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Daniel Goldstein © Grietje Mesman

Sprachlupe: Chauvinismus feiert Urständ, gar nicht fröhlich

Daniel Goldstein /  «Chauvinismus» hat (zumindest) zwei Bedeutungen: nationalistisch und sexistisch. Den Zusammenhang zeigt ein Buch am Beispiel Putin.

«Was ist Chauvinismus? Chauvinismus ist ein böses Wort.» So fängt ein Buch an, von dem gleich noch die Rede sein wird. Bös – und bös gemeint – war das Wort schon, als es im 19. Jahrhundert im Französischen aufkam und bald in andere Sprachen überging. Damals hatte es die Bedeutung, die auch heute noch als erste im Online-Duden steht: «aggressiv übersteigerter Nationalismus [militaristischer Prägung] verbunden mit Nichtachtung anderer Nationalitäten». Aber in den letzten Jahrzehnten ist im allgemeinen Sprachgebrauch die zweite Wörterbuch-Erklärung weit in den Vordergrund gerückt: «Grundhaltung von Männern, nach der Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts gering geachtet werden».

Der Namenspatron des Worts ist ein historisch nicht belegter napoleonischer Soldat namens Nicolas Chauvin, der seine Karriere vor allem in Theaterstücken und Karikaturen machte, als hurrapatriotische Kriegsgurgel. Der Chauvinismus als Geisteshaltung schaffte es leider in die Weltpolitik und war eine Triebkraft vieler Kriege, auch der beiden Weltkriege. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwand er zwar nicht, schien aber seine Durchschlagskraft eingebüsst zu haben. Als Wort war «Chauvinismus» quasi unterbeschäftigt, bis es als feministischer Kampfbegriff aus den USA seine zweite Karriere antrat: Es galt nun dem «male chauvinist pig», dem schweinischen Macho, und überwand wiederum die Sprachgrenzen.

Immer da, in immer neuem Gesicht

Wirklich friedlich waren auch die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht, wenn man die ganze Welt betrachtet. Kriege tobten um die Befreiung von Kolonien und danach zwischen unabhängig gewordenen Staaten. Eine Triebkraft war dabei ebenfalls der Chauvinismus – vor allem der im ursprünglichen Sinn verstandene. In Europa trat er aber erst in den Balkankriegen der Neunzigerjahre wieder auf den kriegerischen Plan. Und jetzt manifestiert er sich im Krieg, mit dem Russlands Präsident Putin die Ukraine als «integralen Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums» beansprucht (Rede vom 21. 2. 2022).

So kommen wir zum neuen Buch der deutschen Politikwissenschafterin Sabine Fischer: «Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten» (Econ 2023). In der umfangreichen Leseprobe des Verlags ist die ganze Einführung zum Begriff «Chauvinismus» enthalten. Die Autorin zeigt darin auch den Zusammenhang zwischen der nationalistischen und der sexistischen Lesart – von Anfang an: Schon Nicolas Chauvin wurde auch als übler Frauenverächter mit «patriarchalem Dominanzverhalten» karikiert. Der Begriff erfuhr weitere Ausdehnungen: Lenin schalt Sozialreformer als «Sozialchauvinisten», die sich mit der Absage an die Revolution zu Handlangern der Nationalkapitalisten machten.

Hannah Arendts Durchblick

Es waren dann, immer nach Fischer, Kommunisten in den USA, die von «weissem, rassistischem Chauvinismus» zu reden begannen, und Kommunistinnen in den 1930er-Jahren auch von sexistischem. Um nachzuzeichnen, wie Rassismus zudem den Imperialismus mitprägte und sich mit dem Nationalismus verband, stützt sich die Autorin auf Hannah Arendt. Die Philosophin habe den Zusammenhang «meisterinnenhaft» aufgezeigt und «den pangermanischen und den panslawistischen Chauvinismus als besonders gefährlich und aggressiv» eingestuft.

Auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen bei der Forschungsarbeit in Russland erachtet Fischer den Zusammenhang als zentral: «Der Begriff des Chauvinismus erlaubt es mir, die drei zentralen Elemente der russischen Politik zusammenzuführen: den aggressiven Nationalismus, den nicht minder feindseligen Sexismus und die Autokratie. Mit ihm kann ich zeigen, wie sehr sie miteinander verflochten sind und sich gegenseitig bedingen. Der Begriff kann so Wesentliches zur Erklärung des Krieges beitragen, den das Putin-Regime gegen die Ukraine führt, aber auch gegen liberale Demokratien und gegen die liberalen Segmente der eigenen Gesellschaft.»

