzen, ohne dass Sie die absoluten Nutzen-Zahlen kennen, welche als Grundlage dienen?

Weder auf die eine noch auf die andere Frage ging Uhlmann ein, sondern meinte: «Damit würde ich es jetzt gerne bewenden lassen.» 

Worauf die «Süddeutsche» und die Tamedia-Zeitungen auch nicht hinwiesen: Das grösste Risiko, Long Covid (beziehungsweise Post Covid Condition, wie es in der Studie heisst) zu bekommen, hatten in der zitierten Meta-Analyse Personen mit vorbestehenden Erkrankungen, vorangehender Hospitalisation oder Intensivbehandlung. Das ist wenig überraschend und trifft auch bei anderen Erkrankungen zu: Viele hospitalisierte Patienten oder Intensivbehandelte haben noch länger gesundheitliche Probleme. Die Impfung kann schwere Verläufe mit Hospitalisationen reduzieren, so dass es zwangsläufig auch zu weniger Langzeitfolgen kommt. 

Tamedia informiert wie andere Medien immer wieder mit relativem Nutzen

Wie manch andere Medien geben auch die Tamedia-Zeitungen Risiken und Nutzen immer wieder mal wieder ausschliesslich mit relativen Zahlen an, ohne über den absoluten Nutzen oder das absolute Risiko zu informieren. Im Sommer 2022 verbreitete beispielsweise der «Tages-Anzeiger», das Medikament Paxlovid könne «das Risiko, an der Infektion zu sterben, um 75 Prozent senken». Dies sei «eine sehr gute Wirksamkeit».

Viele Leserinnen und Leser verstanden das fälschlicherweise so, dass sie dank Paxlovid ihr persönliches Sterberisiko um 75 Prozent senken könnten.

Auf die Frage, weshalb die Zeitung den absoluten Nutzen nicht angegeben habe, teilte Wissen-Redaktor Nik Walter mit, es müssten 180 Kranke das Medikament schlucken, damit eine Person dank Paxlovid nicht stirbt. Von 180 Personen, die Paxlovid einnehmen, hätte also nur eine Person einen Nutzen davon. Daraus lässt sich für einen Patienten der absolute Nutzen ausrechnen: Paxlovid verringert sein Sterberisiko um 0,56 Prozent (1/180). Nicht alle Patientinnen und Patienten werden diese tatsächliche Risikoreduktion als «sehr wirksam» betrachten.

Long-Covid trotz dreifacher Impfung

Vor über einem Jahr wurde Ex-Skiprofi Marco Büchel auf Covid-19 positiv getestet, obwohl er dreifach geimpft war. Lange litt er an Long-Covid. Auf seinem Instagram-Account schrieb er am 25. Mai: «Ich hatte oft Kopfschmerzen, konnte auch kaum mal klare Gedanken fassen. Einen Artikel lesen oder auf E-Mails antworten wurden beinahe zu unüberwindbaren Herausforderungen.» Seine physische Leistungsfähigkeit sei immer noch nicht topp.

Spitzensportler sind von Long-Covid überdurchschnittlich betroffen, weil sie nach einer Covid-Erkrankung zu schnell versuchen, wieder in Form zu kommen. Davon rieten Fachärzte schon bald ab. Unter den Betroffenen ist Marathonläuferin Chantal Britt, Präsidentin des Vereins «Long Covid Schweiz». Der «Blick» berichtete über den GC-Fussballprofi Petar Pusic und die Schweizer 800-Meter-Rekordhalterin Selina Rutz-Büchel, die beide an Long-Covid litten.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
_____________________
Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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10 Meinungen

  • am 31.05.2023 um 11:03 Uhr
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    Wie oft muss Infosperber dieses Thema wohl wiederholen, bis es in den Gehirnen der «Wissenschafts»-Redaktoren und -Redaktorinnen Platz greift? Bitte bleiben Sie dran. Steter Tropfen …

    • am 31.05.2023 um 23:20 Uhr
      Permalink

      Bei einer Impfung lässt sich die absolute Risikoreduktion nicht ermitteln, da eine Grundgesamtheit nicht existiert: es kommt auf die epidemiologische Entwicklung (Anzahl zukünftiger Ansteckungen), auf die Beobachtungsdauer u.a. an.

      Anders bei der Erkrankung und dem Medikament, hier Paxlovid. Allerdings dürfte für viele die Angabe ARR = 0,56% (oder gar «persönliches Sterberisiko») nichtssagend sein.

      Angenommen, eine weiterentwickelte Formel, nennen wir sie PaxloPlus, erreicht eine relative Risikoreduktion bzgl. Tod von 100%. Jetzt müssen nur noch 135 Kranke das Medikament schlucken, damit eine Person dank PaxloPlus nicht stirbt. PaxloPlus verringert das absolute Sterberisiko um 1/135, also 0,74%. Das ist offensichtlich das Maximum, es entspricht exakt der Mortalität der Krankheit.

      Ist diese ARR 0,74% jetzt wenig? viel? Macht es Sinn, Krankheiten zu behandeln, deren maximal mögliche ARR (= Mortalität der Krankheit!) kleiner als 10%, 30%, 50% ist? Also alles außer Pest, Cholera, Ebola?

