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Forscherinnen entdeckten weitere Fehler bei der Berechnung der IV-Renten. © Pixabay

IV-Skandal: So könnten Renten fair berechnet werden

Andres Eberhard /  Die Invalidenversicherung rechnet falsch. Das zuständige Bundesamt ist untätig. Nun helfen ihm Forscherinnen auf die Sprünge.

Viele Invaliden-Renten sind zu tief, weil die IV mit ungeeigneten Lohndaten rechnet. Das zuständige Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) ist sich dem seit Jahren bewusst, blieb aber untätig. Auch als in der Vernehmlassung von allen Seiten gegen die Methode geschossen wurde, blieb das Amt stur. Dies zeigte Infosperber kürzlich auf.

Nun musste sich Bundesrat Alain Berset deswegen vor dem Nationalrat erklären. Gleich mehrere Politikerinnen hatten Fragen rund um die unfaire Rentenberechnung gestellt (hier, hier, hier und hier). Im Kern geht es um zwei Punkte: Erstens, wann der Bundesrat endlich handelt. Und zweitens um eine von Forscherinnen präsentierte Alternative. Könnte sie die Lösung des Problems sein?

Berset spielte in seinen Antworten auf Zeit. Es müsse erst evaluiert und geprüft werden, so der Tenor. Ausserdem tauge die neu präsentierte Alternative nur für IV-Bezüger mit körperlichen, nicht hingegen für solche mit psychischen Einschränkungen. Infosperber hat Bersets Aussagen einem Faktencheck unterzogen. Vorweg: Seine beiden Hauptargumente sind sachlich falsch.

Erstens: Berset argumentierte, dass man erst die anderen Neuerungen evaluieren müsse, die per 1. Januar mit der neuen IV-Verordnung eingeführt werden. Und das dauert. Bis 2025, wie Berset auf konkrete Nachfrage hin bekannt gab.

Mit den erwähnten Neuerungen meint Berset hauptsächlich das stufenlose Rentensystem, das mit der neuen Verordnung per 1.1.2022 eingeführt wird. Neu wird die Arbeitsunfähigkeit aufs Prozent genau auf die Berechnung der IV-Renten übertragen. Das heisst, dass es ab sofort einen Unterschied machen wird, ob jemand gemäss medizinischer Beurteilung 43 oder 48 Prozent arbeitsunfähig ist – es gibt dann mehr oder weniger Rente. Das war bis anhin anders: Es wurde gerundet.

Bei der umstrittenen Berechnungsmethode wiederum geht es darum, anhand welcher Referenzlöhne berechnet wird, wie hoch die IV-Renten sein sollen. Da die meisten IV-Beziehenden nicht bereits wieder arbeiten, muss hier auf hypothetische Annahmen zurückgegriffen werden. Aktuell benutzt die IV dafür die Daten der Schweizer Lohnstrukturerhebung. Diese sind aber für die Berechnung von Invalidenrenten aus verschiedenen Gründen zu undifferenziert. Als Konsequenz daraus sind die meisten IV-Renten zu tief (siehe gelber Kasten am Ende des Artikels).

Zusammengefasst: Durch die Einführung des stufenlosen Rentensystems verändert sich der Invaliditätsgrad. Nicht aber, auf welchen Referenzlohn sich dieser in Prozenten angegebene Wert bezieht. Das stufenlose Rentensystem hat mit der umstrittenen Praxis also nichts zu tun. Wo kein Zusammenhang besteht, muss auch nicht evaluiert werden. Das «Eines-nach-dem-anderen» Argument von Berset ist ein Spiel auf Zeit. Schliesslich geht es um viel Geld: Eine präzisere Berechnung der IV-Renten würde gemäss Bund rund 200 bis 300 Millionen Franken kosten.

Alternative wäre ab sofort umsetzbar

Das zweite Argument, mit dem der Bundesrat gegen eine sofortige Korrektur argumentiert: Die neu vorgeschlagene Alternative sei nur für körperliche, nicht aber für psychische Erkrankungen geeignet. Zudem basiere die Methode auf dem jetzigen, bald veralteten System.

Beides ist falsch. Infosperber hat dazu mit den beiden HauptautorInnen des wissenschaftlichen Fachartikels gesprochen, in dem eine fairere Berechnungsmethode vorgeschlagen wird: Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin an der Universität Luzern sowie Urban Schwegler von der Paraplegiker-Forschung Nottwil. Riemer-Kafka sagt: «Unser Vorschlag könnte per sofort umgesetzt werden, mit dem alten wie auch mit dem neuen System, sofern die neuen Tabellen vom BSV anerkannt würden.»

