kontertext: Beim Absingen der Hymne

Das abendländische Glauben und Meinen hat schon manchen Versuch hervorgebracht, die Menschheit in charakterliche Typen aufzuteilen. Der vorliegende Versuch setzt auf dem Fussballplatz an. Vor Länderspielen pflegen die gegnerischen Teams im Glied anzutreten, um ihre Hymnen abzusingen. Die TV-Kamera fährt dann langsam das Spalier ab, um die Recken aus der Nähe zu zeigen und noch die feinste Regung auf ihren Gesichtern einzufangen, sei sie patriotischer, privater oder sportlicher Natur.
Unter dieser peniblen Observation trennt sich die Spreu vom Weizen, bevor der erste Ball getreten ist: Singen die einen markerschütternd falsch mit, so bewegen die andern, «die Tonlosen», in patriotischer Pantomime die Lippen, ohne einen Laut von sich zu geben. Den dritten Typus könnte man «Schweiger» nennen: Unbewegt und mit schroffen Mienen starren sie in die Linse, als wollten sie sagen: «Euer Firlefanz geht uns nichts an. Dies ist kein Bolzplatz für nationale Rituale, sondern ein Spiel. Das Leben ist ein Kampf, der Mensch eine Ich-AG, selbst dann, wenn er Mannschaftssport betreibt. Unsere Triebfeder ist der Ehrgeiz; wir wollen keine Landesfarben vertreten, sondern Tore schiessen.»
Scheinhaftes Mittun
Wenn die Kamera inquisitorisch lange auf den Gesichtern verharrt, wobei die Lightshow im Stadion Bedeutung suggeriert, sind bei den Schweigern charakteristische Verhärtungen der Gesichtsmuskulatur zu beobachten. Die Tonlosen dagegen zeichnet eine Weichheit des Mienenspiels aus, die von den Wonnen der Nachahmung herrühren mag, mit der sie ihre Lippen zum Text bewegen, als seien sie Darsteller in einem noch zu synchronisierenden Film. Indem sie ihre Vertrautheit mit der Hymne bekunden, leisten sie einen symbolischen Tribut: «Ja, wir wissen, um welche hohen Güter hier gespielt wird, auch wenn es nur ein Ball ist, der hin- und herrollt zwischen den Platzhälften.»
Man kann im scheinhaften Mittun ihrer Lippen auch einen Selbstschutz sehen, denn ohne diese Scharade wären sie ebenso wehrlos der Beobachtung ausgeliefert, wie es die Schweiger sind – es sei denn, sie fänden sich in der glücklichen Lage der spanischen Elf: Weil deren Marcha Real seit über 250 Jahren ohne Text auskommen muss, sind sich hier Sänger, Tonlose und Schweiger gleich.
Die Singenden dagegen finden Zuflucht im Gesang: Während die Linse ihnen zu Leibe rückt, so als sei zu ermitteln, wessen Herz für die gute Sache schlägt, sind sie beschäftigt. Und Beschäftigtsein imprägniert. Sie tun mit, sie sind Teil eines Verbands, der über das Fussballerische hinausgeht. Eine unsichtbare Fessel verbindet sie mit allen, die jetzt singen. Und auf dieses Bild ist die Kamera aus.
Den Schweigern, demgegenüber, bleibt nicht einmal das So-Tun-als-ob, um der Ausforschung zu entgehen. Solange das Kameraauge sie fixiert, sind sie nur dieses Gesicht, sein Blick, seine Leere, sein Warten. Um die Misslichkeit ihrer Lage zu ermessen, wäre zu bedenken: Es sind Sportler, nicht Mimen – während ihr Innenleben vor einem Millionenpublikum ausgeleuchtet wird, müssen sie auf ihr primäres Requisit verzichten. Darsteller werden sie erst wieder sein, wenn der Ball freigegeben ist.
Inbrunst und Kakophonie
Auch die Lage der Tonlosen ist prekär. Sie stehen dazwischen. Ist die Pantomime ihrer Lippen ein Friedensangebot an die Patrioten? Oder nur das öffentliche Eingeständnis sängerischer Limiten? – Anders als die Singenden sind sie offenbar willens und fähig, ihren Gesang als falsch zu empfinden, was sich als Patriotismus zweiter Ordnung lesen lässt: Sie möchten nicht die Hymne verhunzen, die im Stadion und ausserhalb so vielen heilig ist.
