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Die Invalidenversicherung berechnet Renten seit Jahren unpräzise. © Stockfoto Pixabay

IV rechnet falsch: Renten sind seit Jahren zu tief

Andres Eberhard /  Seit Jahren sind viele IV-Renten zu tief. Die fehlerhafte Berechnung führt ausserdem zu Ablehnungen. Der Bundesrat hält daran fest.

Im Prinzip sind sich alle einig: Viele IV-Renten sind hierzulande zu tief. Der Grund: In der Berechnung gehen die IV-Stellen und das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) fälschlicherweise davon aus, dass Invalide gleich viel verdienen können wie Gesunde (siehe Kasten am Ende des Artikels). Dass dem nicht so ist, belegt eine unabhängige Untersuchung: Kranke beziehen zwischen 10 und 20 Prozent weniger Lohn. Wegen dieses Rechenfehlers sind nicht nur viele Teilrenten zu tief. Auch werden zahlreiche Rentengesuche abgelehnt, die auf der Kippe stehen, da die Betroffenen noch Teilzeit arbeiten können.

Diesen Fehler hätte der Bund im Rahmen der aktuellen Reform der Invalidenversicherung beheben können. Vor einem Jahr hatte das Parlament die «Weiterentwicklung der IV» beschlossen. Im Fokus der Öffentlichkeit stand der Skandal um medizinische Gutachterinnen und Gutachter, die Millionen kassierten, indem sie Kranke gesund schrieben – zumindest finanziell im Sinne der Versicherung, die seit zwei Jahrzehnten unter massivem Spardruck steht. Die Beratungen in Bern schienen für Betroffene und ihre Vertreter eine Art Happy End zu markieren: Das Parlament beschloss, dem Gutachterunwesen mit mehr Transparenz und Aufsicht durch eine unabhängige Kommission einen Riegel vorzuschieben.

Doch dann machte sich das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) von Alain Berset an die Feinarbeit. Als der Bundesrat am 3. November schliesslich die Verordnung präsentierte, die per Anfang 2022 in Kraft tritt, war es vorbei mit der Freude bei Betroffenenvertretern und Behindertenorganisationen. Denn der Bund teilte mit, dass die Höhe der IV-Renten in Zukunft gleich berechnet wird wie bis anhin. Dabei hatten in der Vernehmlassung fast alle, die sich zu diesem Punkt äusserten, eine Korrektur gefordert, und zwar quer durch alle Lager: Von der SP bis zur SVP, von den Kantonen Zug bis Genf, von der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) bis hin zu Gewerkschaften.

Untätigkeit beim BSV – geht es ums Geld?

Dass der Bund trotz dieser breit abgestützten Kritik nichts veränderte, können Fachleute kaum glauben. «Die jetzige Berechnungsmethode ist schlicht und einfach unhaltbar», sagt Rainer Deecke, Anwalt und Präsident des Vereins Versicherte Schweiz auf Anfrage. Und Michael E. Meier, Experte für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht der Universität Zürich, sagt: «Ehrlich gesagt bin ich etwas konsterniert. Da frage ich mich, warum überhaupt eine Vernehmlassung statt gefunden hat.»

Warum er am Status Quo festhält, erklärte der Bundesrat weder in der Medienmitteilung noch in den dazugehörigen Hintergrunddokumenten. Er versprach lediglich vage, dass das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Alternativen prüfen werde.

Michael E. Meier © zvg

Für Sozialversicherungsrechtler Michael E. Meier von der Universität Zürich ist besonders störend, dass der Bund eine Begründung schuldig bleibt: «Die IV ist seit fast 30 Jahren unterfinanziert. Wenn der Bundesrat sagen würde, dass wir uns eine andere Berechnung und damit potenziell höhere Renten nicht leisten können, dann wäre das zumindest ehrlich. Und wir könnten darüber diskutieren, ob der heutige Beitragssatz von 1,4 Prozent genügt oder ob man diesen zwecks einer besseren Finanzierung der IV erhöhen müsste.» Die geforderte Anpassung bei der Berechnungsmethode dürfte gemäss dem BSV zwischen 200 und 300 Millionen Franken kosten. Damit bliebe allerdings die vom Parlament geäusserte Forderung, dass die Reform kostenneutral erfolgen soll, unerfüllt.