Vereinfacht gesagt bereinigten sie und ihr Team einen Teil der umstrittenen Tabellen des Bundes. Diese bereinigten Tabellen sollten auch mit der neuen IV-Verordnung kompatibel sein, die am 1. Januar in Kraft tritt. Davon geht Michael E. Meier, Experte für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht der Universität Zürich, aus. «Denn der Vorschlag basiert auf jenen Lohntabellen, die in die Verordnung festgeschrieben wurden.»

Zwar ist die vorgeschlagene Alternative erst für einen Teil der IV-Bezüger anwendbar: Für Hilfskräfte, die beispielsweise aufgrund eines Unfalls keine schweren körperlichen Arbeiten mehr ausführen können. Doch sei dies eine Gruppe, die mitunter am stärksten unter der falschen Berechnung leidet, so Meier. «Das Problem ist schon sehr lange bekannt. Vor über 30 Jahren gab es für diese Gruppe einmal einen pauschalen Schwerarbeiterabzug von 25 Prozent, der dann aber um die Jahrtausendwende aufgehoben wurde, weil man eine einheitliche Lösung für alle suchte.»

Ausserdem betont Riemer-Kafka: «Das Tool enthält auch psychische Anforderungen. Eine eigens dafür entwickelte Tabelle könnte dann problemlos auf psychische Krankheiten angewendet werden.» Schliesslich basiert es auf einem Datensatz, der wie für die IV gemacht ist, da er sowohl körperliche, wie auch kognitive und psychologische Anforderungen berücksichtigt (siehe grüner Kasten am Ende des Artikels).

Bundesgericht könnte Zeitspiel bestrafen

Über die Mängel bei der Berechnung der Renten weiss das Bundesamt für Sozialversicherungen schon lange Bescheid. 2015 wies das Bundesgericht daraufhin, dass die jetzige Berechnungsmethode rechtlich lediglich als Übergangslösung taugt. Auch vom Job Matching Tool weiss das BSV schon seit langem, schliesslich war der zuständige Abteilungsleiter in der Arbeitsgruppe von Riemer-Kafka dabei. Eine Alternative hat das Amt, das als Aufsichtsorgan der IV-Stellen für ein korrektes Verfahren zuständig ist, aber offenbar nie ernsthaft geprüft – auch nicht, als während der Vernehmlassung von links bis rechts alle Sturm liefen wegen der offensichtlich unfairen Praxis.

Nun will sich das Amt noch einmal mehr Zeit ausbedingen. Vertreter von Behindertenorganisationen, die sich gemeinsam gegen die Praxis wehren, sind genervt. «Das BSV findet immer neue kommunikative Ausflüchte, um Zeit zu gewinnen», sagt Alex Fischer von Procap Schweiz. «Jetzt wäre der Moment, die unfaire Praxis zu stoppen.»

Gabriela Riemer-Kafka glaubt nicht, dass das BSV seinen Kurs ohne Zwang ändern wird. «Meine Hoffnungen ruhen nun auf dem Bundesgericht», sagt sie. Denn beim höchsten Schweizer Gericht ist ein Fall hängig, wo es exakt um die umstrittene Berechnungspraxis der IV-Stellen geht.

Sollte das höchste Gericht die strittige Berechnungsmethode der IV für ungeeignet erklären, würde dies den Druck auf das BSV massiv erhöhen. Zeitspiel wäre dann für Alain Berset wohl keine Option mehr.

IV-Renten: Weitere Fehler in der Berechnung entdeckt

Die Invalidenversicherung stützt sich bei der Berechnung der Renten auf für diesen Zweck ungeeignete Lohntabellen. Das Hauptproblem: Die verwendeten Daten basieren auf der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamts für Statistik. Es handelt sich dabei um Löhne von Gesunden. Kranke verdienen aber nachweislich weniger.

Gabriela Riemer-Kafka und ein Team von Wissenschaftlerinnen machen in ihrem Fachaufsatz, in dem sie eine alternative, fairere Berechnung propagieren, auf weitere Unzulänglichkeiten bei der Berechnung aufmerksam. So handelt es sich bei den aktuell verwendeten Lohnkategorien um Gemischtwarenläden. Bürogehilfen zum Beispiel befinden sich in derselben Kategorie wie Hilfskräfte im Strassenbau. Letztere verdienen aber bedeutend mehr. Genau solche körperlich schweren Tätigkeiten können von IV-Bezügern in der Regel aber nicht mehr ausgeübt werden. Ein Bauarbeiter mit Rückenproblemen beispielsweise kann nicht zurück in den gut bezahlten Strassenbau. Trotzdem wird bei der Berechnung genau davon ausgegangen.