Während die Singenden lautstark aufgehen in ihrem Tun, egal wie übel sie sich an den Musen vergehen, drückt die Vortäuschung der Tonlosen ein Dilemma aus: Sie möchten den Forderungen des Rituals Genüge tun, ohne die musikalische Welt vor den Kopf zu stossen. Ihr Respekt vor der Musik ist ebenso gross wie ihr Wunsch, nationale Zugehörigkeit zu bekunden. Nun dient das vorgebliche Singen als Kompromiss. Ich höre sie sagen: «Wir wissen, wie unschön es ist, brüskiert zu werden. Wir möchten es möglichst vielen recht machen, denn wir haben eine Vorbildfunktion. Schliesslich bezahlt das zahlende Publikum unseren Lohn.»
Ruhm und Ehre
Aber wer sagt, dass nicht auch die Singenden wissen, wie erbärmlich ihre Darbietung ist? Vielleicht handeln sie nach der Devise: Lieber falsch gejault als nicht gesungen, um dem Publikum zu bedeuten: «Hier geht es um mehr als darum, einen Ball ins Netz zu befördern. Hier geht es um Ruhm, Korpsgeist und Berufsstolz. Unser Spiel und euer Mitfiebern stehen für ein grösseres Ganzes. Was soll uns da eine falsche Note kümmern?»
Auch wenn diese Worte den Singenden hier nur in den Mund gelegt sind, erinnern sie mich an die Gottesdienste meiner Kindheit. Ich habe damals das Gesangsbuch lediglich aufgeschlagen, um den Schein zu wahren, aber nie einen Ton von mir gegeben. An dem, was man nur zur Not «Chorkunst» hätte nennen können, wollte ich keinesfalls aktiv beteiligt sein. Doch die Inbrunst der Gläubigen kannte keine Gnade, und die himmelhoch jauchzende Kläglichkeit, mit der sie die Psalmen zur Befriedung der Welt verunstaltet haben, kommt mir heute wie Tapferkeit vor dem Antichrist vor.
Ballkunst und Agnostik
Den Schweigern können Intonationsfinessen egal sein. Nicht aus Takt oder Eitelkeit bleiben sie stumm, sondern aus Trotz. So begegnen sie dem weihevollen Vorspiel ohne sichtbare Anteilnahme. Lieber stellen sie sich schutzlos den Zudringlichkeiten des Massenmediums. Ist es möglich, dass sie ihre simulierenden Kollegen verachten? Denkbar zumindest, dass unter ihnen passable Tenöre sind; doch weder im Gesang noch in dessen Imitation sehen sie einen Sinn. Als Agnostiker der Stadien bestehen sie darauf, Helden eines zweckfreien Rituals zu sein. Ihre Ballkunst ist Opium fürs Volk. Nicht um Bündnisschwüre oder Offenbarungseide zu leisten, stehen sie auf dem heiligen Rasen, sondern um gegen das Leder zu treten. Der Rest ist Schweigen – es sei denn, man protestiere lautstark gegen die Entscheide des Referees, beschimpfe Gegner oder hadere wortreich mit sich selbst und der Bank.
Ich stelle fest, dass die Schweiger mich von den drei Gruppen am meisten faszinieren. Ihre Verweigerung eröffnet den grössten Interpretationsspielraum – sie ruft den Deuter in mir auf den Plan. Denn hinter ihrem wehrhaften Schweigen tun sich vielgestaltige Räume auf. Darin sind ebenso viele Motive versteckt, als Schweiger auf dem Rasen stehen: Trotz oder Scham, politischer Protest, Zweifel am eigenen Organ, vielleicht aber auch nur die mentale Vorbereitung, jener «Tunnel der Konzentration», von dem Sportlerinnen und Sportler manchmal berichten.
Nur eines ist sicher: Selber wollen sie erst nach dem Anpfiff das Schweigen brechen. Dann soll der Ball an ihrer Stelle sprechen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.
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