Geht es also nur ums Geld? Dieser konkreten Nachfrage des Infosperbers geht BSV-Sprecher Harald Sohns mit umständlichen Formulierungen aus dem Weg. Die der Rechnung zugrunde liegenden Lohntabellen – die Auslöser der Kritik – liessen sich «nicht einfach durch andere, wie auch immer ausgestaltete Tabellen ersetzen.» Sie seien «Teil des Gesamtregelwerks, das die Situation der Versicherten global abbilden muss.» Es müssten zuerst «nach einer gewissen Zeit» die Auswirkungen der anderen Neuregelungen der Reform analysiert werden, welche die Berechnung der IV-Renten betreffen.

Allerdings: Zeit hätte das BSV genug gehabt, schliesslich ist das Problem nicht neu. Das Bundesgericht ging bereits 2015 davon aus, dass eine präzisere Methode in Erarbeitung sei und urteilte «in einer Übergangszeit«. Dies kam einem Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung BSV gleich, das in dem Gerichtsfall als Partei die Methode verteidigte. Doch das Amt unterliess es offenbar über die folgenden Jahre, nicht nur nach Alternativen zu suchen, sondern die heutige Methode überhaupt auf ihre Präzision hin zu überprüfen.

Bund unterliess Studie, verdiente aber an den Daten

Dafür brauchte es die Initiative der Coop Rechtsschutz Versicherung, die eine Studie beim renommierten Büro BASS in Auftrag gab sowie ein Rechtsgutachten bei der Universität Zürich bestellte. Die BASS-Leute wiederum mussten sich die für ihre Analyse notwendigen Daten ausgerechnet beim Bund besorgen: Für die Datensätze «Soziale Sicherheit und Arbeitsmarkt (SESAM) der Jahre 2010 bis 2019 habe man dem Bundesamt für Statistik 3100 Franken gezahlt, heisst es bei Auftraggeberin Coop Rechtsschutz auf Anfrage.

Anders gesagt: Der Bund verdiente an Daten, die er eigentlich selber hätte auswerten sollen. So sieht es Anwalt Deecke vom Verein Versicherte Schweiz. «Die Rohdaten sind seit Jahren vorhanden. Der Bund kam aber offenbar über all die Jahre nie auf die Idee, diese auswerten zu lassen um die tatsächlichen Einkommen von Menschen mit Behinderung zu ermitteln.» Dass dann Private in die Bresche sprangen und dafür auch noch bezahlen mussten, sei unverständlich. Deecke glaubt ausserdem nicht, dass die Berechnung der IV-Renten nach aktuellem Verfahren juristisch haltbar ist. Denn die jetzige Praxis bemesse die Leistungen anhand von Einkommen, die eine gesundheitlich eingeschränkte Person realistischerweise nicht erzielen könne. Dies legt auch ein Rechtsgutachten nahe.

Bundesgericht könnte Dampf machen

Möglich ist, dass das Bundesgericht diese Sicht bald bestätigt – und damit dem Bundesrat und dem BSV auf die Sprünge hilft. In einem aktuellen Fall muss es sich nämlich ebenfalls mit der umstrittenen Berechnung der IV-Renten auseinandersetzen. Die Verhandlung hätte am 17. November statt finden sollen, wurde aber kurzfristig verschoben. Der Grund dürfte eine mögliche alternative Berechnungsmethode sein, welche eine Arbeitsgruppe rund um Gabriela Riemer-Kafka, emeritierte Professorin für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht, und Urban Schwegler von der Paraplegiker-Forschung Nottwil, kurz zuvor publiziert hatten. Das Bundesgericht ist verpflichtet, in seinen Urteilen wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen.

