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Bleibt zu Hause! oder wenn Gehorsam Leben rettet

Jürgmeier /  Feiert der autoritäre Charakter Auferstehung? Für eine gute Sache. Wenn wir gegen den Strom schwimmen – sind wir dann gerettet?

20. März 2020

Livecams schwenken über sonnenbeschienene Hänge und Couloirs oberhalb von Zermatt. Die jetzt ganz den Gämsen und Schneehühnern gehören. Die Kabinen des Matterhorn Express’ sind garagiert. Über den Gletscherspalten und Felsschründen zwischen dem Trockenen Steg und dem Kleinen Matterhorn schweben keine Gondeln mehr. Nirgends ein Pistenfahrzeug. Nicht eine Skifahrerin tritt in die Bindung. Keine Spuren im Neuschnee. Ich verspüre die kühne Lust, in den nächsten Zug zu steigen – S-Bahnen und Intercityzüge sind jetzt fast leer –, um unter dem tiefblauen Walliser Himmel zu tun, was allen verboten. Kurven durchs kalte Pulver ziehen. Schatten auf glitzerndes Weiss werfen. Aber ich bleibe ängstlichvorsichtigrationalgelassengehorsam. «Stay the fuck at home!» Dröhnt das Echo behördlicher Empfehlungen aus den sozialen Medien. In der Fällander Migros-Filiale sind die Aufzüge zur Tiefgarage gesperrt. Automobilist*innen kommen nur noch zu Fuss zu ihren Blechkarossen. Eine der Lifttüren steht offen. Ein Mann kriecht unter rotweissen Plastikbändern durch. Hält diese ritterlich hoch. Damit die Frau mit dem Kinderwagen aufrecht zum Fahrstuhl rollen kann. Ich rufe dem Rebellen von der Desinfektionsstation aus zu «Der Lift fährt nicht». Er ignoriert mich. Drückt den Knopf. Die Türen schliessen sich. Und die beiden verschwinden im Untergrund.

Das Erschrecken über die plötzliche Rückkehr des braven Kindes. Das ich einmal, das ich vor vielen Jahren war. Das auch zum Denunzianten werden konnte. Werde ich, jetzt, zum Blockwart? Aus Angst, schuld zu sein, wenn Menschen sterben? Wenn ich mich nicht einreihte ins kollektive Abwehrdispositiv? Jetzt, da die Welt so leicht zu retten ist. Mit HändewaschenAbstandMasken. Was passiert mit einer Gesellschaft, wenn Gehorsam Leben schützt? Wenn sich die Reihen schliessen und der Ruf nach Führung in unsicheren Zeiten lauter wird? Gewöhnen wir uns (wieder) daran, Marschbefehle zu befolgen? Wohin der Marsch auch geht. Feiert der autoritäre Charakter Auferstehung? Im Namen einer guten Sache. Die beklemmende Erinnerung an das Gedicht «immer schön in der reihe gehen». Das ich in jungen Jahren – aus Protest klein – geschrieben. Das im September 1970 in der Jugendzeitschrift team erstmals veröffentlicht worden ist. Kurz bevor ich neunzehn wurde.

immer schön in der reihe gehen

seit ich ihn kenne, achtet er darauf:
immer schön in der reihe gehen.
im kindergarten:
immer schön in der reihe gehen.
bei den pfadfindern:
immer schön in der reihe gehen.
im militär:
immer schön in der reihe gehen.
bei der abstimmung:
immer schön in der reihe gehen.
immer und überall hat er sich danach gerichtet:
immer schön in der reihe gehen.
doch weil er nie nach dem wohin,
nie nach dem ziel der reihe gefragt hat,
sondern: immer schön in der reihe gehen;
steht er heute vor einem abgrund.
nur immer schön in der reihe gehen.

Wenn wir gegen den Strom schwimmen – sind wir dann immer gerettet und schwimmen ins Glück? In welche Richtung auch immer? Oder marschieren wir plötzlich, Seit’ an Seit’, mit ganz Q1ueren Fröntler*innen? Und würden uns manchmal besser gelassen mit dem grossen Strom ins Reich der Freiheit treiben lassen? Falls Sie, mit dem Segen von Corona, wieder Auto fahren und Ihnen von Zürich nach Basel alle auf Ihrer Spur entgegenkommen – denken Sie dann «Diese Trottel glauben, wir hätten in der Schweiz neuerdings Linksverkehr»? Wenn in einer Gruppe alle ausser Ihnen bei Zwei plus Zwei auf Sieben bestehen – zweifeln Sie dann an Ihren mathematischen Kenntnissen? Und wem glauben Sie, dass der Schnee von unten nach oben fällt?