Weiterführende Informationen


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Infosperber-Dossier:

Portrait_Daniel_Goldstein_2016

Sprachlupe: Alle Beiträge

Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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8 Meinungen

  • am 20.04.2024 um 12:29 Uhr
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    Man kann auch einen Zusammenhang herstellen zwischen der Filmindustrie der 70er-Jahre über die Werbung für PS-starke Autos und den Kalendern mit abgebildeten Modells bis hin zu Bildern die sich Soldaten in ihren Spinten aufhingen bzw. Sex Heften, die in den Wachstuben rumlagen, um sich an Wochenenddiensten Lust zu machen. Das ist dann ab den 90-er Jahren mühsam überdeckt worden, lebt aber weiter und grassiert im (dark) Internet. Wir sind aber auch heute noch weit davon entfernt, dass Trieb und Begierde in Höheres verwandelt worden wäre bzw. zu verwandeln sei. Die Ablenkungstechniken sind nur hochgeschraubt worden.

    Sicher ist nur eins: Putin und seine Schergen haben tatsächlich alles dafür getan, dass sie wunderbar in die Chauvi-Schublade passen. Das Zusammentreffen von Chauvi-Figuren und deren Kriege erklärt aber nicht ohne weiteres das Ausbrechen vermeidbarer imperialer Kriege unserer Zeit.

    Chauvinismus eignet sich vielleicht auch einfach nur als Treibsatz für zu führende Kriege.

  • am 20.04.2024 um 13:57 Uhr
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    Der Globalismus kommt nicht minder als «feindseliger Sexismus und Autokratie» daher. Ist aber viel gefährlicher, weil weltumspannend und potenziell ein Gewaltmonopol erstellen kann.

  • am 21.04.2024 um 02:21 Uhr
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    Klingt wie die «wissenschaftliche» Erklärung, daß der nationalistische sexistische Diktator Putin aus individueller Willkür den Ukraine-Krieg vom Zaun gebrochen hat. Die Gier der westlichen Konzerne nach sibirischen Rohstoffen, die Unersättlichkeit der NATO nach Ausdehnung und Unterjochung, der antislawische Rassismus des Westens seit über 100 Jahren, die Vertragsbrüche westlicher Staaten & Politiker, die Instrumentalisierung des Geschlechts je nach Belieben durch Wirtschaft, Politik und Medien (anstatt echter Emanzipation aller Geschlechter), die Selbstdeligitimation der westlichen Werte durch doppelte Maßstäbe, Korruption, Fassadendemokratie und Grundrechtsaushöhlung – also kurz gesagt: der neoliberale Kapitalismus angelsächsischer Prägung – haben damit überhaupt nichts zu tun. Da haben wir ja noch mal richtig Glück gehabt und der Tag ist gerettet. Was für eine tolle objektive unabhängige wissenschaftliche Erkenntnis.

  • am 21.04.2024 um 13:38 Uhr
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    „Chauvinismus im ursprünglichen Sinn ist ein häufig aggressiver Nationalismus, bei dem sich Angehörige einer Nation gegenüber Menschen anderer Nationen überlegen fühlen und sie abwerten.“ (Wikipedia) Chauvinisten sind demnach auch die Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Israel. Jedenfalls ist es da auch sehr ausgeprägt und auf der Weltbühne weitgehend durchgesetzt. Aber irgendwie ist es einfacher, auf Russland zu zeigen? Verschiedene Glaubensbekenntnisse.

    • am 22.04.2024 um 11:32 Uhr
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      Die Aussage des Wiki Artikels ist «Angehörige einer Nation» und nicht die ganze Nation. In diesem Sinne gibt es Chauvinist:Innen in jeder Nationalität.

    • am 22.04.2024 um 16:55 Uhr
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      Es ist inzwischen Gewohnheit mit zweierlei Maß zu messen, es fällt wegen der Häufung gar nicht mehr auf. Wer sich auf der Seite der «Guten» wähnt, muss den «Bösen» natürlich herabsetzen. Auch wenn in den Putin-Äußerungen, wenn man sie wirklich gehört oder gelesen haben sollte, nichts Chauvinistisches zu finden ist. Da passt eher der Begriff «patriotisch».

  • am 22.04.2024 um 22:12 Uhr
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    Das muss jetzt diese links-grün-woke Deutungshoheit, diese „Kulturrevolution“, diese Cancelkultur (alles Zitate aus der NZZ der letzten drei Wochen) sein, die Herrn Goldstein entgegeschlägt.

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