Nachdem Wissenschaftler im Auftrag einer privaten Versicherung die jetzige Methode zur Berechnung der IV-Renten als unfair entlarvt hatten, sind es nun erneut Forschende, die eine Alternative vorschlagen. Ihr Forschungsprojekt sei ohne Drittmittel ausgekommen, erklärt Initiantin Riemer-Kafka auf Anfrage. Damit springen auch sie für das Bundesamt für Sozialversicherungen in die Bresche. Dieses ist als Aufsichtsorgan für die IV und für ein korrektes Verfahren zuständig. Nachdem sich Bundesrat Alain Berset bereits als Folge des Gutachter-Skandals gezwungen sah, eine interne Untersuchung anzuordnen, dürfte auch die Untätigkeit seines Bundesamts bei der Berechnung der IV-Renten intern zu reden geben. Da der Bundesrat die neue Verordnung absegnete, ist der schwelende Skandal zu seiner eigenen Baustelle geworden.

So rechnet die IV die Renten klein

Heute erhält eine Invalidenrente, wer einen IV-Grad von mindestens 40 Prozent aufweist. Anspruch auf eine Eingliederungsmassnahme oder Umschulung hat, wer zu mindestens 20 Prozent erwerbsunfähig ist. Der IV-Grad berechnet sich, indem der frühere Lohn als Gesunder (Valideneinkommen) mit jenem Einkommen verglichen wird, das trotz gesundheitlicher Einschränkung möglich ist (Invalideneinkommen). Da Betroffene aber selten bereits wieder arbeiten, wenn der IV-Entscheid kommt, müssen beim Invalideneinkommen hypothetische Annahmen getroffen werden. Der Bund greift hier auf Medianlöhne aus der sogenannten Lohnstrukturerhebung (LSE) zurück. Dabei handelt es sich allerdings um Löhne von Gesunden. Ausserdem sind diese Statistiken eine Mischrechnung: Darin enthalten sind auch verhältnismässig gut bezahlte, körperlich anstrengende Jobs (wie etwa Strassenarbeiter), die IV-Bezüger nur in den seltensten Fällen weiter ausüben können. Eine Untersuchung kommt zum Schluss, dass diese Medianlöhne aus den LSE-Tabellen zwischen 10 bis 20 Prozent höher sind als die tatsächlichen Verdienste von Invaliden. Oder anders gesagt: Im Schnitt sind IV-Renten in der Schweiz um rund diesen Betrag zu tief. Ausnahme sind Spitzenverdiener, die geringere Einbussen haben. Wegen diesem Rechenfehler kommt es zu absurden Fällen, wo die IV Betroffenen zu verstehen gibt, sie könnten mit ihrer Behinderung mehr verdienen als zuvor.

Verbesserungen mit Sparübungen finanziert

«Verstärkte Unterstützung Betroffener», betitelte der Bund seine Medienmitteilung zur neuen IV-Verordnung, die am kommenden 1. Januar in Kraft tritt. Doch aus Sicht der Betroffenen sind grosse Teile der Reform eine Enttäuschung. Zwar sieht diese neben notwendigen Korrekturen im Gutachterwesen auch einige wichtige Verbesserungen für Jugendliche sowie psychisch Kranke vor. Es wird aber erneut auch bei den Leistungen gespart (mit der Einführung des stufenlosen Rentensystems sowie der Anpassung der IV-Taggelder). Damit passt die «Weiterentwicklung der IV» in die Reformen der IV der letzten 20 Jahre, die letztlich immer Kürzungsübungen waren.

Red. In einer ursprünglichen Version dieses Artikels hiess es, dass die unabhängige Untersuchung zum Schluss gekommen sei, dass IV-Renten im Schnitt zwischen 10 und 20 Prozent zu tief sind. Das ist nicht ganz korrekt. Die Studie weist nach, dass die Lohnunterschiede zwischen Gesunden und Kranken zwischen 10 und 20 Prozent betragen. Dies ist für die Berechnung des IV-Grads zentral. Die Renten werden allerdings nicht linear aufgrund des ermittelten IV-Grads berechnet (es wird gerundet). Deswegen können die Folgen des Rechenfehlers auch mehr oder weniger gravierend sein. Die Stelle wurde präzisiert.

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

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Die Zukunft der AHV und IV

Die Bundesverfassung schreibt vor, dass die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf angemessen decken müssen.

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