Das Forscherteam konnte zeigen, dass alleine aus diesem Grund männliche Hilfsarbeiter eine bis zu 16 Prozent zu tiefe Rente erhalten. Bei Frauen waren es lediglich rund 2 bis 3 Prozent. Dies aber noch immer verglichen mit Gesunden, ohne den erwähnten Lohnunterschied zur Realität von Kranken, der gemäss einer Studie 10 bis 20 Prozent ausmacht. Ebenfalls nicht enthalten sind Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt bezüglich Sprache oder Ausbildung.

Zu weiteren Verzerrungen führen Ungenauigkeiten in der Datenerhebung. Denn die Lohnkategorie der angeblichen Hilfsberufe enthält auch Einkommen von Bankern, Versicherungsangestellten oder IT-Fachleuten. Solche Arbeitskräfte sind aber alles andere als ungelernt. «Die gehören da nicht hin», sagt Riemer-Kafka. Grund für die Ungereimtheit: die Lohntabellen des Bundes basieren auf Angaben der Arbeitgeber. Wenn diese im entsprechenden Formular des Bundesamts für Statistik unspezifische, allgemeine Stellenumschreibungen machen (wie etwa «Mitarbeiter», «Angestellter» oder «Assistent»), so werden deren Löhne automatisch der Kategorie der Hilfsberufe zugeordnet. In der Gruppe der Hilfskräfte war das fast bei jedem Dritten der Fall. Für IV-Bezüger fatal: Sie werden (unter anderem) mit den Spitzenverdienern verglichen, ihre Rente sinkt.

Ein Datensatz wie gemacht für die IV

Eine Forschungsgruppe rund um die emeritierte Professorin Gabriela Riemer-Kafka hat ein neues Verfahren vorgestellt, mit dem IV-Renten präziser berechnet werden könnten. Als Basis dient ihr ein Datensatz, der wie gemacht ist für die IV: Im Rahmen eines vom Schweizer Nationalfonds geförderten Forschungsprojekts hatte die Schweizer Paraplegiker-Forschung standardisierte Profile zu den Anforderungen aller rund 2000 Berufe erstellt, die es auf dem Schweizer Arbeitsmarkt gibt. Diese Profile bestehen aus standardisierten Werten für gut 250 Einzelanforderungen, die auf einer Skala von 0 bis 5 angeben, wie stark eine konkrete Fähigkeit in einem bestimmten Beruf gefordert ist. Es handelt sich dabei um körperliche, visuelle, auditive und sprachliche Fähigkeiten wie «Heben, Tragen und Schieben», «Ausdauer», «Knien» oder «sich Bücken», aber auch um mentale und psychische Fähigkeiten wie «Gedächtnis» bis zu «Stresstoleranz» oder «Hartnäckigkeit».

Ursprünglich wurde dieses sogenannte Job-Matching-Tool für die berufliche Integration von Personen mit Querschnittlähmung entwickelt. Die Idee ist, dass mittels computerbasierter Berechnung Berufe eruiert werden, die trotz Einschränkung noch möglich sind sowie den Interessen und Bedürfnissen von Betroffenen entsprechen. Will beispielsweise ein Schreiner nach einem Unfall zurück in den Arbeitsmarkt, werden ihm spezifisch zu seinen Voraussetzungen und Möglichkeiten passende Berufe vorgeschlagen.

In einem Aufsatz in einer Fachzeitschrift zeigten Riemer-Kafka und Schwegler schliesslich auf, wie das Tool für die IV genutzt werden könnte. Sie glichen die Berufsprofile aus dem Job Matching Tool mit den Tätigkeiten ab, die den LSE-Tabellen zugrunde liegen. Damit erstellten sie auf der Grundlage von Tätigkeiten, die den IV-Bezügern körperlich zumutbar sind, neue, differenziertere Tabellen, die eine präzisere Berechnung der Renten möglich machen. Schwegler ergänzt: «Das Tool könnte den IV-Stellen nicht nur zu einer differenzierteren Berechnung der Erwerbsfähigkeit als Grundlage für eine bedarfsgerechte und faire Bestimmung der Renten dienen, sondern insbesondere auch für eine Einzelfallanalyse im Hinblick auf eine nachhaltige berufliche Integration.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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