Der nicht nur bei Politiker*innen beliebte Spruch «Ich vertraue nur der Statistik, die ich selber gefälscht habe» meint im Klartext: Ich glaube nur, was ich immer schon wusste oder geglaubt habe. Unabhängig von irgendwelchen (neuen) Fakten oder Erkenntnissen. Das ist auch eine Absage an Lernprozesse, denn Lernen bedeutet, sich vorstellen können, dass es auch ganz anders sein könnte. Verlassen Sie sich, generell, aufs Gewohnte? Oder stürzen Sie sich begeistert aufs Neue, ins Ungewisse? Was braucht es, damit Sie zu zweifeln, zu denken beginnen, es könnte auch anders sein, als Sie gedacht? Wann folgen Sie, neugierig, fremden Gedankengängen? Vertrauen Sie eher einem breiten wissenschaftlichen oder politischen Konsens? Oder werden Sie bei grosser Einigkeit der vielen misstrauisch? Haben Sie’s mit Minderheiten? Mit allen? Mit welcher? Mit den Wenigen, die Macht haben? Den Grüppchen, die dagegen anrennen? Und worauf hören Sie eher – auf lautes Gebrüll oder zweifelndes Gemurmel? Wenn Sie nur auf das vertrauen, was Sie selber wissen – was ist dann mit dem Rest der Welt? Alles Fake?



1 «QAnon (/kjuːəˈnɒn/) oder kurz Q ist das Pseudonym einer mutmasslich US-amerikanischen Person oder Personengruppe, die auf Imageboards, auf die Diskussion von Bildern ausgerichteten Internetforen, Verschwörungstheorien mit teilweise rechtsextremem Hintergrund verbreitet. Sie gibt dabei vor, Zugang zu geheimen Informationen über US-Präsident Donald J. Trump, seine Präsidentschaft, seinen Kampf gegen einen vorgeblichen ‹Deep State› sowie seine Widersacher zu haben. QAnon ist mittlerweile auch zu einer Bezeichnung für die verbreitetsten verschwörungstheoretischen Ansichten selbst geworden.

Q behauptet ohne Belege unter anderem, zahlreiche Hollywoodschauspieler, Politiker und hochrangige Beamte seien an einem internationalen Kinderhändlerring beteiligt, der Kinder entführe, zur Prostitution zwinge und sexuell ausbeute. Die Anschuldigungen, die hauptsächlich von Trump-Unterstützern unter Namen wie ‹The Storm› (Der Sturm) oder ‹The Great Awakening› (Die große Erweckung) weiterverbreitet werden, werden weithin als ‹unfundiert›, ‹wirr› und ‹unbelegt› eingeschätzt…»
Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/QAnon


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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7 Meinungen

  • am 13.10.2020 um 17:18 Uhr
    Permalink

    Eigentlich ist es einfach. Das Virus ist nicht links oder rechts. Es macht viele krank, andere merken die Infektion kaum. Aber es gibt Folgeerkrankungen die dauern. Man kann es nicht vorher sagen. Und um eben deshalb Ansteckungen zu verhindern gehen wir ein Jahr zwei in dieser Angelegenheit in der Reihe. Abstand, Hygiene, Masken und Lüften. Und die Behörden verordnen es. Das ist keine Diktatur. Diktatur geht anders. Es ist pure Vernunft.

  • am 14.10.2020 um 05:36 Uhr
    Permalink

    @Beglinger
    Das Virus tut nur das, was vor ihm schon etliche andere Viren bereits stärkerEffizienterGefährlicher getan haben und neben C. weiterhin tun werden.
    Was nicht korrekt ist, ist dass die Menscheit so plötzlich hü und hott zum Spuren gebracht wird, um etwas schon immer in etlichen Formen dagewesenesUnvermeidliches mit desaströsen Massnahmen unterjochen zu wollen.
    Schlussendlich wird der Mensch am Abgrund stehen und sich fragen, weshalb denn nun er selbst, anstatt das Virus plötzlich unterjocht ist.
    Das ist keine Diktatur, das ist newWorldOrder.
    Die pure Unvernunft!