  • am 31.05.2023 um 12:02 Uhr
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    Vielen Dank, diese Erklärung des Unterschieds zwischen relativer und absoluter Wirksamkeit einer Massnahme hat mir viel geholfen.
    Ich wäre mal froh um eine Erhebung des Gesundheitszustandes von 10’000 dreifach Geimpften und 10’000 völlig (Covid-) Ungeimpften mit möglichst vergleichbarer gesundheitlicher Ausgangslage vor der Pandemie. Eine entsprechende «Vergleichsgruppe» bestünde ja trotz allem noch… Ich habe aber nie etwas von derartigen Erhebungen gehört, die doch eigentlich sehr aussagekräftig sein müssten.
    Vielleicht kennen Sie ja was ?

  • am 31.05.2023 um 12:49 Uhr
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    Geht es dabei um bedingte Wahrscheinlichkeiten und dem Bayes-Paradox?

    Den Satz von Bayes aus der Wahrscheinlichkeitstheorie habe ich zwar in der Schule gelernt, aber erst im Zusammenhang mit AIDS verstanden. Angenommen in der Bevölkerung sei 1 von 1000 Personen mit dem Virus angesteckt und auch, dass der Test je eine falsch-positive und eine falsch-negative Fehlerquote von 1 von 100 habe, also von 100 Personen, die nicht angesteckt sind, meldet der Test bei einer Person trotzdem eine Ansteckung und umgekehrt. Es gibt leider keine 100% zuverlässige Tests.

    Wieviele Personen, die ein positives Testresultat haben, sind wirklich angesteckt?

    Ich habe folgenden Online-Kalkulator verwendet: https://www.gigacalculator.com/calculators/bayes-theorem-calculator.php

    Resultat: Nur 9 von 100 Personen mit positiven Resultat sind wirklich angesteckt!

    Und genau das ist der Paradox! Es ist nicht intuitiv für Menschen, die sich damit nicht auskennen.

  • am 31.05.2023 um 14:00 Uhr
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    Diese aufklärenden Artikel und auch das Nachfragen bei den Autoren sind sehr, sehr lobenswert vom infosperber, aber reine Sysiphostätigkeit. Geht lieber ins Grüne, schlaft früh eine Stunde länger oder baut Lego mit den Kindern. Es lohnt einfach nicht: die Autoren solcher Artikel wissen, wenn sie richtig ausgebildet sind und genügend Erfahrung haben, ganz genau, was sie verzapfen, oder sie haben ein schlichtes Gemüt und es ist ihnen genauso schlicht wurscht. Ich habe stundenlange Diskussionen mit sehr gebildeten und auch der Rechenkunst höchst mächtigen, sich selbst als «Menschen der Wissenschaft» bezeichnenden Leuten geführt, denen der hier sehr bedeutsame Unterschied zw. relativ und absolut absolut nicht einleuchtet weil Covid-19 ja relativ gefährlich sei und somit alles was der Bekämpfung dient, absolut wirksam ist. Diese Angst bügelt alles weg, auch den skeptischen Geist und den Humor erst recht.

  • am 31.05.2023 um 14:08 Uhr
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    «… weil praktisch alle Leserinnen und Leser die Schlagzeile so verstehen, dass …»

    «Viele Leserinnen und Leser verstanden das fälschlicherweise so, dass …»

    Woher weiß man das? Gibt es Studien oder Umfragen dazu, was wieviele Leser*innen wie verstehen? Ist das Teil einer journalistischen Ausbildung?

    Und ist «praktisch alle» nicht auch eine relative Angabe?

  • am 31.05.2023 um 16:54 Uhr
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    Ich verstehe, dass die Schlagzeile mit den 40% irreführend sein kann. Für mich ist es jedoch klar, dass dies auf das initiale Risiko bezogen ist, sprich wenn ich ohne Impfung ein Risiko für Long Covid von 10% habe, dann ist es dank der Impfung nun auf 6% gesunken. Ich würde deshalb die Zahl «40%» nicht als wertlos abstempeln, aber klar: sie ist nicht sehr informativ wenn das anfängliche Risiko nicht erwähnt wird (und es ist im Tagi Artikel nicht erwähnt).
    Der Autor hat zu recht hingedeutet, dass die Metastudie zwar 41 andere Studien gebraucht hat, aber nur 4 davon für die Long Covid Analyse gebraucht wurden. Im Artikel vom Tagi ist das jedoch präzisiert.

    Allgemein: Vielen Dank an das Infosperber Team für die kritische Hinterfragungen rund um Covid!

  • am 31.05.2023 um 20:58 Uhr
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    Mich würde auch interessieren, wieviel Prozent von den Long Covid Patienten geimpft sind. Es wäre doch viel leichter hier Zahlen zu erhalten und auch aussagekräftiger,als irgendwelche Studien. Meistens ist bei solchen Artikeln eher interessant,welche Infos nicht enthalten sind. Danke fürs hartnäckige Nachfragen bei den publizierenden Redaktionen.

  • am 1.06.2023 um 08:04 Uhr
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    Eine weitere hervorragende Analyse von Herrn Gasche. Sachlich, sachkundig und präzise formuliert. Für mich immer noch einer der besten Journalisten der Schweiz, insbesondere im Bereich Gesundheit.

  • am 1.06.2023 um 20:04 Uhr
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    Mein Vertrauen in die medizinische Forschung hat in der Corona-Krise gelitten. Es sind im ganzen Forschungskuchen zu viele Leute unterwegs, die ihre frühere Haltung rechtfertigen und keinesfalls Fehler zugeben wollen.

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