AHV AVS AI IV Swiss pension and invalidity sign

Vor allem Geringverdienende erhielten zu tiefe Invalidenrenten. © Depositphotos

IV berechnet Renten neu – aber immer noch falsch

Andres Eberhard /  Der Bundesrat korrigiert Rechenfehler bei den IV-Renten nach der Methode günstig statt korrekt. Das gefällt nicht einmal der SVP.

Im Jahr 2003 erfand die SVP den Begriff «Scheininvalide». Die Rechtspartei machte Bezüger von IV-Renten, die angeblich gesund sind, für die desaströse finanzielle Lage der Sozialversicherung verantwortlich. Die folgende, jahrelange Kampagne zeigte Wirkung: Mittels zahlreicher Reformen wurde die Anzahl IV-Rentnerinnen und -rentner innerhalb von zehn Jahren um 40’000 reduziert – bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum um fast eine Million Menschen.

Dass dies nicht alleine durch Wiedereingliederung möglich war, wie die IV stets versicherte, zeigte sich an zwei Skandalen, die in den letzten Jahren ans Licht kamen:

  1. Parteiische Ärzte haben viele kranke Menschen mutmasslich gesund geschrieben .
  2. Die IV-Renten wurden über Jahre systematisch zu tief berechnet. Dies, obwohl das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) von der unpräzisen Berechnung wusste. 

Nun hat der Bundesrat, nachdem er sich zunächst mit Händen und Füssen gewehrt hatte, das Problem anzugehen, den Rechenfehler korrigiert. Die veränderte Verordnung tritt am 1. Januar 2024 in Kraft.

Ende gut alles gut also? Berechnet die Invalidenversicherung die Höhe der IV-Renten nun also korrekt?

Forderung aller Parteien liessen Bundesrat kalt

Die vorweggenommene Antwort ist: Nein. Das Problem sind die sogenannten Vergleichslöhne, die für die Berechnung der IV-Renten zentral sind. Diese waren zu hoch angesetzt. Daraus resultierten vor allem für Geringverdienende tiefere IV-Renten. Denn für die Berechnung wird der frühere Lohn als Gesunder mit jenem (hypothetischen) Einkommen verglichen, das trotz gesundheitlicher Einschränkung möglich ist. Ist Letzteres zu hoch, sinkt der sogenannte IV-Grad und damit auch die Rente.

Der Bundesrat korrigiert den Rechenfehler nun mit einem Pauschalabzug von 10 Prozent auf diesen Vergleichslöhnen. Allerdings hatten in der Vernehmlassung 65 der 78 Teilnehmenden (darunter alle politischen Parteien, inklusive der SVP) einen höheren Abzug gefordert. Der Grund ist eine wissenschaftliche Arbeit, die den Schluss nahelegt, dass der Abzug 17 Prozent betragen sollte. 

Studienautor sieht es anders

Warum liess die überwältigende Zahl an Rückmeldungen den Bundesrat kalt? Im erläuternden Bericht zählt er einige Gründe auf, warum er aufgrund der Untersuchung zum Schluss kommt, dass 10 Prozent genügen.

Infosperber hat einen der Studienautoren kontaktiert. Ihn würden die Begründungen des Bundesrats nicht überzeugen, sagt Jürg Guggisberg vom «Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien» (BASS). Die 10 Prozent seien eine «Minimallösung, die man gerade noch so aus der Studie herauslesen kann». Aber: «Mit den Studienergebnissen besser begründbar und richtiger wäre gewesen, den Abzug auf 15 Prozent zu setzen.» Kontakt zu den Studienautoren hat das BSV übrigens nie aufgenommen.

Dass ein Abzug von 15 Prozent korrekter wäre, wusste die Verwaltung indes wohl schon. Recherchen von Infosperber zeigen, dass der Bundesrat ursprünglich einen Abzug von 15 Prozent plante. Dann schickte er die Vorlage den beiden Kommissionen in eine – eigentlich rein konsultative – Vernehmlassung. Danach korrigierte der Bundesrat den Abzug auf 10 Prozent. 

Was war passiert? Im erläuternden Bericht findet sich eine nebensächlich vorgetragene Bemerkung, die vermuten lässt, dass es die Kommission des Ständerates war, die den Bundesrat zum Umdenken bewegte. «Damit wird auch der Empfehlung der SGK-S gefolgt, die angesichts der strukturellen Verschuldung der IV und in Anbetracht des bereits existierenden Teilzeitabzuges von 10 Prozent einen Pauschalabzug von 10 Prozent als angemessen erachtet», steht da.

«So darf es bei der IV nicht weitergehen» – sagt ein SVP-Ständerat

Auf Deutsch heisst das: Weil das Geld bei der IV noch immer knapp ist, werden lieber etwas tiefere Renten ausgezahlt. Weit deutlicher und ohne Umschweife gestand kürzlich der oberste IV-Chef im SRF, dass das Geld beim Erarbeiten der Verordnung eine Rolle spielte. Das verstösst gegen Prinzipien eines Rechtsstaates. Denn wer in eine Versicherung einzahlt, hat Rechte, die nicht von Politikern in Hinterzimmern verhandelbar sind. Auf dieses Problem machten auch schon Rechtsprofessoren aufmerksam.

Über 20 Jahre sind seit der «Scheininvaliden»-Kampagne der SVP vergangen. Eine solche braucht es heute nicht mehr, um die IV auf Sparflamme zu halten. Die Doktrin hat sich beim Bund längst verselbständigt. Nun kann sich die SVP punktuell gar als Anwalt der Schwächsten aufspielen. Denkwürdig war, wie SVP-Ständerat Hannes Germann voriges Jahr den Bundesrat aufforderte, die IV-Renten fair zu berechnen, indem er sagte: «So darf das bei der IV – ausgerechnet auf dem Buckel der am schlechtesten gestellten Menschen – nicht weitergehen.» 


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Senioren Paar.monkeybusiness.Depositphotos

Die Zukunft der AHV und IV

Die Bundesverfassung schreibt vor, dass die AHV- und IV-Renten den Existenzbedarf angemessen decken müssen.

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Eine Meinung zu

  • am 18.11.2023 um 18:01 Uhr
    Permalink

    So sieht beamteter Zynismus aus. Auf Deutsch: Menschenverachtung. Ein ganz ähnliches Beispiel liesse sich – ebenfalls durch eine Kampagne, diesmal von Blick aufgegleist – aus dem Bereich Ergänzungsleistungen EL anfügen. Nach einer der übelstens Neid-Kampagnen gegen «Thailand-Rentner», die sich dank EL angeblich ein Luxus-Leben leisteten, entblödete sich eine gewisse Frau G. aus der Inneren Schweiz nicht, die nötigen Hebel in Bewegung zu setzen, um inskünftig EL im Ausland zu verhindern. Die neoliberale freisinnige Frau G. – heute Ständerätin – hatte Erfolg … und schoss dem Land ins Knie. Denn jene Leute, die sich dank der EL im Ausland befanden und wegen der ziemlich bescheidenen EL dort für ihre Krankheits- oder Spitalkosten sorgten, bleiben jetzt im heimischen Deppen-Paradies und lassen sich Spital und Arzt für ein Mehrfaches vom Steuerzahler berappen. Irgendwann sollten auch gewisse Parlamentsmitglieder von Amts wegen der IV unterstellt werden.

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