  • am 14.10.2020 um 07:36 Uhr
    Permalink

    @Beglinger
    Ich pflichte Ihnen voll bis auf zwei Punkte:
    – Diese Regeln sind nicht Corona Spezifisch. Abstand, Hygiene, Lüften, alles Dinge an die wir uns im Grunde völlig unabhängig von Corona halten sollten, haben sie doch mit Anstand und Respekt zu tun. Dann braucht es auch keine Masken oder sonstige Unterdrückende und Einschränkende Massnahmen
    – Die aktuelle Entwicklung in so vielen Ländern der Welt kann nur mit Sorge betrachtet werden, da die schleichende Reduktion und Einschränkung von Rechten die wir uns über Jahrhunderte erarbeitet haben, derart einfach ausgehobelt werden können

    Anstand und Respekt vor seinen Mitmenschen, Solidarität und zwar nicht nur wenn wir beobachtet werden sind die Dinge die unsere Gesellschaft braucht. Unabhängig von Viren. Die sogenannt „soziale“ Distanzierung vermittelt unseren Kindern derzeit aber primär eines: andere Menschen sind schlecht und halte dich von ihnen fern. Dies ist sehr kontraproduktiv und ich blicke unter diesem Gesichtspunkt besorgt in die Zukunft, da wir unseren Kindern genau das Gegenteil von dem vermitteln, was wir an Werten einmal hochgehalten haben: Anstand, Respekt, Mitgefühl – Nächstenliebe.

  • am 14.10.2020 um 10:05 Uhr
    Permalink

    @Ruedi Beglinger: 1 wahrlich simple Sicht der Verhältnisse. Leider blenden sie völlig aus, dass die momentane Situation dabei für viele Menschen verheerende Auswirkungen hat. Gesamt eben vielleicht schlimmere, als wenn dieses ganze Theater NICHT durchgeführt würde. Es gibt ja viele qualifizierte Wissenschaftler, die das so sehen. Aber leider werden sie nicht gehört; wie mir scheint, aus politischen Gründen.

  • am 15.10.2020 um 09:18 Uhr
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    Eine Pandemie ist eine Pandemie . Es gibr das neue ueberwachugs-antiterror Gesetz
    das mehr oder weniger durchgewunken wurde . Im vergleich dazu sind die Massnamen
    gegen die Pandemie inkonsequent , lasch und wirtschaftsfreundlich , opportunistisch :
    » demokratisch » . Mit verheerenden Folgen wie explodierenden Fallzahlen belegen .
    So pseudokritische Artikel sind weder hilfreich noch informativ .

  • am 15.10.2020 um 09:36 Uhr
    Permalink

    Bleibt zu Hause oder wenn Gehorsam Leben rettet. Ich hätte ja folgenden Titel gewählt: Bleibt zu Hause, als ob Gehorsam Leben retten würde. Wie schütze ich eine Person im Altersheim, wenn ich eine Maske im Laden trage? Muss ich diese Person überhaupt schützen? Wäre das nicht die Aufgabe des Pflegepersonals? Warum meint die Regierung (welche es in einer Demokratie gar nicht geben dürfte) sie könne meine Gesundheit gefährden, um dafür eine Andere zu schützen? Dank der blueeyed Methode lassen sich so Eure Wahrnehmungen beeinflussen. Diese Methode verhindert, dass Ihr dieZusammenhänge begreift, und so selbst nicht mehr richtig denkt, Ihr verwendet nicht eure Gedanken, Ihr benutzt Gedanken anderer und meint, ihr denkt ,ihr wisst Bescheid, aber in Wirklichkeit glaubt Ihr nur zu wissen. Die Doku «der Nazi in uns» (Dauer 3 Stunden) erklärt, wie Menschen ihre Überzeugung wechseln, und macht verständlich warum die Deutschen im zweiten Weltkrieg Nazis wider Willen wurden.
    Der wichtigste Punkt ist Tatsachen auszublenden. So merkt z.B. keiner von Euch, dass der Vortritt am Kreisverkehr zweimal geregelt wird, einmal mit dem Schild «Kreisvortritt», bei welchem der Name durch Kreisverkehrsplatz ersetzt wurde, weil ich die Astra drauf aufmerksam gemacht habe, dass mit dem Schild «kein Vortritt» zwei Vortrittsschilder den Vortritt, um genau zu sein die Vorfahrt regeln. Aber die Astra hat lieber das richtige Schild umbenannt, statt das falsche Schild zu entfernen.

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